Rezension zu Norbert Lüdecke: Die Täuschung

Norbert Lüdecke, Die Täuschung. Haben Katholiken die Kirche, die sie verdienen?

Rezension von Prof. Dr. Hartmut Kreß, Bonn

Das Buch "Die Täuschung", verfasst von dem katholischen Kirchenrechtler Norbert Lüdecke, befasst sich ebenso kritisch wie kompetent mit den inneren Strukturen und mit der zwiespältigen Reformbereitschaft in der katholischen Kirche. Die kirchenkritische Intention wird bereits durch den Buchtitel signalisiert. In Presse und Medien ist das Buch breit aufgegriffen worden. Es hält die katholische Kirche strukturell für praktisch reformunfähig.

In aktueller Hinsicht geht das Buch auf den sogenannten synodalen Weg ein, den die deutsche katholische Kirche beschreitet, um den sexuellen Missbrauch von Kindern durch Priester und die Vertuschung dieser Vergehen und Straftaten durch die Kirche und ihre Bischöfe aufzuarbeiten. Zugleich soll der synodale Weg – ein mehrjährig tagendes Gremium, für das sich auf Reform drängende katholische Laien stark interessieren – sonstige Innovationen in Gang bringen, etwa zur Stellung von Frauen in der Kirche. Lüdeckes Buch entmythologisiert das Vorhaben. Ihm zufolge lassen sich die katholischen Bischöfe wie bereits bei früheren Gelegenheiten auf einen innerkirchlichen Dialog mit Laien ein, um sie zu beschwichtigen und um kritische Impulse amtskirchenkonform zu kanalisieren. Ohnehin ist es schon allein kirchenrechtlich ausgeschlossen, dass der synodale Weg Ergebnisse erbrächte, denen Verbindlichkeit zukäme (S. 162 ff., S. 240).

Um diese Einschätzung zu untermauern, greift das Buch recht weit aus. Es zeigt auf, in welchem Maß Kritik und Engagement der Laien in der katholischen Kirche seit den 1950er Jahren ins Leere gelaufen sind. Ausführlich erinnert es an die Würzburger Synode der Jahre 1972 bis 1975. Sie fand statt, weil die Bischöfe auf die Kirchenkrise reagieren wollten, die in Deutschland durch das päpstliche Verbot hormoneller Kontrazeptiva ("Pille") im Jahr 1968 ausgelöst worden war. Lüdecke hat das Kapitel über die Würzburger Synode unter die Überschrift gestellt: "Druckablass und Beruhigung" (S. 27). Die Überschrift enthält bereits die wesentliche Aussage: Die deutschen Bischöfe akzeptierten eine Synode als ein Forum, auf dem Laien ihre Kritik äußern konnten, um hiermit die innerkirchliche Aufregung aufzufangen. Damals wie heute wird den katholischen Laien zugestanden, gegenüber den Bischöfen Denkanstöße zu äußern. Ob sie Gehör finden, liegt allein im Ermessen der kirchlichen Hierarchie. Insofern handelt es sich – wie Lüdecke mit spitzer Feder schreibt – um einen "Dialog nach Hirtenart" (S. 137).

So scharfzüngig und pointiert viele Formulierungen des Buches ausfallen – keinesfalls handelt es sich um eine Kritik, die an der Oberfläche bliebe; im Gegenteil. Sie gewinnt ihr sachliches Fundament, indem das Buch die Vorgaben des katholischen Kirchenrechts oder die un- und antidemokratischen Verfahrensordnungen der Würzburger Synode oder des synodalen Wegs analysiert. Der populärwissenschaftlich angelegte Band enthält einen ausführlichen Anmerkungsteil mit Belegangaben.

Lesenswert ist Lüdeckes kritische Auseinandersetzung mit einer wichtigen Institution der katholischen Laien, nämlich dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK). Im Kern handelt es sich – so legt er dar – um eine Einrichtung der katholischen Amtskirche und der Bischöfe, die als Sprachrohr für die Öffentlichkeit und als Lobby gegenüber der Politik dient. In den 1950er Jahren ist das ZdK als "Prälatenkonzept zur Laieneinhegung" (S. 21) konstruiert worden. Es wird von der Bischofskonferenz finanziert und von ihr administrativ unterstützt, wodurch naheliegenderweise Abhängigkeiten entstehen (S. 24, S. 210). Sein Vorsitzender muss von den Bischöfen bestätigt werden. Lüdecke erinnert daran, dass sie von derartigen Aufsichtsrechten auch aktiv Gebrauch machen: Im Jahr 2009 bekundeten die Bischöfe, dass sie den hessischen Staatssekretär Heinz-Wilhelm Brockmann (CDU), der für den Vorsitz kandidieren wollte, nicht bestätigen würden. Brockmann hatte die katholische Laienorganisation Donum vitae befürwortet, von der die in § 219 StGB vorgesehenen Schwangerschaftskonfliktberatungen durchgeführt werden. Jegliche Mitarbeit bei Donum vitae war von der Amtskirche verboten worden. Die im Zentralkomitee der deutschen Katholiken organisierten katholischen Laien beugten sich den Bischöfen: "Das ZdK spurte artig, verschob die Wahl und wählte später mit Alois Glück (CSU) für sechs Jahre einen bischofsgenehmen Alternativkandidaten" (S. 120).

Interessant sind die Seitenblicke, die das Buch enthält, beispielsweise auf das Verhältnis zwischen den Bischöfen und der Amtskirche einerseits, der katholischen Theologie an staatlichen Universitätsfakultäten andererseits. Den Einfluss der akademischen Theologie auf die Amtskirche sollte man schon allein deshalb nicht überschätzen, weil sie von ihr unter Druck gehalten wird. Aufgrund von Lehrbeanstandungen sind zahlreiche katholische Theologieprofessoren aus den katholisch-theologischen Fakultäten entfernt worden (S. 84, S. 227). Für unbeteiligte Dritte ist Vieles kaum vorstellbar, was die katholische Kirche von Personen verlangt, die an staatlichen Institutionen tätig sind. So müssen sich Theologieprofessoren durch Treueid zum Gehorsam gegen die Lehren der Kirche verpflichten, bevor sie ihre Lehrtätigkeit an einer staatlichen Universität aufnehmen dürfen (S. 85).

Auf der Grundlagenebene macht Lüdecke auf einen wesentlichen Punkt aufmerksam. Die heutigen Auffassungen zur Menschenwürde und zu den individuellen Menschenrechten teilt die römisch-katholische Kirche nur begrenzt. Zwar akzeptiert sie religiös die gleiche Würde von Mann und Frau im Sinne ihrer Gleichwertigkeit. Anders als im modernen Rechtsstaat folgen für sie hieraus aber keine gleichen Rechte (S. 100, S. 179 f., S. 196). Innerkirchlich und kirchenrechtlich kommt den vom Staat verbürgten, in der Staatsverfassung abgesicherten Grundrechten keine Gültigkeit zu (S. 115). Hieraus erklärt sich z.B., dass Frauen minderen Rechtes sind. Der Zugang zum Priesteramt ist ihnen ohnehin dauerhaft versperrt, weil die katholische Kirche dies im Jahr 1994 lehramtlich für unabänderlich erklärt hat (S. 86).

Letztlich hält Lüdecke die katholische Kirche für substanziell kaum noch reformierbar. Wie auf diesen Befund zu reagieren ist, überlässt er den Leserinnen und Lesern seines Buches. Als Wege, doch noch Druck auf die Kirche auszuüben, nennt er den Kirchenaustritt, weil der Amtskirche hierdurch finanzielle Ressourcen entzogen werden, oder den Entschluss, sich ehrenamtlich statt kirchlichen vielmehr nichtkirchlichen Institutionen zur Verfügung zu stellen (S. 241 f.).

Nachdem das Buch erschienen war, wurden seine skeptischen Analysen zur fehlenden strukturellen Reformbereitschaft der Kirche erneut nachdrücklich bestätigt. Der Papst sah davon ab, Amtsträger, die in Deutschland durch unzulänglichen und vorwerfbaren Umgang mit dem Missbrauchsskandal belastet sind – etwa die Erzbischöfe Heße/Hamburg und Woelki/Köln – ihrer Ämter zu entheben. Ohnehin agiert der amtierende Papst Franziskus, auf den innerkatholisch hohe Reformerwartungen projiziert worden sind, in Vielem doppelzüngig und inkonsequent. Die Beispiele, die Lüdecke erwähnt (S. 173 f.), ließen sich ergänzen.

Insgesamt zielt das Buch auf kritische Aufklärung innerhalb des Katholizismus. Allerdings lässt es sich noch in eine weitere Richtung hin lesen und auswerten, nämlich bezogen auf die Staat-Kirche-Beziehung in der Bundesrepublik Deutschland. Die katholische Kirche wahrt Distanz zu Grund- und Menschenrechten und hat das Nichtdiskriminierungsgebot der staatlichen Rechtsordnung für sich nicht akzeptiert. Angesichts solcher Sachverhalte ist es unplausibel, dass die Bundesrepublik Deutschland der Kirche in so hohem Maß Privilegien sowie in die Gesellschaft hineinreichende Entscheidungsbefugnisse einräumt, wie es noch immer der Fall ist, etwa im Arbeitsrecht oder im Bildungs- und Wissenschaftsbereich.

Link zum Buch

Norbert Lüdecke, Die Täuschung. Haben Katholiken die Kirche, die sie verdienen? Darmstadt 2021, 304 Seiten, ISBN 978-3-8062-4353-6, EUR 20,-