Weltanschauliche Neutralität

I. Worum es geht

1. Bei diesem die gesamte öffentliche Gewalt in Bund und Ländern betreffenden bundesrechtlichen Verfassungsgebot, das unabhängig von persönlichen Grundrechten gilt, handelt es sich um einen wesentlichen Aspekt des Gleichheitsgrundsatzes. Die religiös-weltanschauliche Neutrgggalität ist zwar kein Begriff des Verfassungstextes, jedoch mit dem BVerfG normativ abzuleiten aus den Art. 3 III, 4 I, 33 III GG und Art. 136 I, IV WRV sowie Art. 137 I und VII WRV i.V.m. Art. 140 GG.[1] Neutralität ist demnach kein bloßes Prinzip im Sinn einer allgemeinen Richtschnur, von der nach politischen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten durch Gesetz abgewichen werden könnte. Es ist vielmehr ein striktes Gebot des deutschen Religionsverfassungsrechts und bedeutet schlicht religiös-weltanschauliche Unparteilichkeit. Das Neutralitätsgebot ist ein aus den o.g. Vorschriften destillierter, unterschiedliche Aspekte in einer Kurzformel zusammenfassender Begriff, der im Einzelnen seine Konturen jeweils erst durch die Anwendung der unmittelbaren Vorschriften des GG bzw. der WRV auf sehr unterschiedliche Sachverhalte erhält. Da geht es um die Anwendung des Allgemeinen Gleichheitssatzes, Art. 3 I GG.

2. Staatstheoretisch begründet der Neutralitätsgedanke – in Ablehnung des sich religiös definierenden Staats – den Übergang vom Glaubensstaat zum modernen Staat der Religionsfreiheit. Zugrunde liegt die Philosophie der Aufklärung sowie der Rechtsliberalismus, demzufolge in einem modernen demokratischen Verfassungsstaat das öffentliche Verständnis von Gerechtigkeit möglichst von kontroversen philosophischen und religiösen Lehren unabhängig sein sollte. Das Rechtssystem darf nicht metaphysisch begründet sein. Das ist unter Juristen verbal unbestritten (s. näher Liberale Rechts- und Staatstheorie). Diese Ansicht stimmt auch weitgehend mit dem innerkirchlich völlig revolutionären Konzept der Religionsfreiheit des II. Vatikan. Konzils (Declaratio de libertate religiosa, 1965) überein.

3. Das Neutralitätsgebot ist zwar verbal in seiner für das Religionsverfassungsrecht systemtragenden Bedeutung allgemein als Gebot der Unparteilichkeit anerkannt, wird aber praktisch von konservativer Seite in Politik und auch Rspr. manchmal bis zur Unkenntlichkeit reduziert, ja sogar ins Gegenteil verkehrt. Das sieht man an von Staats wegen angebrachten Kreuzen/Kruzifixen in Klassenzimmern öffentlicher Schulen, ja sogar in öffentlichen Räumen von Kommunen und Gerichten (dazu näher in den einschlägigen Artikeln).

II. Neutraggglität im Einzelnen
1. Das Neutralitätsgebot des GG meint zunächst ganz allgemein, dass der Staat als solcher, abgesehen von normativen Ausnahmen im Schulwesen (vgl. Art. 7 GG), keine Religion oder Weltanschauung hat (Grundsatz der Nichtidentifikation). Seine „Ideologie" ergibt sich aus seinen eigenen zentralen Existenzbedingungen (Grundrechte, freier geistiger Prozess, Völkerfreundschaft usw.; s. Grundgesetz, Leitprinzipien). Daher hat die Rechtsprechung, insbesondere auch das BVerfG, jede einseitige politische oder religiös-weltanschauliche Einflussnahme in öffentlichen Schulen mehrfach und unangefochten untersagt (s. Glaubensfreiheit). Der Sache nach geht es entsprechend dem allgemeinen Wortsinn um Folgendes: „Generell bedeutet Neutgggralität Enthaltung von Parteilichkeit und Parteinahme des Staates hinsichtlich der plural existierenden und konkurrierenden Richtungen des religiösen und weltanschaulichen Spektrums der freien, offenen Gesellschaft"[2]

2. Zu unterscheiden sind zwei Arten von Neutneutralitätralität: zum einen das Gebot der strikten, distanzierenden Neutralität im Bereich der unmittelbaren staatlichen Grundfunktionen (z.B. Justiz) und zum anderen die pluralistisch-offene Neutralität, wobei die öffentliche Hand religiös-weltanschauliche Belange im Hinblick auf die gesellschaftliche Situation aller wesentlichen religiös-weltanschaulichen Richtungen diskriminierungsfrei berücksichtigen darf. Distanzierende Neutgggralität bedeutet die Ausklammerung religiös-weltanschaulichen Fragen, da sie den Staat bei der Ausübung von Hoheitsfunktionen nichts angehen. Demzufolge dürften in Gerichtssälen keine religiösen Symbole hängen und auch nicht in Ratssälen, sofern es sich nicht um unverzichtbare Bestandteile von Kunstwerken oder Baudenkmälern handelt. Dabei kann es wegen des objektiv-rechtlichen Gehalts des Neutralitätsgebots nicht erst darauf ankommen, ob sich ein Betroffener auf seine Religionsfreiheit beruft. Dagegen wird bekanntlich in mehreren Bundesländern massiv verstoßen (s. näher Kreuz in Amtsräumen).

3. Im Übrigen gibt es zahlreiche ungeklärte Fragen, besonders auch bei der finanziellen Religionsförderung (Beispiele: Darf der Staat auch rein innerreligiöse Einrichtungen wie Priesterseminare und Kirchentage fördern? Wie ist es bei Bildungseinrichtungen? Pfarrheimen mit Jugendräumen? Sozialen Einrichtungen? Sind bei der Förderung Differenzierungen etwa nach der Größe und sozialen Bedeutung der Gemeinschaft zulässig? Ggf. nach welchen Einzelkriterien? Wie ist es mit der Vergleichbarkeit von Einrichtungen verschiedener Träger?) Solche Fragen werden jedoch zum Vorteil der großen Kirchen meist gar nicht erst gestellt.

III. Schule, religiöse Symbole und Kleidung
1. Dieser Bereich ist besonders umstritten (s. den Überblick unter Schule und Religion). Die Schulen öffnen sich dem gesellschaftlichen Bereich, so dass dort Religion und Weltanschauung thematisch nicht ausgeklammert zu werden brauchen und das sogar dem Geist des GG widerspräche. Der Staat darf auch den Unglauben nicht privilegieren. Bei unbefangener Betrachtung nach dem objektiven Neutralitätsgebot kann es gar keine Frage sein, dass der Staat generell nicht die Kompetenz hat, in öffentlichen Gebäuden (nur) spezifische religiöse Symbole anzubringen: weder in Schulen, noch erst recht in Gerichten und Ratssälen. Zu einer Konkurrenz gegenläufiger Grundrechte kommt es dabei in keinem Fall. Niemand hat einen Rechtsanspruch auf Etablierung des Symbols gerade seiner Religionsgemeinschaft, wie sich auch aus dem berühmten Kruzifix-Beschluss des BVerfG vom 16.5.1995 klar ergibt. Die unsäglichen bayerischen Kämpfe um das Kreuz in der Schule dürfte es – auch wegen der Bindung der staatlichen Organe an die tragenden Gründe der genannten Entscheidung des BVerfG – eigentlich nicht geben (s. Kreuz im Klassenzimmer).

2. Eine merkwürdige Verkehrung der Fronten zeigt sich in der Frage der Zulässigkeit des Tragens islamischer Kopftücher durch muslimische Lehrerinnen. Die eifrigsten Befürworter des Schulkreuzes plädierten i.d.R. gegen das Kopftuch, und zwar aus Gründen der Neutralitätsverpflichtung der Lehrer. Das ist nicht nur denkbar unehrlich, sondern vermischt auch die juristischen Ebenen. Im einen Fall verstößt der Staat gegen das Neutralitätsgebot, im anderen (wenn überhaupt) die Lehrerin als Person. Lehrer haben eine Doppelfunktion: in der Schule sind sie Amtsträger und Privatperson. Grundrecht und Beamtenrecht sind daher gegeneinander abzuwägen. Dabei wird man auch berücksichtigen müssen, dass das Islamische Kopftuch ein mehrdeutiges Symbol darstellt im Gegensatz zum völlig eindeutigen Kreuz. Es wird aus recht unterschiedlichen Motiven getragen und lässt sich nicht auf Islamismus, ein Symbol der Frauenunterdrückung oder religiöse Demonstration festlegen. Hierzu und zu ihrer beamtenrechtlichen Neutralitätsverpflichtung kann sich die Lehrerin auch klar äußern. Es sollte daher, wie auch das BVerfG 2003 mehrheitlich (wenn auch umstritten) festgestellt hat, jeweils auf die Einzelfallbeurteilung ankommen, wenn keine neutrale gesetzliche Regelung vorliegt. Nach Erlass von „Kopftuchgesetzen“ in der Hälfte der Bundesländer und der Rechtsprechungsvolte des BVerfG im Jahr 2015 ist diese Problematik aber noch nicht ausgestanden (s. Islamisches Kopftuch).

IV. Schlussbemerkung
Das zentrale Verfassungsgebot der religiös-weltanschaulichen Neutrgggalität ist auch nach über 65 Jahren GG immer noch stark umstritten. Vereinzelt wird er sogar als überflüssig oder unrealistisch abgelehnt. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass das Neutralitätsgebot eine solide normative Grundlage hat (s. oben I 1). Im Einzelfall immer nur anhand dieser Normen zu argumentieren, weil das Neutralitätsgebot nicht als Übergebot verselbständigt werden darf. Es hat seine Bedeutung als verfassungsrechtliches Kürzel und Kennzeichnung eines objektiv-verfassungsrechtlichen Grundprinzips. Leider wird kein anderes Fundamentalgebot des GG in der Rechts- und Staatspraxis so stark missachtet wird (s. Privilegien der Kirchen).

Auf die eingehende Darstellung bei Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht (2008) und die Literaturhinweise wird besonders verwiesen.

>> Kopftuch; Kreuz im Klassenzimmer; Kreuz in Amtsräumen; Liberale Rechtstheorie; Privilegien; Regelschulproblematik; Religionsförderung; Schularten.

Literatur:

  • Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Religion im säkularen Staat, Universitas 1996,990-998.
  • Busse, Elmar Wolfgang Walter: Das Prinzip staatlicher Neugggtralität und die Freiheit der Religionsausübung: Eine Analyse der Rechtsprechung zum ethisch-religiösen Neutralitätsgebot. Frankfurt 2013.
  • Czermak, Gerhard: Religions- und Weltanschauunggggsrecht, 2008, S. 85-97.
  • Czermak, Gerhard: Zur Rede von der religiös-weltanschaulichen Neutrgggalität des Staats, NVwZ 2003,949-953.
  • Heinig, Hans Michael: Verschärfung der oder Abschied von der Neutraggglität? JZ 2009, 1136-1140.
  • Huster, Stefan: Neutrgggalität ohne Inhalt? Zu Hans Michael Heinig JZ 2009, 1136 ff., in: JZ 2010, S. 354–357
  • Huster, Stefan: Die religiös-weltanschauliche Neutrgggalität des Staates. Das Kreuz in der Schule aus liberaler Sicht. In: Brugger, W./Huster, S. (Hg.): Der Streit um das Kreuz in der Schule, 1998, 69-108 (schwerpunktmäßig eine rechtsphilosophische Begründung des Neutralitätsliberalismus).
  • Nolte, Achim: Der richtige Weg von der „versorgenden" zur „vorsorgenden" Neutgggralität. Die bayerischen Schulkreuze auf dem Prüfstand des BVerwG. NVwZ 2000,891-894
  • Renck, Ludwig: Die unvollkommene Parität, DÖV 2002,56-67.
  • Schlaich, Klaus: Konfessionalität - Säkgggularität - Offenheit. Der christliche Glaube und der freiheitlich-demokratische Verfassungsstaat. In: ders.. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1997, 423-447. Erstveröff. in T. Rendtorff (Hrsg.), Charisma und Institution, Gütersloh 1985, 175-198 (grundlegend).
 


[1] BVerfGE 19, 206/216.
[2] M. Heckel, DVBl 1996, 453/472.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)