Kirchenasyl

I. Einführung

1. Das Thema wurde in Deutschland vor allem seit dem sog. Asylkompromiss von 1993 aktuell. Sein Ergebnis ist die mit erheblichen Einschränkungen (Drittstaatenregelung) verbundene Regelung des staatlichen Asylrechts in Art. 16 a GG. Im Lauf der Zeit wurde es um das Kirch.enasyl ruhiger, in der Rechtswissenschaft war es aber lange ein Modethema. Die praktische Bedeutung des K. steht und stand jedoch im umgekehrten Verhältnis zu der öffentlichen Aufmerksamkeit, die es seinerzeit gefunden hat und neuerdings in der Folge des großen Flüchtlingszustroms 2015 wieder findet.

2. Dem Gedanken der Gewährung von Verfolgungsschutz beim Vorliegen bestimmter räumlich-persönlicher Bedingungen liegen ursprünglich sakrale Vorstellungen zugrunde (Asyl in Tempeln und anderen Kultstätten). Es gab allerdings in der Antike auch profanes Asylrecht. Die frühe christliche Kirche griff darauf zurück. Das christliche K. baute auf der möglichen Fürsprache des Bischofs für Schutzbedürftige und der Scheu vor der Sphäre des Heiligen auf. Die selbst nach kirchlicher Auffassung stets nur eingeschränkte Bedeutung des K. gegenüber der weltlichen Gewalt zeigte sich in can. 1179 CIC 1917, wonach die Kirche (!) Asylrecht in dem Sinn genießt, dass zu ihr Flüchtende nicht ohne Zustimmung eines leitenden Klerikers weggeführt werden dürfen, "außer im Fall zwingender Notwendigkeit". Das stand jedoch schon damals nur auf dem Papier, da der moderne Staat keine rechtsfreien Räume duldet. Daher erwähnt der CIC 1983 das K. nicht mehr. Das evangelische Kirchenrecht hat ein Asylrecht ohnehin nie reklamiert. Die Kirchen beanspruchen keinen rechtlichen Sonderstatus für nach ihrer Ansicht zu Unrecht vom Staat nicht geschützte verfolgte Ausländer. Niemand bestreitet hierzulande die Alleinzuständigkeit des Staats für die Gewährung von Asylrecht im Sinn eines dauernden gesicherten Aufenthalts, und kaum jemand will sich der Rechtsordnung widersetzen.

II. Jüngere Diskussion

1. Es gilt, zwischen Nothilfe gegen das Versagen staatlicher Asylpraxis und Gefährdung des Rechtsstaats durch unzulässiges K. rein tatsächlich zu differenzieren. Denn mit K. werden unterschiedliche Formen der Hilfeleistung erfasst. Beim "offenen Asyl", bei dem die Medien eingeschaltet werden, werden wie auch beim "stillen Asyl" stets die Behörden über den Aufenthalt des Ausländers in kirchlichen Räumen (z. B. Gemeindehaus) informiert. Sie können daher jederzeit nach ihrem Verständnis der rechtlichen Vorschriften vorgehen. Sinn dieser Vorgehensweise ist es, bei den Behörden unter Vorbringen von Sachargumenten einen zeitlich befristeten Aufschub der an sich fälligen Vollstreckung der Abschiebung zu erreichen. So soll es in Sonderfällen ermöglicht werden, spezielle humanitäre Gesichtspunkte einzubringen wie neue Tatsachen (unter Nutzung spezieller kircheninterner Informationsmöglichkeiten) mit dem Ziel des Wiederaufgreifens des Verfahrens oder der Vermittlung eines Aufenthalts in einem anderen Land.

Insbesondere die Auswirkungen der z. T. sehr rigiden verfahrensrechtlichen Vorschriften und extrem kurzen Fristen können eine solche Vorgehensweise aus ethischen Gründen notwendig oder zumindest verständlich machen. Rechtliche Probleme treten hierbei grundsätzlich wohl nicht auf. In dem Verhalten der Schutz Gewährenden wird man kaum eine strafbare Beihilfe zum rechtswidrigen Aufenthalt sehen können.

2. Anders ist es bei den seltenen Fällen des "verdeckten" K. Bei diesem werden die Betroffenen dem staatlichen Zugriff entzogen und die K. Gebenden machen sich nach h. M. ohne weiteres strafbar. Sie setzen sich auch in Widerspruch zur offiziellen Kirchenpolitik. Hierzu haben einzelne Juristen[1] versucht, mit Hilfe eines extrem weiten Verständnisses der Religionsausübungsfreiheit (Art. 4 II GG) und der Gewissensfreiheit (Art. 4 I GG) sowie des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts (Art. 137 III WRV/140 GG) je nach Fallgestaltung eine grundrechtliche Rechtfertigung für die Nichtbeachtung der asylrechtlichen Vorschriften zu konstruieren. Das ist jedoch auf breite Ablehnung gestoßen. Denn es ist fragwürdig, ob man den auf religiöse Motive gestützten Wunsch auf Schutz anderer Personen entgegen geltendem Verfassungs- und Gesetzesrecht als grundsätzlich durch Art. 4 II GG geschützt ansehen soll. Entsprechend dieser Auffassung könnte man beliebig viele gesellschaftliche Vorgänge "zum rechtlich abgesicherten Gegenstand kirchlicher Intervention in die staatliche Verwaltung" machen (L. Renck). Und die Gewissensfreiheit soll nach bisher anerkannter Meinung im Einzelfall von solchen Konflikten befreien, die die Rechtsordnung aufzwingt, nicht aber sollen selbstgeschaffene Konflikte zur Aufweichung der Rechtsordnung führen.

III. Praktische Bedeutung des Kirchenasyls

Die moderne Form des K. geht hauptsächlich auf die in den 1980 er Jahren in den USA entstandene "sanctuary movement" - Bewegung zurück, wobei sich Kirchengemeinden gegen die staatliche Asyl- und Abschiebungspolitik betreffend zentralamerikanische Diktaturen wandten. Mehrere Großstädte und sogar Bundesstaaten schlossen sich dem Protest an, indem sie sich als Zufluchtsstätten erklärten, die Zusammenarbeit mit zentralen Ausländerbehörden einstellten und ein echtes rechtstaatliches Problem waren. Diese Bewegung strahlte auch etwa auf Großbritannien und die Schweiz aus und nach Deutschland in Verbindung mit der zum Asylkompromiss von 1993 führenden Diskussion. Anfang 1994 schlossen sich in der Bundesrepublik ca. 200 evangelische und katholische Kirchengemeinden zu einer Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" zusammen mit dem Ziel, nach eingehender Prüfung und Ausschöpfung aller Rechtsmittel in Notlagen zu helfen. Die Erfolge der Tätigkeit werden unterschiedlich eingeschätzt. Nach Angabe der Arbeitsgemeinschaft gab es im April 2000 bundesweit 38 offene und 17 stille K. mit insgesamt 221 Personen, "verdecktes" K. wurde als seltene Ausnahme eingeschätzt.[2] Im Rahmen einer kritischen Auswertung gibt Peißl an, von 110 bayerischen Fällen in 1996 sei nur in 1-2 Fällen infolge von K. ein dauerhaftes Bleiberecht erwirkt worden.[3] "Asyl in der Kirche" gab in einer Pressemitteilung vom 8.8.2001 im Rahmen einer 5-Jahres-Auswertung an, von 903 zu 2/3 aus der Türkei stammenden Flüchtlingen habe man in 73 Fällen eine Abschiebung verhindern können, zu 16,5 % habe man das Asylrecht oder dauerhaften Abschiebungsschutz erwirkt, zu 32 % eine Duldung mit Zeitgewinn und 5,7 % seien unter die Altfallregelung gefallen. Vorbehaltlich einer näheren Prüfung wird man sagen können, dass die echte Erfolgsquote vergleichsweise gering ist, wobei die Fälle von K. ohnehin nur einen winzigen Teil aller Asylverfahren betreffen. Dieser geringe echte Erfolg dürfte – bei allen Mängeln, mit denen Erstanhörungen und auch Gerichtsentscheidungen auf Grund verschiedener Umstände manchmal zwangsläufig verbunden sind – an der heute im Allgemeinen sorgfältigen und in Problemfällen oft sehr aufwändigen Arbeit der Asylrichter liegen. – Die Folgen der großen Asylwelle von 2015 sind derzeit schwer zu beurteilen. Die ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" sprach nach dem Stand vom 3. 3. 2017 von 316 Kirchenasylen mit 531 Personen, davon 141 Kinder. Im Frühjahr 2017 leitete in Bayern die Staatsanwaltschaft mehrere Ermittlungsverfahren gegen evangelische Geistliche ein.

IV. Würdigung

Eine rechtsstaatliche Gefährdung durch das K. kann man in Deutschland nicht sehen. Zum einen ist seine tatsächliche Bedeutung gemessen an der Gesamtzahl der Asylverfahren denkbar gering. Noch viel geringer ist die Zahl der (straf)rechtlich problematischen Fälle des versteckten Asyls. Aber auch dieses kann man als ethisch begründeten zivilen Ungehorsam mit dem auch in Asylverfahren erfahrenen Ludwig Renck ("Häufung von menschlichem und juristischem Unvermögen") sympathisch und nützlich finden, kommt doch darin keine grundsätzlich rechtsstaatswidrige Gesinnung zum Ausdruck. Eine Rechtfertigung durch Art. 4 GG ist aber zu verneinen.

>> Asylrecht; Gewissensfreiheit; Religionsausübungsfreiheit; Selbstverwaltungsrecht.

Literatur:

  • Bank, R.: Kirchliches sanctuarium als rechtsfreier Raum? Die Problematik de Kirchenasyls. In: Grote, R./Marauhn, T. (Hrsg.): Religionsfre.iheit zwischen individueller Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und Staat.skirchenrecht. Berlin u.a. 2001, 383-409;
  • Görisch, C.: Kirch.enasyl und staatliches Recht, Berlin 2000, 291 S.;
  • Maaßen, H.-G.: "Kir.chenasyl" und Rechtsstaat, KuR 1997, Nr. 885, S. 7-21;
  • v. Münch, I.: "Kirc.henasyl": ehrenwert, aber kein Recht, NJW 1995, 565 f.;
  • Peißl, J.: "Kirch.enasyl" - gelebter Grundrechtsschutz oder Affront gegen den Rechtsstaat? BayVBl 1999, 137-139;
  • Renck, L.: Bekennt.nisfreiheit und Kirc.henasyl, NJW 1997, 2089-2092 (krit. zu M.-E. Geis, JZ 1997, 60-67);
  • TRE Bd.4, 1979, Art. Asyl.recht (auch historisch zum Kir.chenasyl).
  • s. auch www.kirchenasyl.de
 


  • [1] z.B. R. Bank, M.-E. Geis, M. H. Müller, D. Kraus.
  • [2] s. Bank a.a.O. 387.
  • [3] Peißl a. a. O. 137.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)