Kurzgutachten zu Kreuzsymbolen in Schulen (Schwerpunkt Bayern)

1. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und bayerischer Gesetzgeber

Am 16. 5. 1995 hat das BVerfG anlässlich eines bayerischen Falles mit Bindungswirkung nicht nur gegenüber Bayern, sondern bundesweit, entschieden, dass staatlich angebrachte Kreuze in öffentlichen Schulen gegen das Grundgesetz (GG) verstoßen (Neutralitätsgebot, Grundrecht). Aber immer noch, über 20 Jahre danach, gibt es in Bayern Schulleiter und Lehrer, die der Überzeugung sind, die Kreuze nicht oder nur unter ganz besonderen Ausnahmeumständen abnehmen zu müssen, wenn Andersdenkende das verlangen. Der rein formale, oberflächliche Grund dafür ist, dass Bayern in der fehlerhaften Annahme eines vom BVerfG gelassenen Ermessensspielraums umgehend gesetzlich genau das, was verboten war, gesetzlich wieder angeordnet hat. In allen Volksschulen gilt seit dem 1.1.1996: "Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht." (Heute Art. 7 Abs. 4 S. 1 BayEUG betr. Grundschulen bzw. Art. 7 a Abs. 6 betr. Mittelschulen). Für andere Schularten gibt es keine entsprechende (GG-widrige) Regelung.

2. Bayerische Widerspruchsregelung und Bundesverwaltungsgericht (BVerwG)

Ein wichtiger Unterschied dieser bayerischen Neuregelung im Vergleich zu früher besteht darin, dass Andersdenkenden etwas entgegengekommen wird durch eine komplizierte und widersprüchliche Widerspruchsregelung (Art. 7 Abs. 4 S. 3 BayEUG), wonach die Erziehungsberechtigten dem Kreuz aus "ernsthaften und einsehbaren Gründen des Glaubens oder der Weltanschauung" widersprechen können. Wenn sie sich dann [so sinngemäß] trotz aller Versuche der Schulleitung partout nicht von ihrem Begehren abbringen lassen, soll so entschieden werden, dass alle gegensätzlichen Interessen gerecht ausgeglichen werden, aber der Mehrheitswille soll, "soweit möglich", berücksichtigt werden. Mit der Rechtmäßigkeit dieser Gesetzesregelung setzte sich das BVerwG mit Urteil vom 21.4.1999[1] auseinander. Es verpflichtete den Freistaat Bayern, die Entfernung der Kreuze in den Räumen der Schule anzuordnen, in denen die Tochter der nichtreligiösen Kläger regelmäßig unterrichtet wird.

Nach den amtlichen Leitsätzen des BVerwG ist die Widerspruchsregelung "bundesverfassungskonform dahin auszulegen, dass sich die Widersprechenden dann, wenn sie sich auf derartige ernsthafte und einsehbare Gründe stützen, eine Einigung nicht zustande kommt und andere zumutbare, nicht diskriminierende Ausweichmöglichkeiten nicht bestehen, letztlich durchsetzen müssen". Das BVerwG weiter: "Für die Annahme ernsthafter und einsehbarer Gründe des Glaubens oder der Weltanschauung reicht es aus, wenn aus den Darlegungen der Eltern deutlich wird, dass sie Atheisten sind und/oder aus antireligiösen Auffassungen heraus es als unzumutbar ansehen, dass ihr Kind in der Erziehung religiösen Einflüssen ausgesetzt werde …" Das BVerwG legt ferner dar, dass der Schulleiter "während des gesamten Verfahrens die gebotene Diskretion zu wahren" hat.

Das BVerwG hatte ausweislich der Gründe große Mühe, die Vereinbarkeit der gesamten Kreuz-Regelung mit dem GG überhaupt noch halten zu können; sonst hätte es das Verfahren dem BVerfG vorlegen müssen. Immerhin hat das BVerwG den Text der Widerspruchsregelung aus Verfassungsgründen weitgehend ignoriert und so "verfassungskonform" angewendet (Art. 31 GG: "Bundesrecht bricht Landesrecht.").

3. Praktisches Ergebnis

Zusammengefasst hat das BVerwG (trotz seiner juristisch fragwürdigen Bemühung, das "Kruzifix-Gesetz" noch irgendwie mit dem GG in Einklang zu bringen) entschieden:

Wer glaubhaft erklärt, dass er aus Gründen seiner religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung kein Kreuz oder gar Kruzifix an den zu benutzenden Unterrichtsräumen duldet und einen Kompromiss (wie auch?) ablehnt, muss umgehend die Abnahme der Kreuze erreichen. Er hat einen Anspruch darauf. Andernfalls liegt seitens der handelnden Lehrer und / oder Schulleiter ein Verstoß gegen die Amtspflicht vor, welcher auch zivil- und disziplinarrechtlich geahndet werden kann.

4. Keine Änderung der deutschen Rechtslage durch das Kruzifix-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)

An dieser Rechtslage hat sich durch die Entscheidung des EGMR vom 18.03.2011 in der Rechtssache Lautsi[2] nichts geändert. Zum einen erging das Urteil nicht gegen Deutschland und die Urteile des EGMR binden gemäß Art. 46 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention unmittelbar nur die an dem Rechtsstreit beteiligten Parteien, d.h. den Beschwerdeführer und den Vertragsstaat (hier: Italien) und verpflichten nur den beteiligten Vertragsstaat zur Befolgung des Urteils. Zum anderen werden durch Urteile des EGMR – trotz deren grundsätzlicher Orientierungswirkung auch für andere Vertragsstaaten – in Deutschland keine bestehenden Gesetze (konkret: Art. 7 Abs. 4 S. 3 BayEUG) aufgehoben, so dass diese durch die handelnden Lehrer und Schulleiter auch weiterhin zu befolgen sind. Und zwar so, wie sie das BVerwG ausgelegt hat.

5. Schlussbemerkungen

Vielen Lehrern und Schulleitern scheint nicht klar zu sein, dass die bayerische Schulverwaltung GG-widrig eine bewusst christliche, im Notfall wenigstens allgemein-religiöse Schulpolitik verfolgt. Das steht aber in krassem Widerspruch zu den bis heute rechtsverbindlichen Grundsatzentscheidungen des BVerfG zu den sog. Christlichen Gemeinschaftsschulen aus dem Jahr 1975.[3] In den (maßgeblichen) Gründen beider Urteile ist eingehend dargelegt, dass das Christentum, neben anderen geistigen Strömungen, im Unterricht zwar eine maßgebliche Rolle spielen darf. Es darf aber nur als Bestandteil von Kultur und Tradition Unterrichtsgegenstand sein, nicht als zu vermittelndes Glaubensgut. Das BVerfG hob die große Bedeutung des Minderheitenschutzes hervor, das Gebot der Nichtdiskriminierung im religiös-weltanschaulich neutralen Staat, das Bemühen um autonome Persönlichkeitsentwicklung, das Verbot der Benachteiligung nichtgläubiger Lehrer (auch bei der Stellenbesetzung).

Mit seiner Schulpolitik, die bewusst über zentrale Aussagen einschlägiger Entscheidungen der hohen Gerichte nicht informiert, gibt der Staat Schülern, Eltern und Lehrern ein denkbar schlechtes Vorbild. Er bringt zum Ausdruck, dass ihn Gesetze und Verfassung nur soweit interessieren, als es den jeweils dominierenden Kräften genehm ist. So wird jedes ehrliche staatsbürgerliche und rechtsstaatliche Bewusstsein, das auf der Gleichheit aller Bürger beruht, untergraben. Das Gerede um Gerechtigkeit, Grundrechte, Neutralität, Werte und Integration wird so unglaubwürdig. Daran sollten sich Lehrer, soweit es in ihren Möglichkeiten steht, nicht beteiligen.

Die Schulen, auch in Bayern, sollten endlich zur Kenntnis nehmen, dass der Staat als solcher nach dem stets vorrangigen Grundgesetz weder religiös noch areligiös zu sein hat. Notfalls wäre der Verwaltungsrechtsweg zu beschreiten. Auch Dienstaufsichtsbeschwerden kämen in Betracht, zumal deren Ablehnung begründet werden muss und Anlass zu weiterem Vorgehen bieten kann.

Dr. Gerhard Czermak, Verwaltungsrichter a. D.

Gerhard Czermak war als Verwaltungsrechtler, zumeist als Richter, tätig und hat Fach- und Einführungsbücher sowie zahlreiche Aufsätze in Fachzeitschriften zum Religionsverfassungsrecht (traditionell: "Staatskirchenrecht"), verfasst. Buchveröffentlichungen (Auswahl):

  • Weltanschauung in Grundgesetz und Verfassungswirklichkeit, Alibri Verlag, 2016
  • Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht, 2009
  • Religions- und Weltanschauungsrecht: Eine Einführung, 2008, 2. A. 2017


  • [2] EGMR, Lautsi gegen Italien, Nr. 30814/06, Urteil der Großen Kammer vom 18.03.2011