Schule und Religion
I. Geschichte
Dieses große Thema hatte und hat zumindest im Hintergrund stets zentrale Bedeutung im gesellschaftlich-politischen Kampf, und gerade heute ist mit zunehmender Säkularisierungs- und Pluralisierungstendenz die Zahl der aktuellen Einzelthemen politischer und rechtlicher Auseinandersetzungen ziemlich groß: auch ein Ausdruck von Rückzugsgefechten. Das Schulwesen ist seit dem Mittelalter, in dem die Kirche nahezu alleinige Trägerin des vornehmlich der Heranbildung des Klerus dienenden (im Gegensatz zur römisch-griechischen Antike nur kleinen) Schulwesens war, eine Domäne der Kirche geblieben. Die dann folgenden schulischen Bestrebungen der Städte und der Kaufmannschaft führten zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Kirche, die in der Schule nach wie vor alleine herrschen wollte. Luther erklärte: "Wo die Heilige Schrift nicht regiert, da rate ich niemand, dass er sein Kind hin tue." Auch im Zuge der Verwirklichung der aufklärerischen Idee von der allgemeinen Volksbildung und der Verstaatlichung des Schulwesens blieb der kirchliche Einfluss auf das Schulwesen enorm. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. wurde der Kampf gegen die geistliche Schulaufsicht stark. In Bayern konnte sich aber die Abschaffung der verhassten geistlichen Schulaufsicht trotz starken jahrzehntelangen Kampfes der Lehrerschaft endgültig erst mit der Weimarer Verfassung durchsetzen. Die allermeisten Schulen waren damals in Deutschland Bekenntnisschulen, Gemeinschaftsschulen blieben die Ausnahme.
II. Weimarer Zeit und NS-Zeit
1. In der Weimarer Nationalversammlung gehörten das Verhältnis von Staat, Religion und Weltanschauung sowie die Schulverfassung zu den umstrittensten Fragen. Dennoch einigten sich die sozialistischen Parteien, die einen laizistischen Kurs mit Abdrängung der Religion ins Private bevorzugten, und das katholische Zentrum auf die Weimarer Kirchenartikel und einen Schulkompromiss. Beim Kampf um die weltanschauliche Ausrichtung der Volksschulen setzte sich daher reichsrechtlich die Gemeinschaftsschule als Regelschule durch. Da aber in der Folgezeit alle Anläufe zu einem Reichs-Volksschulgesetz vor allem wegen des Widerstands der Befürworter der Konfessionsschulen scheiterten, blieb es wegen Art. 174 S. 1 WRV in allen Ländern bei der Rechtslage von 1919. Praktisch bedeutete diese Sperrklausel eine Bestandsgarantie für alle Konfessionsschulen, d.h. im überwiegenden Teil Deutschlands stand die Realität im Gegensatz zum Programm der WRV. Selbst bekenntnisfreie Schulen ohne Religionsunterricht (RU) konnten nicht errichtet werden. Freilich mussten auch konfessionslose Lehrer beschäftigt werden, hatten aber wegen der Erteilung des RU durch staatliche Lehrer erhebliche Nachteile. Hierzu Christoph Gusy: "Die in der Staatsrechtswissenschaft fast ausnahmslos vertretene Auffassung vom Verbot der Benachteiligung konfessionsloser Lehrer ließ sich in der Praxis kaum durchsetzen."
2. In der NS-Zeit blieb der Katholizismus, der dem Regime immerhin durch das Reichskonkordat zu erstem internationalem Ansehen verholfen hatte, trotz aller Gegnerschaft zwischen beiden ideologischen Mächten doch so stark, dass zwei Versuche, das Kreuz aus den Schulen aus Gründen der Religionsfeindschaft zu entfernen (1936, Münsterland; 1941, Bayern), scheiterten. Zu dem komplexen Verhältnis zwischen Regime und Kirchen sei hier nicht Stellung genommen.[1]
III. Entwicklung nach 1945
1. Aus dem völligen nationalen, wirtschaftlichen und moralischen Zusammenbruch 1945 gingen die Kirchen, vor allem die katholische, aus verschiedenen Gründen gestärkt hervor. Inwieweit das auch ethisch gerechtfertigt war, mag hier trotz einer Fülle auch kritisch-christlicher Forschungen (s. nur etwa Arbeiten von E.-W. Böckenförde, G. Besier, G. Denzler, M. Greschat, F. Heer, E. Klee, H. Missalla, K. Scholder u.v.a.) dahinstehen. Für Westdeutschland galt: Die Kirchen waren als einzige der großen gesellschaftlichen Organisationen strukturell halbwegs intakt geblieben. Sie erschienen als Garanten von Kontinuität und Ordnung. Vor allem die kath. Kirche vermochte bei der Entstehung des GG erheblichen Einfluss geltend zu machen (s. zum Ganzen Grundgesetz, Entstehungsgeschichte). In den Jahren 1948/49 existierten bereits Länderverfassungen mit starken christlichen Elementen (Bayern, Rheinland-Pfalz, Württemberg-Baden, Saarland) und im Parlamentarischen Rat prallten die weltanschaulichen Gegensätze nirgendwo sonst so unversöhnlich aufeinander wie bei den kulturpolitischen, insbesondere Schulfragen.
Das erklärt etliche, den Kirchen (aber nicht nur diesen) stark entgegenkommende Regelungen des GG, die zudem in der folgenden starken Konfessionalisierung der katholisch dominierten Adenauer-Ära mit erstaunlichen Methoden der Rechtsanwendung "ausgelegt", kombiniert und zur Aushöhlung zentraler Staatsprinzipien eines rein säkularen Staates, nämlich des Neutralitätsgebots und des Trennungsprinzips, benutzt wurden (s. Religionsfreiheit; Christentum und Grundgesetz; Klerikalismus). Daher gab es ungeachtet des Art. 4 I GG und der anderen Vorschriften zur Gleichstellung von Religion und Weltanschauung bis etwa Mitte der 60 er Jahre des 20. Jh. fast nur christliche Bekenntnisschulen (Konfessionsschulen), die alle Schüler ungeachtet der persönlichen Weltanschauung besuchen mussten. Das Grundrecht bzw. die Grundrechte der mit dem Gleichheitsprinzip verbundenen Religionsfreiheit (vgl. Art. 4 I GG) blieb(en) selbst in der Rspr. des BVerwG und BVerfG im Hinblick auf Art. 7 V GG (der die Regelschulproblematik aber gar nicht betrifft) lange fast unbeachtet.
2. Auf die Bekenntnisschulen folgten dann die sog. Christlichen Gemeinschaftsschulen, die jedoch – so das BVerfG 1975 – inhaltlich gar nicht christlich sein durften. Seit dieser Zeit ist eine größere Zahl von Gerichtsentscheidungen zu unterschiedlichen Themen ergangen, mit Vor- und Rückschritten (je nach Betrachtungsweise), die nach und nach der persönlichen Religionsfreiheit auch im Schulwesen mehr Geltung verschafften. Dieser Prozess ist heute noch nicht abgeschlossen. Die Gesellschaft ist trotz ihrer starken Säkularisierung – auch mangels Aufklärung durch Schule und Medien – über das Erfordernis echt neutralen (nicht: laizistischen) Verhaltens der staatlich-öffentlichen Organe offenbar immer noch nicht genug unterrichtet. Daraus resultieren die heute aktuellen Probleme, die z.T. selbst bei Schulleitern einen erstaunlichen Mangel an staatsbürgerlicher Grundbildung erkennen lassen (s. insb. die Kreuz-Problematik).
3. In der "SBZ", später DDR, wurde die Religionsfreiheit in sozusagen umgekehrter Weise verletzt. Für die Gegenwart spielt diese Negativtradition freilich keine Rolle. Den ostdeutschen Kirchen wurde ab 1990 die westliche staatsnahe Sichtweise aufgenötigt. Ursprünglich hatten sie die Staat-Kirche-Beziehungen wegen des Wunsches nach Unabhängigkeit wesentlich staatsferner beurteilt. Aber die ökonomische Betrachtungsweise setzte sich durch.
IV. Aktuelle Rechtsprobleme
Nach wie vor wirft der Bereich Schule und Religion überaus zahlreiche verfassungsrechtliche Fragen auf, die nicht selten von ganz grundsätzlicher Bedeutung sind, von den Gerichten aber nur mit spitzen Fingern angefasst werden. Die geänderte religionssoziologische Lage hat dazu geführt, dass sich nichtreligiöse Eltern vermehrt gegen die zahllosen Diskriminierungen durch religiös orientierte Lehrer und vor allem Schulverwaltungen zur Wehr setzen. Auch die islamische Religion führte schon zu zahlreichen Gerichtsverfahren. Die Themenvielfalt wie Religions- und Ethikunterricht, Freiheit von staatlich-religiöser Beeinflussung, religiöse Kleidung, Schulbücher, Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen usw. ist groß, und es sei hier auf die speziellen Artikel verwiesen.
>> Aufklärung; Bekenntnisfreie Schulen; Bekenntnisschulen; Christentum und Grundgesetz; Christliche Gemeinschaftsschulen; christliche Schulpolitik; Elternrecht; Erziehung; Erziehungsziele; Ethikunterricht; Glaubensfreiheit; Grundgesetz, Entstehungsgeschichte; Leitprinzipien des Grundgesetzes; Kopftuch; Kreuz im Klassenzimmer; Klerikalismus; Laizismus; Neutralität; Privatschulwesen; Regelschulproblematik; Kleidung; Religionsfreiheit; Religionsunterricht; Säkularisierung; Schularten; Schulaufsicht; Schulbücher; Gebete; Schulgottesdienst; Schulpflicht; Sexualerziehung; Toleranz.
Literatur:
- Czermak, Gerhard: Öffentliche Schule, Religion und Weltanschauung in Geschichte und Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland. Eine Rückschau unter dem Aspekt der individuellen Religiongggsfreiheit und Neutrgggalität. In: Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat. FS für Wolfgang Rüfner zum 70. Geb. Berlin 2003, 79-109 (LINK).
- Gusy, Christoph: Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, 321-342 (zu Religion, Bildung, Schule).
- Jach, Frank-Rüdiger u.a. (Hg.): Fünfzig Jahre Grundgesetz und Schulverfassung, Berlin 2000, 116 S.
- Keim, Wolfgang: Schule und Regggligion, 2. A. Hamburg 1969 (S. 65 ff. zur Geschichte des Volksschulwesens).
- Ponitka, Rainer (Hg.): Konfessionslos in der Schule. Ein Ratgeber. Aschaffenburg 2013.
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[1] Dazu etwa Johannes Neumann, Die Kirchen in Deutschland 1945: Vorher und nachher, https://www.ibka.org/artikel/ag98/1945.html
© Gerhard Czermak / ifw (2017)