„Grundrechte im digitalen Raum: Darf die Regierung ihre Kritiker auf Facebook und Twitter blockieren?“ – Jacqueline Neumann in vorgänge Nr. 228

In der deutschen Debatte über die Grenzen der Meinungsfreiheit in sozialen Netzwerken geht es meist um Einschränkungen durch die privaten Netzwerkbetreiber oder die Schutzansprüche Dritter. In diesem Beitrag in vorgänge (Nr. 228, S. 91-98) schildert Jacqueline Neumann einen anders gelagerten Fall, bei dem der thüringische Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Die Linke) das ifw und weitere ihm unbequeme Follower blockierte. In der rechtlichen Bewertung kommt sie zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Sperrung um einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte handelte. Gesetzgeber und Gerichte müssten jetzt die Grundrechte auch im digitalen Raum stärken.

Twitter und Facebook sind die Agora des 21. Jahrhunderts. Nach jüngsten Erfahrungen können die Debattenverläufe auf diesen digitalen Plattformen eine wahlentscheidende Rolle spielen. Für die Verbreitung von politischen Ideen und die Teilhabe an der demokratischen Willensbildung ist daher zum Beispiel Facebook nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts von "überragender Bedeutung". Im "Neuland" der Kommunikation von staatlichen Stellen in den digitalen Medien und der dortigen Geltung der Grundrechte kommt es jedoch immer wieder zu Grundrechtsverletzungen durch Regierungsmitglieder.

So hatte 2019 der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Niels Annen (SPD), auf Twitter den Europakorrespondenten der Tageszeitung Jerusalem Post blockiert. Der Reporter hatte zuvor kritisch über Annens Auftreten bei einer Feier zum 40. Jahrestag der islamischen Revolution im Iran in der Botschaft in Berlin berichtet. Nachdem der Journalist mit einem Anwalt dem Staatsminister eine Abmahnung zugestellt hatte, hob der Staatsminister die Blockade des Reporters ohne Erklärung später wieder auf. Es zirkulieren im Internet unzählige Hinweise auf unrechtmäßige Nutzerblockaden. Einen Präzedenzfall gibt es jedoch in Deutschland bisher nicht.

Ebenfalls im Jahr 2019 sah sich das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) recht unversehens von einer Twitter-Blockade des thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Die Linke) betroffen.

Bei der juristischen Aufarbeitung traten vor allem zwei Punkte von übergeordneter Relevanz hervor, die auch für andere (zukünftig zu erwartende) Fälle hilfreich sein können:

a. Zuordnung des Twitter-Kontos als Kommunikationsmedium zur amtlichen Tätigkeit

b. Blockieren von Twitter-Nutzern durch einen Ministerpräsidenten als Eingriff in die Grundrechte

Bestätigt wird die Rechtsauffassung des Grundrechtseingriffs im digitalen Raum durch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages. Danach greift ein Ministerpräsident durch die Blockade bestimmter Beiträge oder Nutzer auf seinem Twitter-Konto neben der Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) in folgende Grundrechte ein:

  • die Meinungsfreiheit des Nutzers, da er Beiträge des Ministerpräsidenten nicht mehr kommentieren kann (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG);
  • das Recht auf gleiche Teilhabe an öffentlichen Leistungen und Einrichtungen (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG);
  • die Pressefreiheit, wenn der Nutzer Medienvertreter ist (Art. 5 Abs. 1 S. 2).

Die Twitter-Blockade des ifw durch Ministerpräsident Bodo Ramelow basierte weder auf einer gesetzlichen Regelung noch war sie verhältnismäßig. Weder erfolgten seitens des ifw strafrechtsrelevante Äußerungen noch Verstöße gegen eine Netiquette, sondern lediglich eine von der Meinungsfreiheit gedeckte sachliche Kritik an seiner Untätigkeit hinsichtlich der Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen. Mithin verletzte die Blockade die Grundrechte der Meinungs- und Informationsfreiheit und das Recht auf gleiche Teilhabe an öffentlichen Leistungen und Einrichtungen. Zudem war nach allgemeiner Wahrnehmung dieser Versuch des Debattenausschlusses und der Informationssperre durch einen Ministerpräsidenten in einer freiheitlichen Demokratie ein Skandal.

Wie sieht es in anderen Ländern mit freiheitlicher Rechtsordnung aus? In den USA klassifizierte ein Berufungsgericht im Juli 2019 Twitter-Blockaden des amerikanischen Präsidenten Donald J. Trump gegenüber Kritikern als Verstoß gegen die Meinungsfreiheit. Das US-Justizministerium hatte in dem Verfahren – erfolglos – argumentiert, dass Trumps Twitter-Konto bereits vor dem Amtsantritt eingerichtet worden sei und er die Sperrungen als Privatperson vornehme.

Nachdem das Gerichtsverfahren gegen Ministerpräsidenten Ramelow eingeleitet worden war, stellte das ifw bei einem routinemäßigen Check fest, dass er das ifw-Twitter-Konto still und wortlos wieder entsperrt hatte. Eine Stellungnahme in der Sache gibt es vom Ministerpräsidenten hierzu bis heute nicht. Er hat – trotz Nachfrage über das nunmehr wieder freigeschaltete Twitter-Konto – weder die Sperrung noch die Entsperrung begründet, was willkürlich anmutet. Er teilte lediglich zwischenzeitlich über Twitter mit, dass das Verwaltungsgericht den Rechtsstreit an das Amtsgericht verwiesen habe, weil der Ministerpräsident auf seinem Account auf staatliche Insignien verzichte und sich dort als "Mensch" bezeichne. Andere Nutzer, die ebenfalls von Ramelow gesperrt worden waren, nachdem sie den ifw-Artikel "Staatsleistungen auf ewig?" retweetet hatten, gaben an, nicht wieder entsperrt worden zu sein.

Die Entsperrung und Wiederherstellung der Grundrechte bewertet das ifw als Erfolg. Geschmälert wird dieser jedoch dadurch, dass eine Klärung der Grundrechtebindung eines Ministerpräsidenten und von Behörden in den digitalen Medien aufgrund der Entsperrung nun in diesem Fall auf juristischem Wege nicht mehr möglich ist. Es ist jedoch (leider) zu erwarten, dass es weitere Fälle zweifelhaften Verhaltens wie den von Staatsminister Annen und Ministerpräsident Ramelow geben wird, solange der Gesetzgeber und die Gerichte nicht die Grundrechte auch im digitalen Raum stärken.

Anmerkung in eigener Sache

Diese überparteiliche Arbeit des ifw führt immer mal wieder zu Konflikten, die wir im Sinne der gemeinsamen Sache (https://weltanschauungsrecht.de/leitbild) auszuhalten haben. Ein Beispiel: Als wir im Herbst 2018 die 27 Strafanzeigen in Sachen Sexualmissbrauch in der katholischen Kirche eingereicht und uns kritisch mit der Untätigkeit der Justizministerin Barbara Havliza (CDU) auseinandersetzten, lautete eine der ersten Reaktionen, dass unser Vorgehen parteipolitisch motiviert, gegen die Union gerichtet sei und aus der linken Ecke käme. Jetzt, wo wir gegen eine Grundrechtsverletzung eines linken Ministerpräsidenten vorgegangen sind, wurden Vorwürfe laut, dass wir mit der rechten Ecke gegen die Linken zusammenarbeiten würden. Durch die Links-Rechts-Thematik entsteht ein bedauerlicher Effekt: Die ursprünglichen Sachverhalte, unsere eigentlichen säkularen Anliegen, werden damit verdeckt. Ob bei Havliza oder Ramelow – beide Vorwürfe verschieben die Debatte weg von der Sachfrage hin zur Parteipolitik.

Da es erwartbar war, dass die Klage gegen einen Ministerpräsidenten als parteipolitisch motiviert etikettiert wird, hatten wir der Bekanntgabe der Klage folgende Stellungnahme der ifw-Leiterin Jacqueline Neumann beigefügt: "Unser Institut für Weltanschauungsrecht arbeitet politisch unabhängig und überparteilich. Es geht uns nicht um politische Stellungnahmen für oder gegen einzelne Politiker wie Ministerpräsident Ramelow (Die Linke). Es geht uns um den säkularen, weltanschaulich neutralen Staat des Grundgesetzes. Bei diesem Unterfangen kennen wir kein "Links" und "Rechts". Ich erinnere an unsere Kritik an all den politisch Verantwortlichen bei Bund und Ländern über das gesamte Parteienspektrum hinweg, deren Untätigkeit oder gar Irreführung bei der Aufklärung des kirchlichen Sexualmissbrauchssystems wir mit deutschlandweit 27 Strafanzeigen und IFG-Anfragen offengelegt haben. Oder an unsere Positionen beispielsweise zum Kreuzerlass des bayrischen Ministerpräsidenten Söder (CSU), zu den Islamunterricht-Plänen von NRW-Ministerpräsidenten Laschet (CDU) und Schulministerin Gebauer (FDP), zu christlich-fundamentalistischen Forderungen von Beatrix von Storch (AfD) bei Schwangerschaftsabbrüchen und Sterbehilfe, zu den Angriffen auf das Neutralitätsgesetz durch den Berliner Justizsenator Behrendt (Bündnis 90/Die Grünen) oder auch zu den im Lobbyismus der kirchlichen Finanzinteressen kaum mehr zu übertreffenden Staatsleistungen-Aussagen des SPD-Kirchenbeauftragten Castellucci MdB und des sächsischen Ministerpräsidenten Kretschmer (CDU)."

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