Gebete

I. Bedeutung des Schulgebets
Das Schulgebet hat in einigen Bundesländern noch praktische Bedeutung, seine Abhaltung hängt aber hauptsächlich vom Verhalten der Lehrer ab. Es handelt sich um eines der zahlreichen Detailprobleme der sog. Christlichen Gemeinschaftsschulen, die ja auf Grund von (teil-weise ambivalenten) Entscheidungen des BVerfG von 1975 inhaltlich nicht glaubens-, sondern nur kulturchristlich ausgerichtet sein dürfen. Entsprechendes gilt für die weiterbilden-den Schulen. In einer vielzitierten und weithin begrüßten Entscheidung hat das BVerfG 1979 das Schulgebet, verstanden als überkonfessionell-christliche Anrufung Gottes, in den öffentlichen „Christlichen Gemeinschaftsschulen“ (wie schon 1973 das BVerwG) allgemein zugelassen. Voraussetzung sei aber völlige Freiwilligkeit der Teilnahme, wobei der Staat aber das Gebet nicht ermöglichen müsse.

II. Entscheidung des BVerfG 1979
Nur selten wurden rechtliche Schwächen der Entscheidungsgründe diskutiert: Das Gebet soll nämlich nach BVerfG „nicht Teil des allgemeinen Schulunterrichts“ sein, außerhalb des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags liegen und „keine gezielte erzieherische Einflussnahme seitens Schule und Lehrer auf die Kinder bedeuten, sondern eine im Regelfall gemeinsam mit dem Lehrer ausgeübte religiöse Betätigung“. Daher sei es nur bei „völliger Freiwilligkeit“ zulässig. Dennoch bleibe das Gebet „eine dem Staat zuzurechnende schulische Veranstaltung“, zumindest, wenn es vom Lehrer angeregt werde und innerhalb der Unter-richtszeit stattfinde. Wenn der Staat das zulasse, fördere er zwar das Christentum, was aber noch im Rahmen der Gestaltungsfreiheit des Art. 7 I GG liege. Die Länder seien jedoch nicht verpflichtet, ein Schulgebet zu ermöglichen. Andersdenkende müssten eine gewisse Sonderstellung hinnehmen, nur in Ausnahmefällen müsse auf das Gebet verzichtet werden.

III. Die Kompetenzfrage
Auffälligerweise wurde – trotz eingehender Rechtskritik in anderen Punkten[1]  – kaum je die Frage gestellt, woher der Lehrer, der als Amtsträger der religiös-weltanschaulichen Neutralität verpflichtet ist (s. Beamtenrecht und Religion) die Kompetenz haben soll, eine religiöse Übung zu initiieren. Weder BVerfG, noch BVerwG, noch die zahlreichen Entscheidungsbefürworter erwähnten das sich regelrecht aufdrängende Kompetenzproblem. Diese Methode der wohl nicht zufälligen Problemverdrängung wurde bezüglich des sechzehn Jahre später ergangenen „Kruzifix-Beschlusses“ in der Neutralitätsfrage wiederholt.

IV. Problemlösung
Nach richtiger Auffassung ist der Lehrer, entsprechend wie in den im Übrigen freilich nicht ganz vergleichbaren Kopftuchfällen (Mehrdeutigkeit), zumindest auch Amtsperson, wenn er das Gebet im Klassenzimmer im Zusammenhang mit dem Unterricht veranlasst und es seinen Schülern nicht lediglich ermöglicht und freistellt. Das Gebet ist jedenfalls dann dem Staat zuzurechnen, wie auch das BVerfG einräumt. Als Amtsperson darf sich aber kein Lehrer mit einer Religion derart identifizieren, zumal das Gebet, wie auch das BVerfG richtig sagt, außerhalb des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags liegt. Es bedeutet auch nach Auffassung des Gerichts eine Förderung des Christentums, die „über die religiösen Bezüge hinausgeht, die sich aus der Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors des Christentums (BVerfGE 41,29/52) ergeben“. Bei maßgeblicher Mitwirkung des Lehrers kann auch von völliger Freiwilligkeit der Teilnahme keine Rede mehr sein[2].  Wenn Schüler mit Genehmigung der Schulleitung einvernehmlich ein Gebet sprechen wollen, mögen sie als Aus-druck freiwilliger Religionsausübung tun und der Lehrer mag sich daran – als Privatperson – beteiligen. Einen Einfluss nehmen darf er nicht.

V. Ausblick
Das BVerfG hat zu einer weiteren Verunklarung beigetragen und regelmäßigen Rechtsbruch begünstigt. Denn dass Schulgebete ohne Initiierung des Lehrers abgehalten werden, ist eine weltfremde Vorstellung. Die weite Auslegung des kompetenzrechtlichen Art. 7 I GG im Sinn der Zulässigkeit einer leichten dem Staat zuzurechnenden Förderung des Christentums steht im Widerspruch zum Grundrecht der Glaubensfreiheit, kann sich nicht auf Verfassungsrecht stützen und wird vom BVerfG daher auch nicht begründet.

Heute dürfte auch das in einigen Bundesländern noch durchgeführte Schulgebet selten geworden sein, weil die pluralistisch gewordenen Verhältnisse das nicht zulassen. Lehrer und Schüler sind christlich und nichtreligiös, muslimisch oder gehören anderen Religionen an. Das Erfordernis der Gleichbehandlung und das Problem der inhaltlichen Verantwortung für das Schulgebet dürften der Abhaltung eines Schulgebets auch praktisch entgegenstehen[3].  Es erscheint allerdings unverständlich, dass nicht schon bisher statt ggf. umstrittenen Gebeten philosophische Sinnsprüche vorgetragen wurden, bei denen auch sozialen und regionalen Gegebenheiten Rechnung getragen wird und die religiöse und nichtreligiöse Schüler gleichermaßen ansprechen sowie der Integration im Sinn gelebter Demokratie förderlich sind.

VI. Sonderproblem Islam
Leider musste sich auch die Justiz mit Fragen muslimischer Gebete befassen. Das BVerwG erklärte 2011[4], Schüler seien aufgrund der Glaubensfreiheit grundsätzlich berechtigt, außer-halb der Unterrichtszeit in der Schule ein Gebet zu verrichten, wenn dies einer Glaubensregel seiner Religion entspricht. Die Schule könne das nicht generell unterbinden. Anderes gelte für den Fall, dass die Gebetsverrichtung konkret geeignet sei, den Schulfrieden zu stören. Eine solche Störungseignung war aber vom OVG Berlin angenommen worden, weil es zu innerislamischen Streitigkeiten gekommen war.

VII. Kindergärten
Auch in staatlich-gemeindlichen Kindergärten gilt das Neutralitätsgebot. In der Begründung einer nach Abschluss der Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erhobenen Verfassungsbeschwerde war vorgetragen worden: das Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates verbiete es, dass Angestellte eines kommunalen Kindergartens als Organisatoren und Veranstalter religiöser Betätigung auftreten. Hierzu hat eine Kammer des BVerfG 2003 Folgendes ausgeführt[5].  Nach dem Erziehungskonzept des kommunalen Kindergartens seien sich die dort Tätigen der multikulturellen Vielfalt in der Gruppe bewusst. Gleichzeitig heiße es, es sei ein wichtiges Unterfangen, „die Kinder“, mit dem christlichen Glauben zu konfrontieren. Deshalb würden „viele Gebete“ gelernt und Religion, und zwar, wie dem Kontext zu entnehmen ist, christliche Religion „angeboten“. Andere Religionen würden aber toleriert. Hierzu erläuterte das BVerfG: „Wäre dies im Sinne einer missionarischen Betätigung, eines gezielten Einwirkens auf anders oder nicht Gläubige, zu verstehen, wäre die Durchführung des Tischgebets als Teil des hier maßgeblichen Erziehungskonzepts mit den Grundrechten der Beschwerdeführer nicht zu vereinbaren…“ Das Gericht verwies die Eltern wegen noch anzustellender Ermittlungen auf das Hauptsacheverfahren mit der absehbaren Folge, dass bis dahin der Kindergartenbesuch erledigt wäre.
Auch hier hat das BVerfG wieder klare Aussagen zum Inhalt des Neutralitätsgebots vermieden und die Ansicht vertreten, ein bisschen spezielle Religionsförderung sei zulässig, wenn nur nicht gezielt und missionarisch auf die Kinder andersdenkender Eltern eingewirkt werde. Es hat damit unzulässig das Gebot religiöser Gleichberechtigung durch ein bloßes Toleranz-gebot ersetzt und auch auf Anwendungskriterien verzichtet. Wenn angeblich nicht einmal das Lernen vieler Gebete religiös-missionarisch wirkt, was bedeutet dann Mission?
Wenn kleine Kinder in einem öffentlichen Kindergarten religiöser Beeinflussung ausgesetzt werden, so steht das in einem direkten starken Konflikt zum Gesamterziehungsplan nichtreligiöser Eltern. Das verstößt gegen das Elternrecht auf religiöse Kindererziehung, Art. 6 II GG. Das BVerfG hat in seinem von ihm selbst häufig zitierten Kruzifix-Beschluss von 1995 (Senatsentscheidung) ausgeführt: „Es ist Sache der Eltern, ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln, die sie für richtig halten (vgl. BVerfGE 41, 29 [44, 47  f.]). Dem entspricht das Recht, die Kinder von Glaubensüberzeugungen fernzuhalten, die den Eltern falsch oder schädlich erscheinen.“ [6]

Beamtenrecht und Religion; Christlichen Gemeinschaftsschulen; Elternrecht; Glaubens-freiheit; Islamisches Kopftuch; Neutralität.

Quellen:

[1] insb. von E.-W. Böckenförde, a.a.O. 1980.
[2] Zur Veranstalter- und Kompetenzfrage eingehend F. v. Zezschwitz a.a.O.
[3] Vgl. zum Ganzen C. D. Classen, Religiongggsrecht, 2. A. 2014, S. 249 ff.
[4] BVerwGE 141, 223.
[5] BVerfG, NJW 2003, 3468,  02.10.2003
[6] BVerfGE 93,1 (Kruzifix-Beschluss).

Literatur:

  • BVerfGE 52, 233 = NJW 1980,575 (Schulgebet) 
  • BVerfG, NJW 2003, 3468,  02.10.2003 - 1 BvR 1522/03  (Tischgebet Kindergarten) 
  • BVerwGE 141, 223 = NVwZ 2012, 162
  • Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Zum Ende des Schulgebetsstreits. DÖV 1980, 323-327; dazu Replik Scheuner S. 513 ff. und Schlusswort von B., S. 515.
  • Brink, Josef: Staatliche Mission in der Schule und Staatskirchenverbot. Kommentar zum Schulgebets-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 16.10.1979 – Az 1 BvR 647/70 – 1 BvR 7/74,  in: Demokratie und Recht 1981, 76-81.
  • Enders, Christoph: Schulgebet-Urteil des BVerwG: Ein Staatsbankrott ganz eigener Art, JZ 2012, 358-366.
  • Renck, Ludwig: BayVBl 1980, 338 f. 594 (Anmerkungen zu BVerfGE 52,223 und JuS 1989,451, 454).
  • v. Zezschwitz, Friedrich: Staatliche Neutralitätspflicht und Schulgebet, JZ 1966, 337 ff.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)