Grundrechte

I. Rechtstechnische Funktion

Unter G. versteht man unter der Geltung des GG persönliche (individuelle, subjektive) Rechte, die alle öffentlichen Organe (Staat, Kommunen, Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts) bei ihrer amtlichen Tätigkeit stets von Amts wegen beachten müssen. Sie sind das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung der Menschenrechte. Das GG steht an der Spitze der Rechtspyramide (Reihenfolge: GG, Bundesgesetze, sonstiges Bundesrecht, Landesrecht usw.). Der jeweilige Grundrechtsträger kann seine Grundrechte unter Einhaltung der verfahrensrechtlichen Vorschriften bei der jeweiligen Behörde (Urheber der kritisierten Entscheidung), ggf. nächsthöheren Behörde geltend machen und erforderlichenfalls die zuständigen Gerichte (überwiegend Verwaltungsgerichte) anrufen (s. Rechtsschutz). Das BVerfG ist i. d. R. erst nach ordnungsgemäßer Ausschöpfung des Rechtswegs zur Sachentscheidung verpflichtet. Insbesondere muss auch der parlamentarische Gesetzgeber die Grundrechte beachten, andernfalls gesetzliche Vorschriften vom BVerfG bei zulässiger Anrufung für ungültig erklärt werden können. Diese starke Rechtsposition ergibt sich aus Art. 1 III GG: "Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht."

II. Bundesverfassungsgericht

Die Vorschriften des GG über das BVerfG, Art. 93 und 94, haben zur Folge, dass weitgehend das gesamte Staats- und Rechtsleben zur Grundrechtsfrage erhoben werden kann. Das BVerfG übt daher, oft wegen der Schwäche der Politik, große Macht aus. Da es gezwungen ist, über ihm vorgelegte Fälle zu entscheiden, muss es zu zahllosen heiklen Einzelfragen der Grundrechte Position beziehen, obwohl sich die Antwort kaum je direkt aus dem Text und klar erkennbaren Sinn "des Grundrechts" ergibt. Daher ist die Rede davon, ein Grundrecht erlaube oder verbiete etwas, missverständlich. Rein praktisch bedeutet das GG, was das BVerfG (bzw. andere Gerichte) als seinen Sinn erklären. Das gilt aber vor allem für diejenigen Teile einer Entscheidung des BVerfG, die die Entscheidung tragen und logisch nicht wegzudenken sind (Bindungswirkung, § 31 BVerfGG). Was das einzelne Grundrecht konkret bedeutet, kann (auch innerhalb des BVerfG) unterschiedlich, ja gegensätzlich gesehen werden und ist Gegenstand der rechtswissenschaftlichen und allgemeinen Diskussion. Man spricht auch von einer "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten". Zur Auslegungsproblematik wird auf das einschlägige Stichwort verwiesen.

III. Grundrechtsarten

Die subjektiven Grundrechte sind nicht nur im Grundrechtsteil des GG, Art. 1-19, enthalten. Der Sache nach grundrechtsgleiche Rechte sind in Art. 93 I Nr. 4 a GG aufgezählt (die speziellen Gleichheitsrechte des Art. 33, die Garantie des gesetzlichen Richters, der Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht und anderes). Es gibt auch grundrechtsähnliche Bestimmungen, zu denen größere Teile der Weimarer "Kirchenartikel" (vgl. Art. 140 GG) gehören. Bei den Grundrechtsfunktionen dominieren die Abwehrrechte, die die Integrität des Grundrechtsträgers gegenüber der öffentlichen Gewalt schützen sollen, insbesondere bei Freiheitsrechten wie der Religionsfreiheit. Aus G. können sich auch Leistungsrechte ergeben, z. B. auf staatlichen Schutz vor Beeinträchtigungen. Eine wichtige Kategorie von G. sind die zahlreichen Gleichheitsrechte, die gerade im Zusammenhang der Religionsfreiheit eine große Rolle spielen (s. Neutralität) und die staatsbürgerlichen Rechte.

IV. Allgemeine Bedeutung für die Rechtsordnung

Die Bedeutung der Grundrechte erschöpft sich nicht in der Garantie subjektiver (persönlicher) Berechtigungen, sondern Grundrechte haben auch objektive (allgemeine) Rechtsbedeutung, weil sie vielfältig auf die gesamte Rechtsordnung als Direktive einwirken. Sie haben Ausstrahlungswirkung, indem sie verbindliche Werte verkörpern (aber keine Werthierarchie begründen, vgl. Wertordnung des GG). Diese objektive Bedeutung der G. zeigt sich bei der Auslegung des materiellen (inhaltsbezogenen, Sachverhalte regelnden) Rechts und des formellen Rechts (Verfahrensrechts), zumindest in indirekter Form. Man spricht auch von Drittwirkung, insb. im Privatrecht.

Modifikationen ergeben sich durch das grundsätzlich vorrangige Recht der EU, das seinerseits Grundrechte kennt. Das Konfliktpotential ist dabei aber bisher gering. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) hat innerstaatlich aufgrund eines Bundesgesetzes i. V. m. Art. 59 II GG (lediglich) die Wirkung eines Bundesgesetzes. Sie gewinnt über die Rechtsprechung des EGMR (Straßburg) und die Heranziehung seitens des BVerfG indirekt zunehmend an Bedeutung.

>> Auslegung; Europarecht; Grundrechte in der Kirche; Grundrechtsausübung; Leitprinzipien des Grundgesetzes; Grundrechtsdogmatik; Menschenrechte; Rechtsbindung der Religionsgemeinschaften; Rechtsschutz.

Literatur:

  • Jarass/Pieroth, GG, 13. A. 2014, vor Art. 1 GG;
  • Sachs, GG, 7. A. 2014, vor Art. 1.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)