Religionsrecht oder Weltanschauungsrecht

I. Begriffliche Abgrenzung

Das GG verwendet beide Begriffe bzw. "religiös" und "weltanschaulich" oder in Wortzusammensetzungen, teils nebeneinander (Art. 4 I; 33 III), teils isoliert (Art. 3 III, 7 III und V). Entsprechendes gilt für die über Art. 140 GG inkorporierten Art. 136, 137, 138 und 141 WRV. Daraus ergibt sich, dass rechtlich Religion und Weltanschauung als begrifflich inhaltsgleiche Parallelen zu verstehen sind. Der ebenfalls übliche allgemeine Sprachgebrauch, wonach "Weltanschauung" gern als Oberbegriff für religiöse und nicht-religiöse Auffassungen verwendet wird, ist daher nicht der des GG und damit des Verfassungsrechts.

II. Begriffsdefinition und Rechtssgggchutz

Es gilt als religionswissenschaftlich unmöglich, "Religion" allgemeinverbindlich zu definieren und von "Weltanschauung" stets zu unterscheiden. Religiöse und nichtreligiöse Weltanschauungen sind nur im Grundsatz unterscheidbar. Allerdings muss der Staat seine Rechtsbegriffe – soweit erforderlich – unabhängig davon immer für seine Zwecke definieren, da Rechtsbegriffe justiziabel sein müssen. Alles, was nicht unter die Begriffe Religion oder Weltanschauung fällt, wird nicht speziell durch Art. 4 I, II GG geschützt. Dabei ist zu beachten, dass jede inhaltliche Bewertung einer Glaubensüberzeugung anerkanntermaßen unzulässig ist.[1] Daher kann die Freiheit der Religion nicht auf übereinstimmende Anschauungen bestimmter Kulturkreise eingeschränkt werden, muss also nicht der europäischen Kultur adäquat sein (heute unbestritten, s. Religionsfreiheit). Das Selbstverständnis der jeweiligen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft bzw. Gruppe ist dabei wesentlich zu berücksichtigen. Der Kreis der geschützten Überzeugungen ist prinzipiell unbegrenzt. Auch nur vereinzelt auftretende, "abweichende" Glaubensüberzeugungen sind geschützt[2], was aber mit sehr guten Gründen mit der Forderung nach einer Personengruppe bezweifelt werden kann.[3] Ob absolute Extremformen von Religionsbetätigung wie religiöse Tötungen schon begrifflich vom Schutzbereich des Grundrechts ausgenommen werden sollen (naheliegende Begründung: Gewalt wird nicht durch das GG geschützt) oder ob dem die Rechtfertigung im Bereich der Grundrechtsschranken versagt werden soll, spielt im Ergebnis keine Rolle.  

III. Zusammenfassende Umschreibungen

Der Begriff Religion umfasst alle Formen von Religion im Sinn eines Systems von Vorstellungen über das Weltganze sowie Herkunft und Ziel des menschlichen Lebens. Religion hat also Sinngebungskraft und ist gemeinschaftsbezogen. Über diese metaphysischen Erklärungsmodelle kommt es zu einer Kommunikation und gemeinsamen Praktiken. Der entsprechende Gegenbegriff, der seit Kant verwendete philosophische Begriff Weltanschauung, meint ebenfalls das Bewusstsein der Wirklichkeit als einer ganzheitlichen Welt-, Lebens-, Sinn- und Werteordnung. Er hat Bedeutung für die Selbstidentität des Menschen und zielt auch auf Bekennen und Lebensgestaltung. Insoweit gleicht er Religionen. Wegen Einzelproblemen vgl. unten V.

IV. Rechtlich unnötige Begriffsunterscheidung

Verfassungsrechtlich spielt die Unterscheidung von Religion und Weltanschauung keine Rolle, wie sich aus dem Text des GG sehr deutlich ergibt. Es stellt religiöse und nicht-religiöse Weltbilder an mehreren Stellen sogar ausdrücklich gleich: Art. 4 I, 7 V, 33 III 2 GG; Art. 137 VII WRV/140 GG. Daher verwendet das BVerfG seit Jahrzehnten häufig den Terminus "weltanschaulich-religiös" oder auch umgestellt. Allerdings enthalten zahlreiche Bundes- und Landesgesetze ausdrücklich nur einzelne Regelungen betreffend "Kirchen" und "Religionsgemeinschaften", wohingegen "Weltanschauungsgemeinschaften" – unkorrekt – nicht aufgeführt sind. Das führt immer noch manchmal dazu, dass Behörden und Gerichte deswegen Weltanschauungsgemeinschaften von Vergünstigungen ausnehmen, sie also diskriminieren und zum Prozessieren zwingen. Da selbst "Immanenz" und "Transzendenz" keine stets klaren Entscheidungskriterien liefern und das Recht den religiösen oder nicht-religiösen "Glauben" (Überzeugung) nicht bewerten darf, befremden solche Versuche. Das gilt angesichts der Entstehungsgeschichte insbesondere für das Gleichbehandlungsgesetz von 2006, aus dem auf Druck der C-Parteien der Begriff Weltanschauung beim zivilrechtlichen Schutz vor Diskriminierung mit einer abstrusen Begründung (keine Ermunterung für Rechtsradikale!) aus dem Entwurf gestrichen wurde. Das EU-Recht und die EMRK behandeln Religion und Weltanschauung ebenfalls schon verbal gleich. Die Unzulässigkeit einer Differenzierung zeigt sich rein praktisch am unterschiedlichen Selbstverständnis freigeistiger Vereinigungen, die eine rein säkulare, nicht-theistische Überzeugung zur Welterklärung usw. haben, von denen einige aber bewusst am "religiösen" Selbstverständnis, z. T. auch im Namen der Vereinigung, festhalten ("Freireligiöse Landesgemeinde"; Deutsche Unitarier).

V. Vorliegen einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft

Besondere Probleme ergeben sich, wenn unklar ist, ob überhaupt eine RG bzw. WG vorliegt. Das muss nach objektiven Kriterien der formalen sozialtypischen Erscheinung entschieden werden, eine bloße Selbstbehauptung allein reicht nicht.[4] Eine umfangreichere wirtschaftliche oder politische Betätigung einer RG oder WG nimmt diese Eigenschaft nicht. Anderes gilt ausnahmsweise, wenn der behauptete religiöse Charakter nachweislich nur der Maskierung der wirtschaftlichen Betätigung dient. Das ist nach weit überwiegender Auffassung in Deutschland bezüglich der Scientology-Bewegung der Fall, wird aber in mehreren europäischen Ländern anders gesehen.

VI. Sprachgewohnheiten

Die im Zusammenhang mit Art. 4 GG benutzten unterschiedlichen Begriffe sind eine Folge der sprachlichen Schwerfälligkeit eines eindeutigen und korrekten Sammelbegriffs wie "Religions- und Weltanschauungsfreiheit". Stattdessen spricht man alternierend und missverständlich meist von Religionsfreiheit, Weltanschauungsfreiheit, Glaubensfreiheit und gelegentlich auch von Bekenntnisfreiheit. Gemeint ist bei korrektem Verständnis immer – zusammenfassend – dasselbe. Daher kann "Religionsunterricht" im Sinn des Art. 7 II, III GG auch ein nichtreligiöser Weltanschauungsunterricht sein (heute weitgehend unstreitig). Siehe näher zur Begriffsproblematik unter Religionsfreiheit. Eine bevorzugte Verwendung von "Weltanschauungsfreiheit" als Oberbegriff für religiöse und nichtreligiöse Freiheiten entspricht der wortgeschichtlichen Herkunft und ist neutral im Vergleich zu "Religionsfreiheit".

>> Grundrechtsschranken; Humanismus; Neutralität; Religionsfreiheit; Religionsgemeinschaften; Schutzbereich; Weltanschauungsgemeinschaften.

Literatur:

  • BVerfGE 12,1 = NJW 1961,211, 8.11.1960 (Tabak-Fall; keine inhaltliche Bewertung r-w Überzeugungen);
  • BVerfGE 83,341 = NJW 1991,2623, U. v. 5.2.1991 (Bahá’í); BVerwGE 89,368,369 ff. = NVwZ 1992,1192, U. v. 19.2.1992 (Weltanschauungsschule);
  • BVerwGE 90,112/115 = NJW 1992,2496, U. v. 27.3.1992 (Osho II); BVerwGE 94,82 = NVwZ 1994,578 (Koran und Schulsport).
  • EvStL 3. A. 1987, Art. Weltanschaggguungsgemeinschaften; Pieroth, Bodo/Görisch, Christoph: Was ist eine "Religionsggggemeinschaft"? JuS 2002,937-941.
 


  • [1] so schon BVerfGE 12,1/4, 1960.
  • [2] BVerwGE 94,82.
  • [3] So eingehend C. D. Classen, Religigggonsrecht, 2. A. 2014, S. 45 ff., 79.
  • [4] Dazu BVerfGE 83,341/353.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)