Selbstverständnis

Wie religiös-weltanschauliche Gemeinschaften sich selbst definieren, also ihr Selbstv.erständnis, muss ihnen im Staat der Weltanschauungsfreiheit grundsätzlich allein überlassen sein, ohne dass staatliche Organe darauf Einfluss nehmen dürften. Es ist dabei auch grundsätzlich unerheblich, wie sie von außen beurteilt werden. Die Frage ist aber dennoch in verschiedener Hinsicht von rechtlicher Bedeutung. Die Grundrechte der Weltanschauungsfreiheit (z. B. Vereinigungsfreiheit, Selbstverwaltungsrecht im Rahmen des Art. 137 III WRV/140 GG) können nur solchen Gemeinschaften zugestanden werden, die rechtsbegrifflich eine Weltanschauungsgemeinschaft, also ein umfassendes religiöses oder nichtreligiöses Überzeugungssystem darstellen, und nicht nur einzelne Aspekte einer Weltanschauung betreffen. Denn Rechte können nur geschützt werden, wenn sie staatlich definiert sind.

Im Rahmen der einzelnen zu schützenden definierten Bereiche muss die Rechtsordnung das Sel.bstverständnis der jeweiligen Gemeinschaft aber weitgehend berücksichtigen. Wann z. B. eine kultische Handlung oder ein religiöser Brauch konkret vorliegt, kann ja nicht der Staat bestimmen. Er kann nur prüfen, ob das Vorliegen religiöser Tatbestände nicht nur vorgeschützt ist, z. B. ob es nicht in Wirklichkeit fast nur um die Verbrämung kommerzieller Interessen geht. Das kann schwierig sein, weil auch sehr ungewöhnliche Ansichten zum Gegenstand religiöser Überzeugung gemacht werden können. Gerade weil das religiös-weltanschauliche Selbs.tverständnis begrifflich unbegrenzt ist, muss die Rechtsordnung darauf achten, dass das nicht zu ihrer eigenen Paralysierung führt. Anhänger einer Todesgöttin oder "heilige" Krieger können nicht unter Berufung auf die Religionsfreiheit Menschen ermorden, weil ihre Religion ihnen das gebiete. Ob in solchen Extremfällen schon der grundrechtliche Schutzbereich wegen Verstoßes gegen das verfassungsrechtliche Gewaltverbot als begriffliche Voraussetzung jeder Religionsausübungsfreiheit abzulehnen ist, kann dahingestellt bleiben. Denn jedenfalls die Grundrechte Anderer stellen als verfassungsunmittelbare Schranke einer Ausübung solcher Religion entgegen. Da aber ein Weltanschauungssystem nie aus nur reiner Gewaltausübung bestehen kann, überzeugt es mehr, auch in Extremfällen im Zweifel den Schutzbereich als solchen anzunehmen. Der Schutz der Allgemeinheit leidet darunter nicht.

>> Grundrechtsschranken; Religionsausübungsfreiheit; Religionsfreiheit; "Religionsrecht oder Weltanschauungsrecht; Schutzbereich.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)