Gewissensfreiheit

I. Eigenständiges Grundrecht

Das Grundrecht der G. hängt eng zusammen mit der Gesamtmaterie Religions- und Weltanschauungsfreiheit und nahm auch nach 1949 an der dabei bestehenden Begriffsverwirrung (hierzu s. Glaubensfreiheit) teil. Im Anschluss an eine 1965 von Niklas Luhmann publizierte Untersuchung der soziologischen Funktion des individuellen Gewissens setzte sich aber seit der Staatsrechtslehrertagung von 1969 G. als ein ganz eigenständiges Grundrecht durch, das funktionell unabhängig von den verschiedenen Aspekten der Religionsfreiheit ist. Ausgangspunkt ist das Verständnis von Gewissen als – wie immer begründbares – „real erfahrbares seelisches Phänomen“, dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen „unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens“ sind. Als Gewissensentscheidung ist dem entsprechend „jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von ‚Gut’ und ‚Böse’ orientierte Entscheidung anzusehen, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte“.[1]

II. Schutz personaler Identität

G. gibt nach heute allgemeiner Rechtsmeinung Schutz gegen staatlich aufgezwungene Gewissenskonflikte im oben erläuterten engen Sinn durch Befreiung von Rechtspflichten. Schutzgut ist die psychische Integrität und moralisch-personale Identität. Auf welche religiöse, nichtreligiös-weltanschauliche oder sonstige Weise (d. h. außerhalb eines konsistenten Gedankensystems zum Weltverständnis) jemand zu einer existentiell wichtigen Überzeugung gelangt, ist dabei unerheblich. Die Rechtsordnung erkennt die Orientierung aller Menschen an höchstpersönlichen Wertvorstellungen als Wert an sich an. Ist die Gewissensüberzeugung somit thematisch unbegrenzt, so sind die Einengung des Schutzbereichs der G. und die Frage der Grundrechtsschranken von besonderer Bedeutung. Die obige Definition des BVerfG stellt eine zutreffende Einengung des juristischen Begriffs der Gewissensentscheidung dar, so dass eine Paralysierung der Rechtsordnung durch Sonderüberzeugungen nicht zu erwarten ist. Auch muss die ernste Gewissensnot plausibel dargelegt werden. Einen Schrankenvorbehalt enthält die Garantie der G. zwar nicht und auch die Möglichkeit der Anwendung des Art. 136 I WRV/140 GG besteht hier textlich nicht. Aber sonstiges Verfassungsrecht (z. B. Grundrechte Anderer) kann unbestritten eine Schranke mit der Folge einer Güterabwägung und ggf. der Statuierung einer Ersatzpflicht darstellen.

III. Gewissensbetätigung

In der freiheitlichen Rechtsordnung des GG spielt die G. bezüglich der Gewissensbetätigung praktisch keine große Rolle. Sie schreibt nämlich von vornherein möglichst keine Rechtspflichten vor, die einzelne Menschen in existenzielle Gewissensnot bringen. Objektiv (über das persönliche Grundrecht hinaus) ist es die Funktion der G., dass die Rechtsordnung vorsorglich zu gewissensbeeinträchtigenden Rechtspflichten gewissensneutrale gesetzliche Alternativen bereitstellt. So wird niemand gezwungen, einen Eid mit religiöser Formel zu leisten. Das Gewissensproblem des Kriegsdienstes wird durch die Garantie der Kriegsdienstverweigerung gem. Art. 4 III GG sogar eigens normiert.

Regelmäßig wirkt sich die G. nicht in Form einer Einzelbefreiung von grundsätzlich verfassungsgemäßem Gesetzesrecht aus, sondern indirekt durch (prozessvermeidende) gewissensschonende Rechtsanwendung. In einem Einzelfall hat das BVerwG aber die Befehlsverweigerung eines Soldaten wegen eines schweren Gewissenskonflikts gerechtfertigt. Das BVerfG hat zur Ermöglichung der Annahme eines Kommunalmandats das ausnahmsweise Recht auf (religiös motivierte) Verweigerung selbst einer Eidesleistung ohne religiöse Beteuerung anerkannt und eine Ersetzung durch eine andere Beteuerungsformel gefordert. Bekannt ist ein Fall, in dem ein Ehemann es abgelehnt hatte, seine gleichgesinnte Ehefrau zur Duldung einer Bluttransfusion zu veranlassen. Eine strafrechtliche Verurteilung wegen unterlassener Hilfeleistung verstieß nach Ansicht des BVerfG gegen Art. 4 I GG, der einen Entschuldigungsgrund darstelle. Diese wichtige Entscheidung von 1971 ist nach Ansicht von Kritikern zwar rechtsdogmatisch (s. Grundrechtsdogmatik) zu wenig durchdacht, betrifft aber nach heutiger Auffassung jedenfalls die Gewissensfreiheit.

Integrationspolitisch bedeutsam ist die Rspr. zur Unterrichtsbefreiung islamischer Schülerinnen vom koedukativen Sportunterricht, wenn im Hinblick auf Bekleidungsvorschriften des Korans individuell ein ernster Gewissenskonflikt entsteht. An Tierversuchen brauchen Medizinstudenten nicht teilzunehmen, wenn sie substantiiert darlegen, dass es gleichwertige alternative Lehrmethoden gibt. Ansonsten ist die Rechtsprechung bei der Anerkennung der durch Befreiung von Rechtspflichten zu Recht zurückhaltend. Abgelehnt wurde z. B. eine Anerkennung der Kürzung von Krankenkassenbeiträgen, um indirekte Finanzierung von Schwangerschaftsabbruch zu vermeiden oder die Weigerung eines Briefträgers, Sendungen bestimmter Absender (Scientology) zuzustellen. Abzulehnen ist es auch, das sog. Kirchenasyl in Zusammenhang mit der G. zu bringen. Denn G. ist Abwehrrecht gegen aufgezwungene Konflikte. Bloßer ziviler Ungehorsam reicht nicht. Gewissensfragen treten immer wieder im Arbeitsverhältnis auf, etwa bezüglich der Herstellung militärischen Geräts, militärischer Forschung, beim Islamischen Kopftuch einer Verkäuferin, der Mitwirkung bei Herstellung oder Vertrieb rechtsradikaler Schriften usw. Derartige Konflikte dürften aber nur selten solche der G. im oben skizzierten eigentlichen (engen) Sinn sein, wo es um Konstituierung bzw. Dekonstituierung der Persönlichkeit geht. Arbeitsrechtlich ist die Auslegung des Direktionsrechts des Arbeitgebers, § 315 BGB (billiges Ermessen).

IV. Gewissensbildung

Vielfach wird die Auffassung vertreten, auch die Freiheit der unbeeinflussten Gewissensbildung sei durch die G. geschützt. Praktische Beispiele hierzu werden kaum gegeben. Der Bereich der r-w Überzeugungsbildung wird aber nach der hier befürworteten Terminologie schon durch die Glaubensfreiheit umfassend geschützt. Die Beeinflussungsfreiheit liegt wegen des verengten Zugangs zur Gewissensfreiheit (ernste Gewissensnot) auch auf einer anderen Ebene. Im Übrigen darf der Staat ohnehin keine spezifische Konzeption des guten Lebens propagieren. Der Hauptzweck der Gewissensfreiheit ist jedenfalls verhaltensbezogen: sie soll im Alltagsleben vor existentieller Gewissensnot bewahren. Problematisch bleiben Fälle unzulässiger, nämlich einseitiger staatlicher Einflussnahme außerhalb des religiös-weltanschaulichen Bereichs, insb. der politischen Einflussnahme. Diese grundrechtsdogmatisch ungeklärte Frage hat aber keine praktische Bedeutung, da insbesondere die Schul-, Beamten- und Soldatengesetze ohnehin solche Beeinflussungen verbieten und andere rechtliche Abwehrmöglichkeiten bestehen.

Arbeitsrecht; Eid; Glaubensfreiheit; Grundrechtsdogmatik; Grundrechtsschranken; Leitprinzipien des Grundgesetzes; Kirchenasyl; Kopftuch; Liberale Rechtstheorie; Religionsfreiheit; Schutzbereich; Unterrichtsbefreiung.

Literatur:

  • BVerfGE 12, 45 = NJW 1961, 355 (Grundfall Kriegsdienstverweigerung).
  • BVerfGE 32, 98 = NJW 1972, 327 (Gesundbeter-Fall; abgelehnte Bluttransfusion).
  • BVerfGE 67, 26 (Finanzierung des Schwangerschaftsabbruchs).
  • BVerfGE 73, 206 (ziviler Ungehorsam).
  • BVerfGE 79, 69 = NJW 1989, 827 (Eidesleistung und Kommunalmandat).
  • BVerwGE 83, 358 (Befehlsverweigerung eines Soldaten).
  • BVerwGE 94, 82 = NVwZ 1994, 578 (Befr. vom koedukativen Schulsport).
  • BVerwGE 105, 73 = NVwZ 1998, 853 (erzwungene Teilnahme an Tierversuchen; Lehrfreiheit).
  • BVerwGE 113, 361 = NJW 2000, 88 (Gewissensgggfreiheit und Postzustellung).

  • Bethge, Herbert: HStR VII (2009), § 158 435-459;
  • Hansen, Arfst Hinrichs: Die rechtliche Behandlung von Glaubens- und Gewissenskonflikten im Arbeitsverhältnis, Frankfurt/M. u.a. 2000, 173 S.;
  • Herdegen, Matthias, Gewissensfgggreiheit, in: HGR IV (2011).
  • Hunold, Arbeitsverweigerung aus Glaubens- oder Gewissensgründen, DB 2011,2580
  • Kraushaar, Bernhard: Die Glaubens- und Gewissegggnsfreiheit der Arbeitnehmer nach Art. 4 GG, ZTR 2001, 208-212;
  • Muckel, Stefan: Die Grenzen der Gewissensgggfreiheit, NJW 2000, 689-692;
  • Rüfner, Wolfgang: Gewissensentscheidung im Arbeitsverhältnis, Recht der Arbeit 1992, 1-6.
 


[1] BVerfGE 12, 45/ 54 f.; st. Rspr. seit 1960; BVerwGE127,302/325 f.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)