Soziologie

I. Kirchensoziologie
Der Kirchensoziologe Michael Ebertz nennt einige gesellschaftliche Fundamentalprozesse, die die deutsche religiöse Landschaft bestimmen. Die wachsende Differenzierung der Sozialstruktur (Wirtschaft, Wissenschaft, Recht usw.) bedeutet immer mehr Eigengesetzlichkeiten gegenüber der Religion. Damit einher geht eine individuelle Pluralisierung der Religion und somit der Verlust des kirchlich-religiösen Monopols. Der Pluralisierungsprozess hat auch die Kirchen selbst ergriffen, ihre Integrationskraft ist gesunken. Ebertz wörtlich: „Aus der Erosion ihrer Sozialform als Heils- und Gnadenanstalt und als Überzeugungsorganisation transformiert sich die Kirche zur Dienstleistungsorganisation. Kirche als caritative und rituelle Dienstleistungsorganisation an den Schwachstellen des Lebens entpuppt sich als die vorherrschende Sozialgestalt von Kirche...“.[1] Die Konfessionskirchen, so Ebertz weiter, haben ihre eigene Überlieferung relativiert mit der Folge fundamentalistischer Protestbewegungen. Die Frage, ob hierzulande die Religiosität nicht nur radikal in Bewegung geraten, sondern auch im Schwinden begriffen ist, wird von Religionssoziologen trotz der teilweise dramatischen statistischen Daten teilweise dahingehend beantwortet, dass sich die Religiosität nur wandele. Dabei fragt sich aber, inwieweit der schwierige Begriff „Religion“ sinnvollerweise ausgedehnt werden kann, ohne jede Kontur zu verlieren.

Trotz des nach wie vor enormen politischen Einflusses der Kirchen belegten die deutschen Kirchen nach einer Umfrage des Davoser "World Economic Forum" von 2002 von allen berücksichtigten Institutionen den 17. und letzten Platz, und das „in einem Land, dessen Verflechtung von Kirche und Staat im Westen ihresgleichen sucht“.[2]

Der gesamte Vorgang der Pluralisierung und Erodierung des tradierten christlichen Glaubens wird als Selbstsäkularisierung des Christentums bezeichnet und im Artikel „Säkularisierung“ näher erörtert.

II. Religionssoziologie

1. Aspekt der Religionswissenschaft
Die Religionssoziologie ist ein wichtiges Teilgebiet der Religionswissenschaft. Letztere beschäftigt sich umfassend mit dem Phänomen „Religion“, das freilich nicht genau definiert ist und von nichtreligiöser „Weltanschauung“ nicht sicher unterschieden werden kann. Aufgabe der Religionswissenschaft ist es, „Religion“ in Geschichte und Gegenwart weltweit, aber im Zusammenhang der jeweiligen Kultur auch ggf. kritisch in ihrer gesellschaftlichen Funktion zu beschreiben und zu analysieren. Die Sachverhalte dürfen dabei nicht nur religionsimmanent erklärt werden. Inhaltliche Religionskritik betreiben allerdings in Deutschland nur die wenigsten Religionswissenschaftler. Die Anfänge der Religionswissenschaft liegen in der Antike bzw. in Renaissance und Aufklärung. Ihre eigentliche Entwicklung erfuhr sie jedoch erst im 19. Jh. Lange erfolgte sie fast nur im christlichen Kontext und innerhalb der theologischen Fakultäten, häufig im Zusammenhang mit der Missionswissenschaft. Daher wurde die christliche Religion meist nicht nach denselben Kriterien kritisch untersucht wie die anderen Religionen. Noch heute dominiert in der deutschen Religionswissenschaft, auch soweit sie zunehmend mit gutem Grund auch außerhalb der Theologie betrieben wird, die Religionsgeschichte und das philologische Quellenstudium, wobei die antiken Religionen einen besonderen Schwerpunkt bilden. Am Rande gibt es Unterdisziplinen wie Religionspsychologie.

2. Empirische Sozialforschung
Davon setzt sich das Spezialgebiet der Religionssoziologie mit auch eigenständigen Methoden der empirischen Sozialforschung ab (Interviews, Statistiken und Analysen zu religiösen Überzeugungen und zu Verhaltensweisen). Die Religionssoziologie wird jetzt als Spezialgebiet der Soziologie anerkannt, innerhalb der sie lange nur eine Randexistenz hatte. Sie befasst sich mit den Funktionen der Religion im gesellschaftlichen Leben und erforscht auch die religiösen Institutionen, ihren Bezug zu Macht und Politik. Spezialgebiete innerhalb der Religionssoziologie sind die Bereiche Kirchen- und Religionsstatistik und Kirchensoziologie. Bei der allgemeinen Religionssoziologie spielt der Vorgang der Säkularisierung im Sinn der zunehmenden Verweltlichung aller Lebensbereiche, des allmählichen Schwindens des religiösen Glaubens und religiöser Praxis, eine besondere Rolle. Säkularisierung ist von dem z. T. synonym verstandenen Begriff Säkularisation sowie von Säkularismus und Säkularität abzugrenzen. Die Kirchen beklagen eine z.T. erhebliche Selbstsäkularisierung, die die Frage nach dem Warum der Erhaltung der Kirchenmitgliedschaft aufwirft. Vgl. zur Selbstsäkularisierung näher unter „Säkularisierung“, dort auch zu begrifflichen Fragen.

Aufklärung; Säkularisierung; Statistik; Theologie.
 
Literatur:

  • Religion, Staat, Gesellschaft (RSG). Zeitschrift für Glaubensformen und Weltanschauungen (Halbjahrsschrift, seit 2000; Hg. G. Besier und H. Seiwert; aktuelle Themen, vielfältig).
  • Bertelsmann Stiftung: Religionsmonitor 2013 (LINK)
  • Gabriel, Karl/Reuter, Hans-Richard: Religion und Gesellschaft. Texte zur Religionssoziologie. 2. A. 2010, 398 S. (UTB).
  • Knoblauch, Hubert: Religionssoziologie, Berlin 1999, 250 S. (Sammlung Göschen);
  • Krech, Volkhard: Religionssoziologie, Bielefeld 1999.
  • Ebertz, Michael N.: Kirche im Gegenwind. Zum Umbruch der religiösen Landschaft. 3. A. Freiburg i. Br. 1999, 189 S.
  • Feige, Andreas/Lukatis, Ingrid: Empirie hat Hochkonjunktur. Ausweitung und Differenzierung der empirischen Forschung in der deutschsprachigen Religions- und Kirchensoziologie seit den 90er Jahren – ein Forschungsbericht (mit ausführlicher Bibliographie), in: Praktische Theoggglogie 39, 2004,1,12-32.
  • Frerk, Carsten: Kirchenrepublik Deutschland. Kirchlicher Labbyismus. Asdchaffenburg 2015.
  • Graf Strachwitz, Rupert u.a. (Hrsg.): Kirche zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Berlin 2003.
  • Hurrelmann, K. /Albert, M.: Jugend 2006, 15. Shell Jugendstudie, 2006 (Fischer-Taschenbuch).
  • Klöcker, Michael: Katholisch – von der Wiege bis zur Bahre. Eine Lebensmacht im Zerfall? München 1991, 520 S. (zum Wandel der Frömmigkeitsvorstellungen).
  • Pickel, Gert / Jaeckel, Yvonne / Yendell, Alexander: Der Deutsche Evangelische Kirchentag - Religiöses Bekenntnis, politische Veranstaltung oder einfach nur ein Event? Eine empirische Studie zum Kirchentagsbesuch in Dresden und Hamburg. Baden-Baden 2015.
  • Pickel, Gert / Sammet, Kornelia: Religion und Religiosität im vereinigten Deutschland. Zwanzig Jahre nach dem Umbruch. Wiesbaden 2011.
  • Pollack, Detlef: Säkuggglarisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland, Tübingen 2003.
  • Pollack, Detlef/Pickel, Gert: Deinstitutionalisierung des Religiösen und religiöse Individualisierung in Ost- und Westdeutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziolgggogie und Sozialpsychologie 55, 2003, 447-474.
 


[1] M. Ebertz, Kirche im Gegenwind. 3. A. 1999, 147; zum Kirchenlobbyismus jetzt grundlegend C. Frerk, Kirchenrepublik Deutschland, 2015.
[2] vgl. Matthias Kamann in: Die Welt, 12. 11. 2002: „Unbeliebter als die Telekom“.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)