Toleranz

I. Begriff

Das Wort T. leitet sich von lat. tolerare ab mit dem Sinn von ertragen, dulden, hinnehmen. Zu unterscheiden sind zunächst T. als historischer Begriff, insb. in Verbindung mit der Geschichte der Religionsfreiheit, als bürgerliche Tugend und als Rechtsbegriff. Darüber hinaus ist T. ein Modebegriff, weil er mit positiven Assoziationen verbunden und gleichzeitig so unbestimmt ist, dass er sich als Vehikel im Kampf um moralische, politische oder rechtliche Positionen bestens eignet. Toleranz in diesem Allerwelts-Sinn ist fast eine Leerformel, die auch als Totschlagsvokabel und zur Manipulation eingesetzt werden kann, denn wer will schon intolerant sein? Man sieht das am immer noch nicht ausgestandenen speziell bayerischen Kampf um das Kreuz im Klassenzimmer und der dabei aufgestellten obrigkeitlichen Behauptung, ein agnostischer Lehrer, der nicht "unter dem Kreuz" unterrichten und dieses abnehmen wolle, verhalte sich äußerst intolerant. Statt sich auf das Grundrecht der Glaubensfreiheit zu berufen, solle er besser seinen Dienst quittieren. Toleranz wird daher als moralischer wie auch als Rechtsbegriff in fragwürdig-schillernder Weise verwendet. Seine Benutzung dient dann zur Verschleierung der Problemlage.

II. Zur Geschichte der Toleranzidee

Historisch entwickelte sich die europäische Toleranzidee im Sinn der geregelten Hinnahme religiöser Minderheiten durch die weltliche Obrigkeit zur Wahrung des inneren Friedens erst mit der Philosophie der Aufklärung (spätes 17. und 18. Jh.). Toleranz ist eine ihrer Leitideen. Schon vor dem Dreißigjährigen Krieg waren in Frankreich zwischen 1562 und 1598 acht Religionskriege (Hugenottenkriege) geführt worden. Um 1600 war in Deutschland der Höhepunkt der Hexenverfolgung erreicht. Nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges 1648 wandte sich die Aufklärung daher gegen den Geist religiöser Verfolgung. Denn auch zu einer Toleranz im hier verwendeten reduzierten Sinn stand das Christentum als Offenbarungsreligion von Anfang an in Spannung.[1] Bis zum Aufkommen der Toleranzidee, die die religiöse Toleranz als sittlichen Wert und rationales Prinzip zur Erreichung des inneren Friedens begriff, gab es Toleranz im Sinn begrenzter Duldung abweichender religiöser Überzeugung in Europa nur punktuell und beliebig. Eine Ausnahme stellte nur die "Kultur der drei Ringe" in Spanien vom Sieg des Islam 711 bis zur Reconquista dar. Generell gewährte der frühe Islam innerhalb seines Hoheitsbereichs speziell Christen und Juden wenigstens einen minderen Rechtsstatus.

Eine Voraussetzung der Toleranz im Sinn der Aufklärung, die ihrerseits nur eine Vorstufe der heutigen Religionsfreiheit und politischen Freiheit war, war die Reformation. Nicht den brutal verfolgten Ketzerbewegungen, sondern erst der Reformation gelang es, die mittelalterliche Glaubenseinheit aufzubrechen und das Machtgefüge zu erschüttern. Aber nicht Reformatoren waren Anwälte des Toleranzgedankens, sondern Spiritualisten, Täufer und einzelne Humanisten wie Thomas Morus (Utopia) und Erasmus, die aber noch auf einem religiösen Minimum bestanden. Der Nichtgläubige war Staatsfeind und blieb es noch lange. Der Augsburger Religionsfriede (1555) brachte Glaubenszweiheit, nicht Glaubensfreiheit und billigte Andersgläubigen nur das Recht der Auswanderung zu.

III. Im Einzelnen

1. Wenn in der politischen Diskussion Christentum und Kreuzsymbol häufig mit Toleranz als Synonymbegriff verbunden werden, so entspricht das zwar einer heute einigermaßen weit verbreiteten christlichen Grundüberzeugung. Aber historisch ist das Christentum bis weit ins 20. Jh. hinein mit Intoleranz verbunden. Hierzu schreibt etwa der Theologe Max Seckler zu den christlichen Konfessionen: "Der Billigung der Ideen der religiösen Toleranz und ebenso der Religionsfreiheit widersetzten sie sich, solange es irgend möglich war... Und es war bekanntlich hier wie dort vor allem der äußere Druck der Verhältnisse in Staat und Gesellschaft, der die Kirchen und Konfessionen schließlich schrittweise dahin brachte, sich wenigstens de facto auf Toleranzregelungen einzulassen."[2] Noch die Garantien religiöser Toleranz im Westfälischen Frieden (1648) entsprangen keineswegs toleranter Gesinnung im heutigen positiven Sinn, sondern bedeuteten nur Kapitulation vor den tatsächlich ausgeglichenen Machtverhältnissen. Papst Innozenz X. fand sich seinerzeit selbst mit der bloß formalen Existenzberechtigung der Protestanten nicht ab und erklärte den Westfälischen Frieden für "null und nichtig, für verdammt, ohne allen Einfluss und Erfolg für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft". Die konsequente und scharfe Bekämpfung von religiöser Toleranz und Religionsfreiheit durch das Papsttum des 19. Jh. ist bekannt, und man stützte sie auf unwandelbares Naturrecht (s. dort). Allerdings forderten in Deutschland die Katholiken vom Staat teilweise gleichzeitig Religionsfreiheit und Trennung von Staat und Kirche. Es galt: Intoleranz, wenn möglich, Toleranz, wenn nötig (s. auch Katholische Kirche und Moderne). Noch 1953 erklärte Pius XII. in seiner bekannten "Toleranzrede" vor italienischen Juristen: "Was nicht der Wahrheit und dem Sittengesetz entspricht, hat objektiv kein Recht auf Dasein, Propaganda und Aktion. Nicht durch staatliche Gesetze und Zwangsmaßnahmen einzugreifen, kann trotzdem im Interesse eines höheren und umfassenderen Gutes gerechtfertigt sein."[3] Das waren Gründe des allgemeinen Wohls, wohingegen ein persönliches Recht auf Religionsfreiheit weiterhin ausgeschlossen war.

2. Die grundstürzende Wende kam erst mit der Erklärung über die Religionsfreiheit des 2. Vatikanischen Konzils von 1965, mit der das Konzil die These "Wahrheit vor Freiheit" – letztlich eine Machttheorie – aufgab, die Phase der positiven Toleranz übersprang und das Recht der Wahrheit durch das Recht der Person ersetzte (so  E.-W. Böckenförde). Es gilt demnach – zumindest theoretisch und nach außen hin – volle individuelle Religionsfreiheit im Sinn der freien persönlichen Gewissensbildung und eines vorstaatlichen und unveräußerlichen allgemeinen Menschenrechts. Der Staat ist dabei religiös inkompetent. Vor der eigenen Geschichte der Intoleranz verschloss das Konzil freilich weitgehend die Augen. Inwieweit diese Erkenntnisse einer Kopernikanischen Wende in der Catholica und insbesondere in Deutschland praktisch beachtet werden, ist eine andere Frage.

3. Toleranz ist im protestantischen Bereich heute weit weniger ein Problem als bei Katholiken. Der Ökumenische Rat der Kirchen hat bereits 1948 eine Erklärung zur Religionsfreiheit verabschiedet. Der Rat der EKD widmet in seiner Erklärung "Christentum und politische Kultur" (1997) der Toleranz eine Passage, wonach die Geschichte der christlichen Kirchen "auch durch Exzesse von Intoleranz gezeichnet" sei. Dabei ist, so der Rat, "Toleranz mit dem Wesen des christlichen Glaubens unlöslich verbunden". Sie gründe in der Tolgggeranz Gottes und der Lehre vom Menschen als Ebenbild Gottes mit der daraus resultierenden Menschenwürde.

IV. Tolegggranz als historischer Rechtsbegriff

Damit ist für eine sinnvolle Verwendung des Begriffs Toleranz in der aktuellen Diskussion noch wenig gewonnen, insbesondere nicht für den Inhalt der Toleranz als bürgerliche und politische Tugend und ggf. seine Bedeutung als Rechtsprinzip. In der Tat bedeutete Toleranz jahrhundertelang, auch im Verständnis des aufgeklärten Schrifttums des 18. Jh., nur "Dulden religiöser Auffassungen in gewissen Grenzen". Die mit dem Westfälischen Frieden geschaffene Reichsverfassung ließ ausschließlich, aber paritätisch Katholiken, Lutheraner und Reformierte zu. Wenn unter dem Einfluss der Aufklärung in vielen Territorien auch andere Bekenntnisgemeinschaften unparitätisch geduldet, d.h. toleriert wurden, bedeutete das einen Bruch geltenden Reichsrechts. Auch im 19. Jh. war Toleranz ein Rechtsbegriff, der nur religiöse Duldung minderen Rechts bedeutete. Der mehr oder weniger tolerante christliche Glaubensstaat wurde trotz wachsender Trennungstendenz erst mit der Weimarer Verfassung durch einen sich nicht mehr religiös definierenden Staat der Glaubensfreiheit abgelöst (s. Weimarer Verfassung). Der historische Rechtsbegriff der Tolerggganz verlor damit seine Bedeutung. Als erweiterter Begriff des gesellschaftlichen Lebens wurde spätestens jetzt Toleranz positiv umgedeutet. Schon Kant und Goethe hatten ein Voranschreiten von der bloßen Toleranz zur Anerkennung gefordert.

V. Toleranz heute

In der heutigen allgemeinen Diskussion wird Toleranz i. d. R. positiv verstanden, wobei jedoch meist unausgesprochen verschiedene Verständnisse gemeint sind. Gemeinsam ist ihnen nur, dass Toleranz nicht gleichgültige Beliebigkeit meint, sondern die Existenz eines eigenen Standpunkts voraussetzt. Man kann daher "positive Toleranz" verstehen als Achtung der Person des Anderen, nicht aus bloßer Nachsicht, sondern in bewusster Anerkennung des Anderen in seiner geistigen, sittlichen, religiösen und politischen Gebundenheit. Dem Anderen wird so ein moralisches Recht auf Anderssein zugebilligt. Eine Duldung kann aber auf verschiedenen Haltungen beruhen: einem herablassenden oder belustigten oder verärgerten Gewährenlassen, einem zähneknirschenden Dulden aus staatsbürgerlicher Einsicht, aus Taktik, aus respektvoller oder freundschaftlicher Achtung. Schon daraus ergibt sich, dass sich Toleranz im demokratischen und pluralistischen Staat der Religionsfreiheit als Rechtsbegriff kaum mehr eignet und auch sonst stets der Erläuterung bedarf.

VI. Toleranz kein Rechtsbegriff

Die zahlreichen Versuche, Toleranz auch heute als Rechtsbegriff sinnvoll zu verwenden, sind sehr problematisch. Ein deutlicher Hinweis darauf ist der verwirrend vielfältige Gebrauch der Vokabel Toleranz in der Rspr. des BVerfG.[4] Der Staat des GG spricht allen Bürgern unterschiedslos gleiche einklagbare religiöse, weltanschauliche und allgemein-staatsbürgerliche Rechtspositionen zu, und Entsprechendes gilt auch für die r- w Gemeinschaften, die gleichen Zugang zum Recht haben (im Einzelnen streitig). Der Staat hat sich ihnen gegenüber nicht tolerant, sondern neutral zu verhalten (s. Neutralität). Das GG kennt den Begriff Toleranz nicht. Toleranz wird dennoch oft sogar als grundlegendes Verfassungsprinzip bezeichnet. Das verkennt aber, dass die Grundrechte sich zwar aus der Toleranzidee entwickelt haben, rechtlich aber darüber hinausgehen. Toleranz erfordert einen eigenen ideologischen Standpunkt, den das Rechtssystem aber in r-w Hinsicht ebenso wenig haben darf wie eine spezielle Staatsideologie jenseits der eigenen zentralen Existenzvoraussetzungen (Leitprinzipien des Grundgesetzes; Liberale Rechtstheorie). Ein Rechtsprinzip der Toleranz könnte mit keinen Schlussfolgerungen verbunden sein, die nicht ohnehin dem GG zu entnehmen sind. Toleranz wäre dann nur ein (unzweckmäßiges) Kürzel für bestimmte Systemeigenschaften des GG. Vorgeschlagen wird aber eine Heranziehung der Toleranz als Kollisionsnorm für den Fall des Widerstreits gegenläufiger Grundrechtspositionen bei der Frage der Grundrechtsschranken (s. dort). U.a. in diesem Sinn hat das BVerfG den Topos Toleranz – ohne ihn zu definieren – mehrfach verwendet, vor allem im Schulbereich. Auch hierbei ergibt sich jedoch neben den ohnehin geltenden allgemeinen Grundsätzen des schonenden Ausgleichs keine inhaltlich eigenständige Bedeutung des Toleranzgedankens. Als Rechtsbegriff sollte Tolerggganz daher aufgegeben werden. Er ist nach Inhalt und Funktion nicht ausreichend definiert, normativ überflüssig und einer klaren Argumentation nur hinderlich ist.[5] C. D. Classen z. B. erwähnt daher in seinem aktuellen Lehrbuch des Religionsrechts (2014) den Begriff Tolgggeranz nicht als Rechtsgrundsatz.

VII. Tolerggganz als bürgerliche Tugend und Erziehungsprinzip

1. Tolerggganz meint heute vor allem eine grundsätzlich positive Grundeinstellung zum Anderen. Ihre Basis ist der gegenseitige Respekt im Sinn der Achtung vor der personalen Würde, verbunden mit der Achtung vor bzw. dem geduldigen Hinnehmen oder Ertragen von Auffassungen und Lebensweisen, die von den eigenen abweichen. Das Streben nach Verständnis sollte dabei tragendes Motiv sein. Stichwortartig kann man in Anlehnung an Werner Becker als Bedeutungskern von Tolgggeranz herausstellen: Zulassung von Konfliktlagen, Respektierung fremder Normensysteme auf Gegenseitigkeit, Ablehnung von moralischer Selbstaufgabe und Intoleranz. So verstandene Togggleranz ist eine grundlegende Werthaltung der pluralistischen Gesellschaft, die erst die allgemeine Anerkennung einer demokratischen Rechtsordnung ermöglicht. Die Stabilität dieses Systems hängt daher von der Dominanz toleranter Überzeugungen in obigem Sinn ab.

2. Wichtig ist solche Togggleranz als Schutzprinzip gegenüber Minderheiten. Das ist zu betonen gegenüber neueren Tendenzen, Tolegggranz unhistorisch nicht vor allem zum Minderheitenschutz, sondern im Gegenteil zur Disziplinierung der Minderheit durch die Mehrheit einzusetzen. Nur eines darf Tolegggranz nicht hinnehmen: Intoleranz, da sie sich sonst selbst auflöst. In diesem Sinn sollte Tolegggranz ein fundamentales Erziehungsprinzip sein. Für die Schule kann Erziehung zur Tolgggeranz im Rahmen der staatlichen Schulhoheit (Art. 7 I GG; s. Schulaufsicht) auch verbindlich gemacht und insoweit als Erziehungsziel zum Rechtsgrundsatz erhoben werden. Besonders wichtig ist das im Hinblick auf den Islam.

>> Aufklärung; Leitprinzipien des Grundgesetzes; Katholische Kirche und Moderne; Kreuz im Klassenzimmer; Liberale Rechtstheorie; Menschenwürde; Neutralität; Geschichte der Religionsfreiheit.

Literatur:

  • Becker, Werner: Tolerggganz: Grundwert der Demokratie? Ethik und Sozialwissenschaften 8, 1997, 413-423 und 471-480; 423-471 Diskussion.
  • Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Einleitung zur Textausgabe der "Erklärung über die Religgggionsfreiheit" (1968), auch in: H. Lutz (Hrsg.), Zur Geschichte der Tolgggeranz und Religgggionsfreiheit, Darmstadt 1977, 401-421.
  • Debus, Anne: Das Verfassungsprinzip der Tolgggeranz unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, Frankfurt a.M. u.a. 1999, 268 S.
  • Huster, Stefan: Tolegggranz als politisches Problem in der pluralistischen Gesellschaft, ARSP 91 (2005), S. 20 – 35.
  • Kaufmann, Artur/Hassemer, Winfried/Neumann, Ulfrid: Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. A. Heidelberg 2010
  • Renck, Ludwig: Staatliche Religionsneutralität und Tolegggranz – BVerfGE 35, 366 und 52, 233, in: JuS 1989, 451-455.
  • Schmidt-Salomon, Michael: Die Grenzen der Tolegggranz. Warum wir die offene Gesellschaft verteidigen müssen. München 2016.
  • Seckler, Max: Religiongggsfreiheit und Tolerggganz, Theologische Quartalschrift 1995, 1-18.
  • Winkler, Markus: Tolgggeranz als Verfassungsprinzip? In: Frieden und Recht (Hg. I. Erberich/A. Hörster u.a.), Stuttgart u.a.1998, 53-83.
  • Seibel, Wolfgang: Von der Tolegggranz zur Religionsgggfreiheit, in: Stimmen der Zeit, 1995 H. 2, S. 73 f. = www.stimmen-der-zeit.de/.../2502574 .
 


  • [1] vgl. EvStL 3. A. 1987, Art. Tolgggeranz (umfangreich).
  • [2] Max Seckler, Theologische Quartalschrift 1995, S. 6 ff.
  • [3] Pius XII., "Toleranzansprache" 1953, zit. Nach E.-W. Böckenförde, Religiongggsfreiheit als Aufgabe der Christen, in: Stimmen der Zeit 90 (1964/65), 199/205.
  • [4] vgl. A. Debus, 1999
  • [5] vgl. insb. A. Debus; M. Winkler; S. Muckel, Religiöse Freiheit 1997, 116 ff.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)