BVerwG: Weitere Sonderrechte für die Kirchen bei der Genehmigung von Sonntagsarbeit

In Sachsen streitet die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens seit einigen Jahren für ein Mitspracherecht bei Verwaltungsverfahren zur Bewilligung von Sonntagsarbeit. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat nun am 06.05.2020 die Entscheidungen der Vorinstanzen gestützt und der Kirche ein Akteneinsichts- und Beteiligungsrecht zugesprochen (Az. 8 C 5.19). Ein Kommentar von Marcus Licht.

I. Sachverhalt

In Sachsen streitet die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens seit einigen Jahren für ein Mitspracherecht bei Verwaltungsverfahren zur Bewilligung von Sonntagsarbeit. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat nun am 06.05.2020 die Entscheidungen der Vorinstanzen gestützt und der Kirche ein Akteneinsichts- und Beteiligungsrecht zugesprochen (Az. 8 C 5.19).

Nach dem Arbeitszeitgesetz dürfen Arbeitnehmer an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen grundsätzlich nicht beschäftigt werden. Im Einzelfall kann jedoch die Aufsichtsbehörde Ausnahmen bewilligen.

Nachdem der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens bekannt geworden war, dass im Freistaat Sachsen an Sonn- und Feiertagen Arbeitnehmer in Callcentern auf der Grundlage solcher Ausnahmebewilligungen beschäftigt werden, beantragte sie bei der Landesdirektion Sachsen ihre Beteiligung an allen laufenden und künftigen Bewilligungsverfahren. Diese lehnte ab.

Das erstinstanzliche Verwaltungsgericht hatte der darauf gerichteten Klage stattgegeben und festgestellt, dass die Landeskirche an Verwaltungsverfahren zur Bewilligung von Sonntagsarbeit zu beteiligen ist. Das Oberverwaltungsgericht hatte die Berufung der Landesdirektion zurückgewiesen. Dieses Berufungsurteil wurde durch das BVerwG nun höchstinstanzlich bestätigt. Rechtsmittel stehen dem Land nicht zur Verfügung.

Die Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes, die im Einzelfall Ausnahmen vom grundsätzlichen Beschäftigungsverbot an Sonn- und Feiertagen zuließen, seien gegenüber Religionsgemeinschaften drittschützend. Diese könnten sich auf das Grundrecht der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen, das durch die Sonn- und Feiertagsgarantie nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 Weimarer Reichsverfassung (WRV) konkretisiert werde. Nach Art. 139 WRV blieben der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt. Der darin liegende verfassungsrechtliche Schutzauftrag richte sich nicht nur an den Gesetzgeber, sondern sei auch von den Behörden bei der Entscheidung über Ausnahmebewilligungen zu beachten. Solche Entscheidungen habe die Behörde der Kirche bekanntzugeben.

II. Bewertung

Die Sonn- und Feiertagsruhe ist eine internationale Besonderheit, die zwar auf christliche Ursprünge zurückgeht, aber auch in einer säkularen Gesellschaft allen Bürgern zugutekommen soll. Nach dem Bundesverfassungsgericht schützt die Sonntagsruhe unter anderem die persönliche Ruhe, Besinnung und Erholung, das soziale Leben und die Gestaltung des Familienlebens, ebenso wie die Möglichkeit zur politischen Betätigung (etwa auch die Versammlungs- und Koalitionsfreiheit).

Dennoch wird den Kirchen diesbezüglich nunmehr ein weiteres staatliches Sonderrecht eingeräumt. Dies ist bedauerlich und mit Blick auf den Wortlaut der rechtlichen Grundlagen nicht nachvollziehbar. Selbst Gewerkschaften sind an dem Genehmigungsverfahren nicht beteiligt, worauf die Landesdirektion in den Verfahren auch hinwies. Tatsächlich sind in Art. 139 WRV die Arbeitsruhe und auch die seelische Erhebung ausdrücklich genannt, die Religion indes nicht.

Der Schutz des Sonntags und die Religionsfreiheit

Die neue Rechtsprechung bahnte sich schon durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus 2009 an (1 BvR 2858/07). Damals hatten die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg und das Erzbistum Berlin Verfassungsbeschwerden gegen Vorschriften des Berliner Ladenschlussgesetzes erhoben, die eine großzügige Ladenöffnung an den Adventssonntagen zuließen. Das Gericht gab den Beschwerden statt, was als Akt gegen die Kommerzialisierung der Vorweihnachtszeit allgemein begrüßt wurde.

Der juristische Kern blieb hingegen mehr als fragwürdig. Denn neben der "weltlich-sozialen Bedeutung", die "in einer religiös-christlichen Tradition" wurzele, sei der Schutz der Feiertagsruhe auch auf die Verwirklichung der Religionsfreiheit angelegt. Das Bundesverfassungsgericht hatte zwar eingeräumt, dass Art. 139 WRV kein subjektives Recht garantiere und sich auch aus der Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG kein entsprechendes Abwehrrecht ergäbe. Aus der Kombination beider Bestimmungen hat es dann jedoch ohne jede Grundlage im Wortlaut und entgegen der anerkannten Grundrechtsdogmatik faktisch ein "Sonntagsgrundrecht" konstruiert.

In seiner Entscheidung zum Buß- und Bettag hingegen hatte das Bundesverfassungsgericht es 1995 noch für selbstverständlich gehalten, dass die Abschaffung eines speziellen religiösen Feiertages auch bei Berufung auf die Religionsfreiheit kein subjektives Recht auf seine Beibehaltung verletzt. Die Kammer hatte die Sache daher nicht zur Entscheidung angenommen. Es könne kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass sich aus Art. 139 WRV keine subjektiven Rechte ableiten lassen.

Die Ladenöffnung an allen vier Adventssonntagen hielt das Bundesverfassungsgericht 2009 jedoch, wie skizziert, für unvereinbar mit dem Sonn- und Feiertagsschutz. Obwohl die Betroffenheit der Beschwerdeführer auf religiöse Gründe gestützt wurde, hatte das Urteil für alle Bürger dieselbe, rein weltliche Wirkung: Zur Herstellung verfassungsgerechter Zustände wurde die erlaubte Ladenöffnung vom Gesetzgeber auf zwei der vier Adventssonntage reduziert (s. hierzu auch den entsprechenden Urteilskommentar auf der ifw-Webseite und im Humanistischen Pressedient).

Die neue Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts verschärft die dogmatischen Fehler des Urteils von 2009 und geht weit über dieses hinaus. Die Entscheidung betrifft nicht den öffentlichen Charakter der Sonn- und Feiertage, sondern entfaltet ihre Wirkung in der dauerhaften Einräumung eines Mitspracherechts der Kirchen in Angelegenheiten der öffentlichen Verwaltung. Eine solche Regelung hat zum ursprünglichen Schutz des Sonn- und Feiertags zur "Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung" kaum noch Bezug und ist in seiner juristischen Konstruktion nicht nachvollziehbar.

Das Bundesverwaltungsgericht leitet ausgerechnet aus den Normen der Weimarer Reichsverfassung eine institutionelle Sonderstellung und eine Verflechtung der Kirchen mit der staatlichen Exekutive ab, obwohl gerade diese Verfassungsnormen die Trennung von Kirche und Staat gebieten, die in dem seit über 100 Jahre andauernden Verfassungsbruch vom Gesetzgeber missachtet wird.

Verfassungswidrige Staatsverträge mit den Kirchen

Die Kirche konnte sich im Prozess auch auf den evangelischen Kirchenvertrag Sachsen berufen. Darin hat sich der Freistaat Sachsen gegenüber der Kirche staatsvertraglich dazu verpflichtet, den Sonn- und Feiertagsschutz zu gewährleisten, und zwar - wie das Verwaltungsgericht Dresden feststellte -  über die Bestimmungen der Verfassung hinaus mit der spezifisch religionsfördernden Zielrichtung, dass der Staat den Schutz des Sonntags und der kirchlichen Feiertage zu Gunsten der evangelischen Landeskirche garantiert. Damit hat der Staat selbst der Kirche die Möglichkeit eingeräumt, politisch-hoheitliche Einflussnahme gerichtlich durchzusetzen.

Staatsverträge mit Kirchen und Religionsgemeinschaften sind Quelle einer Vielzahl von verfassungswidrigen Zuständen in Form von Verstößen gegen die Trennung von Staat und Religion sowie die religiös-weltanschauliche Neutralität.

Die Verträge werden in der Regel von den staatlichen und kirchlichen Verwaltungen geheim ausgehandelt und textlich festgelegt. Anschließend werden sie regelmäßig ohne Möglichkeit der Veränderung dem jeweiligen Landesparlament vorgelegt, das dann ohne Diskussion durch förmliches Gesetz den Vertrag als Landesgesetz übernimmt. Landesgesetze müssen zwar (theoretisch) in jedem Punkt der Landesverfassung und vorrangig dem Grundgesetz entsprechen, aber Verstöße dagegen können vom einzelnen Bürger mangels persönlicher unmittelbarer Betroffenheit nicht erfolgreich bei Gericht durchgesetzt werden.  

Statt mit Kirchenverträgen könnten die zugrundeliegenden Belange auch durch gewöhnliche Gesetze oder konventionelle öffentlich-rechtliche Verträge geregelt werden. Die einschlägigen Vorschriften der Verwaltungsverfahrensgesetze erfordern dabei eine genauere Prüfung und sind gegebenenfalls kündbar. Das bestehende System mit seiner Außensteuerung der Parlamente und der beabsichtigten langfristigen Bindung verstößt gegen den parlamentarischen Geist und privilegiert die großen Kirchen zusätzlich.

Die Doppelnatur der Verträge (Vertragsebene und staatliche Ebene) ist ein erhebliches rechtspolitisches Druckmittel. Der Gesetzgeber kann zwar das Vertragsgesetz jederzeit ändern, setzt sich dann aber dem Vorwurf der Vertragsbrüchigkeit aus. Die juristisch einzigartige Rechtsebene der Staatskirchenverträgen hat den Sinn, eine besonders hohe Bestandsfestigkeit zu Gunsten der Kirchen zu garantieren.

Die gegen das System (angeblich) überstaatlicher Verträge vorgetragene Fundamentalkritik wird bisher in Recht und Politik wohlweislich fast durchwegs ignoriert (zum Vorstehenden und für weitere Erläuterungen siehe den ifw-Lexikoneintrag zu den Staatskirchenverträgen und zur Religionsförderung).

Fazit

In einem weltanschaulich neutralen Staat ist es schwer erträglich, dass der Staat den Kirchen irgendeine Einflussnahme auf hoheitliche Rechtsakte verpflichtend zubilligt. Wieso sollten die Kirchen auch besser beurteilen können als Arbeitnehmer oder staatlich-neutrale Aufsichtsbehörden, ob eine Ausnahme vom Arbeitsverbot geboten ist? Die Bedeutung des Urteils liegt nahe: Mit der Einräumung der institutionellen kirchlichen Beteiligung werden primär die religiösen Gefühle der Kirchen in Hinblick auf deren religiöse Traditionen geschützt. Nicht nur wird den kirchlichen Institutionen ein eigenes subjektives Recht entgegen des Wortlauts der verfassungsmäßigen Vorgaben zugebilligt, sondern aus diesem auch noch eine Sonderstellung in der öffentlichen Verwaltung abgeleitet.

Das Urteil führt die Notwendigkeit vor Augen, statt der Institution die Menschen mit ihren Individualrechten in den Mittelpunkt der Rechtsordnung zu stellen.