Embryonenschutz

I. Situation in Deutschland
Der Problemkomplex Embryonenschutz ist ein heftig diskutierter Teilbereich der Bioethik. Unter menschlichen Embryonen versteht man den Keimling in den ersten drei Monaten, und zwar laut Definition des deutschen Embryonenschutzgesetzes (EschG) von 1990 ab der Befruchtung, d. h. der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Danach spricht man von Feten bzw. Föten. Das ESchG mit seinen 13 sehr detaillierten und folgenreichen Paragrafen, die ohne spezielle biologisch-medizinische Kenntnisse bzw. Spezialliteratur nur teilweise verständlich sind, will u. a. eine missbräuchliche Anwendung von Fortpflanzungstechniken und eine missbräuchliche Verwendung menschlicher Embryonen verhindern und droht Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren an. Der Grund für diese weltweit wohl strengste Regelung dieser Art ist dem Gesetzestext nicht zu entnehmen. Darauf und auf ethische und verfassungsrechtliche Fragen wird noch einzugehen sein.
In ebenso erbitterten wie weitgehend irrationalen öffentlichen und Fachdiskussionen zwischen Juristen, Medizinern, Biologen, Theologen, Philosophen und Politikern (quer durch die Parteien) wurden Begriffe verwendet wie embryonale Stammzellen, adulte Stammzellen, verbrauchende Embryonenforschung, Import totipotenter Zellen, Präimplantationsdiagnostik, therapeutisches Klonen, Menschenwürde, Selektionsgefahr, Doppelmoral und etliche andere. Es besteht ein enger Zusammenhang mit dem Problem Schwangerschaftsabbruch. Betroffen sind Grundfragen unserer Rechtsstaatlichkeit und der Verfassungstheorie. Die Fachliteraturen sind uferlos. Es gibt gegenseitige, teilweise hässliche, Vorwürfe verfassungswidrigen Verhaltens. Da tun klare Begrifflichkeit und Fakten-Grundwissen not.

II. Zur Frage des Embryonenmissbrauchs
1. Was heißt nun missbräuchliche Verwendung von Embryonen und warum? Schutzgut ist nach § 8 EschG neben dem Embryo selbst grundsätzlich auch „jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle“. Das sind vollständig entwicklungsfähige embryonale Stammzellen. Stammzellen sind undifferenzierte Zellen, die keinem speziellen, endgültigen Zelltyp angehören und durch Teilung weitere identische Zellen erzeugen. Diese Tochterzellen können auf Grund ihres genetischen Programms und weiterer Faktoren zu bestimmten Zelltypen differieren. Bei Embryonen der Säugetiere einschließlich des Menschen kann bis zum Acht-Zellen-Stadium aus jeder dieser Zellen ein vollständiger Organismus hervorgehen. Deshalb werden diese Zellen als totipotent oder omnipotent (zu allem fähig) bezeichnet. Von ihnen zu unterscheiden sind die Stammzellen des folgenden Stadiums vor der Einnistung (Nidation) des befruchteten Eies (Embryos) in die Gebärmutter. In dieser „Präimplantationsphase“ lassen sich die Zellen seit 1978 auch im Labor („in vitro“) unbegrenzt vermehren. Aus diesen Zellen kann sich zwar kein vollständiger Organismus mehr entwickeln, aber es lassen sich aus diesen embryonalen Stammzellen (ES-Zellen) alle Gewebe- und Zelltypen entwickeln (differenzieren). Diese ES-Zellen sind also pluri- oder multipotent. Beim Erwachsenen erfolgt der stets notwendige Nachschub organspezifischer Zellen durch adulte Stammzellen, da eine bereits vollständig ausdifferenzierte Zelle (beispielsweise Blut- oder Nervenzelle) kaum noch eine oder keine Fähigkeit zur Zellteilung besitzt. Diese adulten Stammzellen sind im erwachsenen Organismus an verschiedenen Orten anzutreffen (z. B. Knochenmark, Gehirn, Darm). Solche adulten Stammzellen eines Organsystems können u. U. auch Zellen eines anderen Organsystems erzeugen. Daraus hat sich für das therapeutische Klonen (Forschung an vervielfältigten identischen Zellen zu Heilzwecken) der Streit darum ergeben, ob es ggf. technisch überhaupt notwendig ist, statt adulten Stammzellen ES-Zellen zu verwenden. Die Forscher bevorzugen weltweit die Forschung an den pluripotenten ES-Zellen, was Vertreter eines rigiden Embryonenschutzes unbedingt verhindern wollten. Dagegen wehrten sich die ins Hintertreffen geratenen deutschen Forscher, was zu einer Novellierung des Stammzellgesetzes führte (s. unten).

2. Das ESchG verbietet, im Gegensatz zu vergleichbaren Staaten, in § 2 fast vollständig die Gewinnung embryonaler Stammzellen in Deutschland, denn missbräuchlich sei eine Verwendung „zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck“. Die Gewinnung von ES-Zellen vernichtet aber den Embryo. Embryonen dürfen daher nur zum Zweck der künstlichen Befruchtung erzeugt werden. Im Ergebnis besteht nach dem ESchG ein Forschungsverbot an ES-Zellen und totipotenten Zellen. Insoweit ist für deutsche Forscher nur Forschung im Ausland durch Beteiligung an ausländischen Projekten möglich. Im Inland ist nur Forschung mit adulten Stammzellen eindeutig erlaubt. Das ESchG verbietet die Einfuhr totipotenter Zellen. Überwiegend wurde auch die Einfuhr pluripotenter Stammzellen für verboten erachtet, was aber teilweise im Hinblick auf den definierten Schutzzweck des ESchG bestritten wurde.

III. Insbesondere: Stammzellgesetz
1. Gesetzeszweck und Entstehung
Am 25. 4. 2002 verabschiedete der Bundestag nach zahllosen öffentlichen Erregungen und einer großen Parlamentsdebatte das am 1. 7. 2002 in Kraft getretene Stammzellgesetz – StZG. Es regelt ergänzend die Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen. § 1 StZG lautet:
„Zweck dieses Gesetzes ist es, im Hinblick auf die staatliche Verpflichtung, die Menschenwürde und das Recht auf Leben zu achten und zu schützen und die Freiheit der Forschung zu gewährleisten, 1. die Einfuhr  und die Verwendung embryonaler Stammzellen grundsätzlich zu verbieten, 2. zu vermeiden, dass von Deutschland aus eine Gewinnung embryonaler Stammzellen oder eine Erzeugung von Embryonen zur Gewinnung embryonaler Stammzellen veranlasst wird, und 3. die Voraussetzungen zu bestimmen, unter denen die Einfuhr und die Verwendung embryonaler Stammzellen ausnahmsweise zu Forschungszwecken zugelassen sind.“
Das Gesetz geht auf einen fraktionsübergreifenden Entwurf zurück[1], ist im Hinblick auf Forschungsmöglichkeiten sehr restriktiv und galt von Anfang an im Hinblick auf die Rasanz des wissenschaftlichen Fortschritts im Ausland als voraussichtlich nur von kurzer Dauer. Und so wurde 2008 durch eine Gesetzesnovelle der Import-Stichtag vom 1. 1. 2002 auf den 1. 5. 2007 verschoben, weil die Forschung ansonsten im Vergleich zum Ausland unvertretbar behindert, wenn nicht unmöglich gemacht würde.

2. Fundamentale Widersprüche
Im Gegensatz zum ESchG gibt der Text des StZG einen deutlichen Hinweis zumindest auf das vordergründige gesetzgeberische Motiv. Wenn von Menschenwürde und Lebensschutz die Rede ist, kann das demnach angesichts des Regelungsgegenstands nur bedeuten, dass Embryonen zumindest grundsätzlich der Rechtsstatus von geborenen Menschen zuerkannt wird. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Beseitigung der Leibesfrucht bis zur Nidation (14. Tag nach Befruchtung) nach § 218 StGB nicht einmal unter den Begriff Schwangerschaftsabbruch fällt und gemäß § 218 a StGB nach ordnungsgemäßer Beratung die Schwangerschaft bis zu 12 Wochen nach Empfängnis durch einen Arzt sanktionslos beendet werden darf. Juristisch ist unbestreitbar, dass die Regelungen zum Embryonenschutz und zum Schwangerschaftsabbruch erhebliche Wertungswidersprüche und Ungereimtheiten aufweisen und dass fundamentale verfassungsrechtliche Fragen äußerst umstritten sind. Die Gesellschaft ist in diesen Fragen erheblich „liberaler“ als die Gesetzgebung, und die Gründe dafür liegen in kaum überbrückbaren ideologischen Gegensätzen. Die gesetzlichen Forschungsverbote stehen im Übrigen in Konflikt zur Freiheit von Wissenschaft und Forschung (Art. 5 III GG), und hierbei kennt das GG bekanntlich keine förmlichen Schranken. Eine Einschränkung der Forschungsfreiheit bedürfte daher einer Abwägung mit verfassungsunmittelbaren Rechtsgütern.

IV. Probleme einseitiger ideologischer Argumentation
1. Ungereimte Ergebnisse beruhen meist auf falschen Ausgangspunkten. Verfassungsrechtlich liegt die Primärursache der Kalamitäten im seinerzeit zu Recht juristisch stark kritisierten ersten Urteil des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch von 1975 (dazu näher der einschlägige Artikel). Die Vertreter der lautstarken und aggressiven Minderheit eines rigorosen embryonalen Lebensschutzes benutzen die (reichlich widersprüchliche) Rspr. des BVerfG selektiv wie einen verbalinspirierten unantastbaren Text. Damit bekräftigen sie ihre apodiktische Behauptung, das beginnende menschliche Leben sei ab der Verschmelzung von Samen- und Eizelle „absolut“ schützenswert. Ihr Leitspruch lautet: Das befruchtete Ei hat volle Menschenwürde. Damit wird u. a. der Forschung zum therapeutischen Klonen eine Absage erteilt. Dabei erhofft man sich Behandlungsmöglichkeiten etwa für das Parkinson-Syndrom, für Herzinfarkte, Diabetes mellitus und viele andere Krankheiten. Auch geht es um einen Ausweg aus der Tatsache, dass es bei der Transplantation von Körperteilen häufig zu Abstoßungsreaktionen kommt und überdies ein Mangel an Spenderorganen zu schwer kriminellen Entgleisungen führt.
Die Wahrscheinlichkeit, in absehbarer Zukunft viele Menschen heilen zu können durch Klonierung (Vervielfältigung) eigener Körperzellen und Züchtung von Gewebe, u. U. sogar von Ersatzorganen, ist nicht gering. So wies z. B. die Molekularbiologin und Nobelpreisträgerin Nüsslein-Volhard[1] darauf hin, dass die besonderen Eigenschaften der ES-Zellen „für die Forschung einzigartige Möglichkeiten“ böten. So lässt sich mit Hilfe bestimmter Faktoren die Bildung bestimmter Zelltypen stimulieren und die anderer unterdrücken. Auch kann man fremde Gene in ES-Zellen einschleusen.[2] Ein Forschungsverbot läuft nach hier vertretener Auffassung auf eine Doppelmoral hinaus, die zudem den Standort Deutschland schädigt. Denn ein Verbot, ausländische positive Forschungsergebnisse zur Heilung deutscher Bürger einzusetzen, wird sich nicht durchsetzen lassen. Daher hat auch das StZG, inkonsequent und ebenfalls unehrlich, zumindest sehr restriktiv zu erteilende Ausnahmen ermöglicht.

2. Die These von der Menschenwürde befruchteter Eizellen, die eine Größe von nur 1/1000 mm aufweisen, mag auf die meisten, jedenfalls viele Bürger befremdlich oder gar lächerlich wirken; dennoch wird sie von überaus zahlreichen, z. T. sehr renommierten Juristen, Medizinern, Theologen und besonders Politikern (zumindest verbal) geteilt. Solche von der Mehrheit der Einwohner als fundamentalistisch bezeichneten Ansichten werden von den Befürwortern aber bitterernst genommen. Die Ursachen sind meist religiöser Natur und beruhen hauptsächlich auf der i. d. R. unausgesprochenen Überzeugung von der göttlichen Beseelung des Menschen mit einer unsterblichen Seele bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Diese theologisch erst seit dem 19. Jh. stark propagierte These wird vor allem von der katholischen Amtskirche vertreten. Näheres hierzu unter Schwangerschaftsabbruch.

Die Fachdiskussionen behandeln durchwegs nur eher vordergründige Argumente philosophischer und biologischer Natur. Selbst der Katechismus der Kath. Kirche von 1993 (Weltkatechismus) geht auf die theologiehistorisch entscheidende Lehre von der „Simultanbeseelung“ (offiziell seit 1869; s. näher bei der Erörterung des Schwangerschaftsabbruchs) gar nicht mehr ein. Im Weltkatechismus von 1993 heißt es im Abschnitt zur Abtreibung unter Bezugnahme auf nur wenige Bibelzitate (keines aus dem Neuen Testament): „Das menschliche Leben ist vom Augenblick der Empfängnis an absolut zu achten und zu schützen. Schon im ersten Augenblick seines Daseins sind dem menschlichen Wesen die Rechte der Person zuzuerkennen, darunter das unverletzliche Recht jedes unschuldigen Wesens auf das Leben“ (Nr. 2270). Und weiter: „Da der Embryo schon von der Empfängnis an wie eine Person behandelt werden muss, ist er wie jedes andere menschliche Wesen im Rahmen des Möglichen unversehrt zu erhalten, zu pflegen und zu heilen (Nr. 2274). Und weiter: „Es ist unmoralisch, menschliche Embryonen zum Zweck der Verwertung als frei verfügbares ‚biologisches Material’ herzustellen“ (Nr. 2275 = Donum Vitae 1,5.). Eine Begründung fehlt.

3. Für die These der Menschenwürde von Embryonen werden im Übrigen in der öffentlichen Diskussion verschiedene Gründe angegeben. Wenn etwa gesagt wird, mit der Beseitigung eines noch so winzigen Embryos werde in die Schöpfung eingegriffen, so kann das aber zum einen Nicht- oder Andersgläubige nicht überzeugen, zum anderen ist das Argument widersprüchlich. Denn die ganze menschliche Kultur einschließlich der steten Erforschung neuer Heilmethoden ist ein einziger Eingriff in „die Schöpfung“, ohne dass man das schon im Grundsatz beanstandet. Im Übrigen sind gerade dogmatisch Religiöse beim geborenen Leben oft wenig zimperlich (Todesstrafe, Krieg, Durchsetzung ihrer Interessen).

Die bloße Zugehörigkeit zur Gattung Mensch statt zu einer anderen Säugetiergattung oder die Rassenzugehörigkeit ist für sich genommen kein moralisches Argument für oder gegen ein Tötungsverbot. Die Potentialitätsthese besagt, das menschliche Leben sei ab Kernverschmelzung genetisch programmiert und daher eine „Person“, die das Potential enthält, sich zu einem Menschen zu entwickeln. Dabei wird verkannt, dass das genetische Programm erst mit der Nidation (s. o. III 2) vollständig ist. Erst jetzt sind die Zelltypen Placenta und Embryo getrennt. Selbst ohne menschlichen Eingriff entwickeln sich nur etwa 10 % der befruchteten Eizellen zu einem Menschen. Vor der Nidation kann sich der Embryo im Übrigen auch noch teilen. Potentialität und ähnliche Argumente, zu denen auch das von der kontinuierlichen Entwicklung bis zur Geburt zählt (so insb. das BVerfG), sind Scheinargumente. Denn biologische (wie auch sonstige) Fakten allein sind niemals ein Argument für die Ansicht, die Rechtsordnung dürfe keine eigenständige rechtliche Bewertung vornehmen. Als Rechtsordnung muss sie es definitionsgemäß. Im Streitfall bietet sich die Anerkennung verschiedener Stufen der Schutzwürdigkeit an. Eine rechtliche Stufung entspricht nicht nur dem weit überwiegenden Rechtsempfinden in unserer Gesellschaft, sondern sie ist geltendes Recht. Selbst nach der Rspr. des BVerfG ist der Embryo in den ersten 2 Wochen völlig ungeschützt und bis zum Ende der 12. Woche ist eine Beendigung der Schwangerschaft („Abtreibung“) rechtlich ohne große formale Hindernisse möglich.

4. Würde die Rechtsordnung der religiösen Forderung einer Minderheit auf Totalschutz der befruchteten Eizelle nachkommen, müsste auch die künstliche Befruchtung verboten werden. Denn selbst das rigorose ESchG lässt in § 1 zu diesem Zweck (notwendig) die Befruchtung von drei Eizellen zu, von denen zwei i. d. R. zum Absterben verurteilt sind. Die (biblisch nicht begründbare) Überzeugung von der schon mit dem befruchteten Ei verbundenen unsterblichen Seele eines nach dem „Bild Gottes“ geschaffenen Menschen mag zwar für insoweit Gläubige ein Gewissensproblem darstellen. Sie werden aber rechtlich nicht zu Gewissensverstößen genötigt und können nicht fordern, die Rechtsordnung müsse der Mehrheit Andersdenkender ihre Sondermeinung aufzwingen. Eine religiöse Begründung entsprechender Gesetze würde die Verfassungsordnung auf den Kopf stellen (s. Grundgesetz, Leitprinzipien). Eine neutrale, allgemein als hinnehmbar anzusehende Begründung für einen Totalschutz ist nicht ersichtlich. Es kommt hinzu, dass, wie gesagt, bei einem rigorosen Verbot die nach den Erkenntnissen der Biomedizin erhebliche Chance der Entwicklung neuer Heilmethoden durch therapeutisches Klonen vergeben würde. Nicht nachvollziehbar wäre der totale embryonale Schutz auch deshalb, weil sich der Embryo bis zur Nidation noch mehrfach teilen und u. U. sogar wieder zu einem Embryo vereinigen kann. Das Schicksal der Seelen wäre reichlich unklar, selbst wenn man von der Existenz eines Schöpfergottes ausginge.

V. Präimplantationsdiagnostik
1. Ungeachtet dessen gab es ausgerechnet im Zusammenhang mit der Verabschiedung des StZG im stark säkularisierten Deutschland vor und nach 2002 eine breite und vielfach unerhört aggressive Diskussion um die Zulässigkeit der Präimplantationsdiagnostik (PID; engl.: PGD). PID ist eine diagnostische Maßnahme, bei der Mediziner Embryonen, die künstlich im Reagenzglas gezeugt wurden (In-vitro-Fertilisation), einige wenige Zellen entnehmen, um sie nach den ersten Zellteilungen auf genetische Defekte zu untersuchen. Das betrifft in Deutschland nur sehr wenige Menschen. Bei Nachweis einer schweren Krankheit oder Anlage dazu lässt man die betreffenden Zellen absterben und setzt i.d.R. nur eine gesunde Zelle in die Gebärmutter der Spenderin der Eizelle ein. Die Gegner des Verfahrens nennen das Selektion und nehmen mitunter sogar ausdrücklich auf Auschwitz Bezug. Es erfolgt, so z. B. der renommierte frühere Richter des BVerfG und Katholik Ernst-Wolfgang Böckenförde, „eine Aussonderung ... von defekten Embryonen, d. h. menschlichen Lebewesen im frühesten Stadium ihrer Existenz“.[3] Das verstoße gegen die Menschenwürde des Embryos und bedeute eine „schwere Diskriminierung der entsprechend behinderten oder mit einer Erbkrankheit belasteten Menschen ... die eigentlich nicht da sein sollten...“.[4] Sodann wird das Dammbruch-Argument geltend gemacht: Wenn man PID zur Vermeidung schwerer Krankheiten zulasse, wie wolle man dann positive Eugenik zur Produktion von Menschen mit bestimmten Eigenschaften unterbinden? Dem ist entgegenzuhalten: Wenn man PID untersagt, führt das unnötig zu mehr schweren Krankheiten, was nach geltendem Recht einen ansonsten vermeidbaren Schwangerschaftsabbruch ohne weiteres rechtfertigt.[5]

2. Ängste im Zusammenhang mit der Gentechnik sind freilich auch hinsichtlich des Menschen keineswegs unverständlich. Die Forschung war noch vor kurzem weit davon entfernt, Menschen nach Maß zu realisieren. Zu diesen „Designer-Babies“ schrieb Nobelpreisträgerin Nüsslein-Volhard 2004, man wisse selbst nach einer Analyse der DNS (dieses Molekül enthält das gesamte individuelle Erbgut) nicht ohne weiteres, welche Eigenschaften ein Mensch haben werde. Man kenne die positiven Gene fast nicht und habe kaum Erkenntnismöglichkeiten. Es sei „jeder Gedanke an eine genetische Manipulation des Menschen durch Einbringen ausgewählter Gene in den Bereich der Science-Fiction zu verweisen“.[6] Aber selbst das ist heute Makulatur. Denn 2015 gelang es chinesischen Wissenschaftlern, mit einer Crispr/Cas9 genannten Methode erstmals Embryonen im Frühstadium genetisch zu manipulieren. Die Möglichkeit von wesentlichen Verbesserungen dieser derzeit (2016) noch unausgereiften Methode erscheint Wissenschaftlern derzeit sicher. Die rote Linie ist damit überschritten und niemand weiß, ob es gelingen wird, neue Möglichkeiten auf die Heilung von Krankheiten zu beschränken. Mit der Zulässigkeit von PID hat das aber nichts zu tun.

3. Rechtlich ist zur PID anzumerken: Da es keine spezifische Staatsideologie geben darf, ist zu fragen, ob es allgemein einsehbare und verfassungsrechtlich tragfähige Gründe für ein Verbot der PID gibt. Bei Bejahung der Frage würden Männer und Frauen ggf. gezwungen, die Entscheidung für oder gegen eine Schwangerschaft ohne ausreichende medizinische Information zu treffen. Da wäre es zumindest logisch, künstliche Befruchtung beim Menschen generell zu untersagen. Das Problem wurde mittlerweile wie folgt etwas entschärft: Nachdem der BGH 2010 die PID für nicht strafbar erklärt hatte, wurde in das ESchG im Jahr 2011 im Wesentlichen ein § 3 a eingefügt, der die PID bei Einhaltung sehr strenger Kriterien und nur bei Zustimmung einer Ethikkommission für zwar nicht erlaubt, aber doch für „nicht rechtswidrig“ erklärt. Das ist ein weiteres Beispiel für die Doppelmoral des deutschen Gesetzgebers. In fast allen anderen europäischen Ländern und den USA ist die PID erlaubt.

VI. Ideologische Erhitzungen
Zahlreiche vergleichbare westliche Staaten, insbesondere die doch so religiösen USA, kennen solche ethisch-politischen Probleme zumindest nicht in einem derartigen Ausmaß, wie sie in Deutschland das Klima vergiften. In kritischer Auseinandersetzung mit diesem Tatbestand hat der Biologe Hubert Markl als Präsident der Max-Planck-Gesellschaft 2001 aufsehenerregende Kritik geübt. In keinem Land der Welt würden derart erhitzte weltanschauliche Auseinandersetzungen über Natur und Wesen des Menschen und die daraus folgenden Rechte und Pflichten geführt. Er sprach vom „biopolitisch gleichgeschalteten Gesamtbioethikrat deutscher Tageszeitungen“ und vom „dicht an dicht besetzten Karpfenteich moralischer Hochgesinnung.“ Der Begriff „Mensch“ sei, unabhängig von biologischen Tatsachen, kulturbezogen. Verschiedene Kulturen wählten auch heute noch trotz Kenntnis der biologischen Bedeutung des Befruchtungsvorgangs verschiedene Zeitpunkte für die Zuschreibung des Menschseins, und auch der deutschen Rechtsprechung und Praxis sei das nicht fremd. So verweist Markl auf die Akzeptanz einnistungshemmender Mittel. Die Politik solle nicht leichtfertig „mit dem Vatikan das Hochufer moralischer Letztbegründungen zu besetzen suchen“. „Mich schreckt“, so Markl, „am meisten der Geist erbarmungsloser Moral und zugleich des rechtlichen Zwanges auf betroffene Einzelne im Dienste vermeintlicher Gemeinschaftsinteressen. So als gehörten eine Frau und ihr Reproduktionsvermögen und sogar die dabei instrumentalisierten Behinderten zuallererst einmal der Gesellschaft oder dem Staat“. Dieser versage der Frau ihr ureigenes Menschenrecht. Zwar habe man vielleicht kein Recht auf ein gesundes Kind. Dazu wörtlich: „Aber ebensowenig gibt es wohl einen Rechtsanspruch einer Gesellschaft auf Zeugung und Geburt von Behinderten zum Ausweis ihrer moralischen Prinzipien!“ Der Strafrechtler Merkel hält es bezüglich der sog. verbrauchenden Embryonenforschung für rechtlich und ethisch nicht zu rechtfertigen, das Recht des Embryos auf Leben höher zu stellen als das Recht des Kranken auf Heilung. Die ausschließlich religiös begründbare Gegenmeinung sei nicht Ausdruck einer hohen, sondern irrigen Moral ohne verfassungsrechtliche Basis.[7]

VII. Der Europäische Gerichtshof und der Embryo
Die große gesellschaftliche Bedeutung religiöser Ideologie hat sich auch in der sogenannten Brüstle-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (Luxemburg) von 2011, freilich unter Berücksichtigung von bereits geltendem EU-Recht, gezeigt. In ihr geht es um die Möglichkeit der Patentierung von Stammzellen. Das in Deutschland zunächst erteilte Patent befasst sich mit den Problemen der Herstellung isolierter „Vorläuferzellen“, aus „totipotenten“ embryonalen Stammzellen mit speziellen Eigenschaften. So sollen Ersatzzellen für Gehirn und Rückenmark produziert werden, um bei der Parkinsonkrankheit und anderen neurologischen Erkrankungen helfen zu können. Auf Vorlage des BGH erklärte das höchste Gericht der EU, es dürfe kein Patent auf Verfahren mit menschlichen Stammzellen erteilt werden, wenn dabei Embryonen zerstört würden. Das verstoße unabhängig vom verfolgten Zweck gegen die Menschenwürde.[8] Der Begriff des Embryos wurde wie folgt definiert: „Jede menschliche Eizelle vom Stadium ihrer Befruchtung an, jede unbefruchtete menschliche Eizelle, in die ein Zellkern aus einer ausgereiften menschlichen Zelle transplantiert worden ist … ist ein ‚menschlicher Embryo‘ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie“ [gemeint: Richtlinie 98/44].[9]
Damit war der EuGH noch strenger als die ohnehin besonders strengen, wenn auch widersprüchlichen Regelungen des deutschen Rechts. Er entsprach vollkommen den Vorstellungen des Vatikans, die freilich ihrerseits theologiehistorisch auf sehr wackligen Beinen stehen. Dabei gab und gibt es noch gar keinen europarechtlichen Begriff der Menschenwürde und wurde der behauptete Verstoß gegen sie nicht argumentativ begründet. Das Urteil befremdet nicht wegen des Ergebnisses zur Frage der Patentierungsmöglichkeit, sondern wegen der Mangelhaftigkeit seiner Begründung.

Bioethik; Leitprinzipien des Grundgesetzes; Statistik; Liberale Rechtstheorie; Menschenwürde; Recht, Moral und Religion; Schwangerschaftsabbruch.

Literatur

  • EuGH, 18.10.2011 - C-34/10 (Große Kammer; Brüstle-Urteil zur Stammzellpatentierung), in: DÖV 2012, 33
  • Deutsche Fassung: LINK
  • BGHSt NJW 2010, 2672,  06.07.2010 - 5 StR 386/09 (PID nicht strafbar).
  • Bahnsen, Ulrich: Guten Gewissens. Bei allem Streit um Embrygggonenschutz: Die PID kann nur wenigen helfen, die Angst vor ihr ist unbegründet. ZEIT vom 21.10.2010 (Nr. 43), Onlineartikel
  • Birnbacher, Dieter: Forschung an embryonalen Stammzellen – ethische Fragen. In: Aufkggglärung und Kritik 1/2002 S. 5-17.
  • Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Menschegggnwürde als normatives Prinzip. Die Grungggdrechte in der bioethischen Debatte. JZ 2003, 809-815.
  • Czermak, Gerhard: Die Menschengggwürde des befruchteten Eies, 2011, in: hpd-Artikel
  • Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften: Ausgewählte nationale und internationale Gesetze und Regelungen, LINK .
  • Dreier, Horst/Huber, Wolfgang (Hg.): Biogggethik und Menscggghenwürde, 2002.
  • Gelhaus, Petra: Gentherapie und Weltanschauung. Ein Überblick über die genethische Diskussion. Darmstadt 2005, 240 S.
  • Gethmann-Siefert, Annemarie/Huster, Stefan (Hg.): Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik. Bad Neuenahr-Ahrweiler 2005, 254 S.
  • Geyer, Christian (Hg.): Biopolitik. Die Positionen. Frankfurt a. M. 2001, 302 S.
  • Heun, Werner, Embryonenforschung und Verfassung – Lebensrecht und Menscggghenwürde des Embryos, JZ 2002, 517-568.
  • Hoerster, Norbert: Wie schutzwürdig ist der Embryo? Zu Abtreibung, PID und Embryonenforschung, Weilerswist 2013.
  • Hoerster, Norbert: Ethik des Embryonenschutzes, Stuttgart 2002, 144 S.
  • Kreß, Hartmut: Ethik der Rechtsordnung, Stuttgart 2012, 52 ff.
  • Leist, Anton (Hg.): Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord. Frankfurt 1990, 427 S.
  • Markl, Hubert: Freiheit, Verantwortung, Menscggghenwürde: Warum Lebenswissenschaften mehr sind als Biologie. In: Christian Geyer (Hg.), Biopolitik, Frankfurt a. M. 2001, 177-193. Erstveröff. Die Welt v. 22.6. 2001.
  • Merkel, Reinhard: Forschungsobjekt Embryo, 2002, 294 S.
  • Merkel, Reinhard: Rechte für Embryonen? In: Christian Geyer (Hg.), Biopolitik, Frankfurt a. M. 2001, 51-64.
  • Nüsslein-Volhard, Christiane: Von Genen und Embryonen, Stuttgart 2004, 69 S.
  • Schroth, Ulrich: Forschung mit embryonalen Stammzellen und Präimplantationsdiagnostik im Lichte des Rechts, JZ 2002, 170-179.
  • Schwarzkopf, Alexandra: Die deutsche Stammzelldebatte. Eine exemplarische Untersuchung bioethischer Normenkonflikte in der politischen Kommunikation der Gegenwart, Göttingen 2014.
  • Taupitz, Jochen: Embrygggonenschutz und Stammzellforschung, bpb 2009, LINK .
  • Wetz, Franz Josef: Wie wertvoll ist menschliches Leben? Embryonen und Föten. In: ders., Baustelle Körper. Biogggethik der Selbstachtung. Stuttgart 2009, 109-120.
  • Embryonensgggchutzgesetz: LINK
  • Stammzellgesetz: LINK
 


  • [1] Trägerin des Medizin-Nobelpreises (1995) und Mitglied des ursprünglichen Nationalen Ethikrats (eingerichtet 2001).
  • [2] C. Nüsslein-Volhard 2004 S. 54.
  • [3] Ausführlicher ist die Position E.-W. Böckenfördes dargestellt unter der Überschrift: „Das Tor zur Selektion ist geöffnet“ in: C. Geyer, Biopolitik, 2001, 112-115. Dort auch zahlreiche andere bemerkenswerte Beiträge, einerseits z.B. R. Spaemann, H. Däubler-Gmelin, W. Höfling, E. Benda, A. Fischer, andererseits R. Merkel, H. Markl; aber auch H. Dreier, O. Höffe, M. Naumann u.v.a.
  • [4] Das Diskriminierungsargument ist schlechthin unverständlich, denn es setzt Lebensexistenz voraus. Die Frage des Umgangs mit Embryonen hat aber nichts zu tun mit dem Umgang mit geborenen behinderten Menschen.
  • [5] Zu den unterschiedlichen Haltungen von katholischer Kirche und EKD s. H. Kreß, Ethik der Rechtsordnung, 52 ff.
  • [6] C. Nüsslein-Volhard, 2004, 62.
  • [7] H. Markl, in: C. Geyer, Biopolitik 2001, Freiheit, Verantwortung, Menscggghenwürde, 177-193; von dort auch die Zitate.
  • [8] Nr. 32 f. der Gründe

© Gerhard Czermak / ifw (2017)