"Chefarzt-Urteil" des EuGH: Kündigungspolitik der Kirchen verletzt Europarecht
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Mit Urteil vom 11.09.2018 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) seine Rechtsprechung zum kirchlichen Arbeitsrecht konsequent fortgeschrieben (Rechtssache C-68/17). Im April dieses Jahres untersagte er eine diskriminierende Einstellungspolitik der Diakonie (Rechtssache C-414/16). Fünf Monate später weitet er diesen Grundsatz auf die Kündigungspolitik der Caritas aus. Eine wegweisende Entscheidung, die potentielle Auswirkungen auf etwa die Hälfte aller ArbeitnehmerInnen des gesundheitlich-sozialen Bereichs hat.
von Jacqueline Neumann (ifw)
Hintergrund und Inhalt des Urteils
Der Kläger ist katholisch und seit dem Jahr 2000 Chefarzt der Abteilung "Innere Medizin" in einem von der katholischen Kirche betriebenen Krankenhaus (GmbH). Dessen Gesellschaftszweck ist die Verwirklichung von Aufgaben der Caritas als Lebens- und Wesensäußerung der römisch-katholischen Kirche durch u. a. den Betrieb von Krankenhäusern. Der Kläger war nach katholischem Ritus verheiratet. Im März 2008 wurde seine Ehe nach dreijähriger Trennungszeit geschieden. Wenig später heiratete er seine neue Lebensgefährtin standesamtlich, ohne dass seine erste Ehe für nichtig erklärt worden war. Daraufhin kündigte ihm sein Arbeitgeber. Er begründete dies damit, dass der Kläger gegen seine im Dienstvertrag vereinbarten Loyalitätspflichten (Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse vom 22. September 1993) verstoßen habe, indem er eine nach kanonischem Recht ungültige zweite Ehe geschlossen habe.
Der hiergegen erhobenen Kündigungsschutzklage wurde vom Arbeitsgericht stattgegeben. Die dagegen eingelegten Rechtsmittel wurden vom Landesarbeitsgericht und vom Bundesarbeitsgericht (BAG) zurückgewiesen. Das BAG argumentierte, dass die gegenüber dem Arzt ausgesprochene Kündigung nicht gerechtfertigt sei, da das Krankenhaus gegenüber konfessionsfreien ArbeitnehmerInnen oder ArbeitnehmerInnen anderer Konfessionen, die dieselbe Art von Dienstposten wie der Kläger innehätten, im Falle einer Wiederheirat keine Kündigung aussprechen würde. Demgegenüber entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Jahr 2014 für den Arbeitgeber und verwies den Rechtsstreit zurück an das BAG.
Statt nunmehr jedoch einfach im Sinne des BVerfG zu entschieden, wählte das BAG – wie schon im Fall Egenberger – den Weg eines Vorlageverfahrens. Da das Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit der Kündigung mit § 9 Abs. 2 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG), welcher in Umsetzung von Art. 4 Abs. 2 UAbs. 2 der Richtlinie 2000/78 (Antidiskriminierungs-Richtlinie) erlassen worden war, hegte, rief es den Europäischen Gerichtshof an und bat insbesondere um Klärung der Fragen,
- ob eine privatrechtlich verfasste Gesellschaft, die sich in marktüblicher Weise im Gesundheitswesen betätige, unionsrechtlich überhaupt kirchliche Sonderrechte in Anspruch nehmen könne und vom Anwendungsbereich des Art. 4 Abs. 2 UAbs. 2 der Antidiskriminierungs-Richtlinie erfasst werde;
- ob das in Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegte Verbot der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung dem Einzelnen ein subjektives Recht verleihe, das dieser vor den nationalen Gerichten geltend machen könne und diese Gerichte in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen verpflichte, von der Anwendung nationaler Vorschriften abzusehen, die mit diesem Verbot nicht im Einklang stünden;
- anhand welcher Kriterien zu bestimmen sei, ob das Verlangen nach einem loyalen und aufrichtigen Verhalten mit Art. 4 Abs. 2 UAbs. 2 der Antidiskriminierungs-Richtlinie vereinbar sei.
Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG lautet (Herv. d. d. Verf.):
"Die Mitgliedstaaten können in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, Bestimmungen […] beibehalten oder in künftigen Rechtsvorschriften Bestimmungen vorsehen, die zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie bestehende einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln und wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt. Eine solche Ungleichbehandlung muss die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze der Mitgliedstaaten sowie die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachten und rechtfertigt keine Diskriminierung aus einem anderen Grund."
Zwar bejahen die Luxemburger Richter in ihrem heutigen Urteil die grundsätzliche Möglichkeit der Inanspruchnahme kirchlicher Sonderrechte durch privatrechtliche Organisationen aufgrund des weiten Wortlauts der Norm, betonen aber zugleich, dass die Rechtmäßigkeit der Berufung auf diese Sonderrechte gerichtlich voll überprüfbar sein muss. Der EuGH hebt hervor, dass – entgegen dem Vorbringen der deutschen Regierung – die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer von einer Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen beruht, gestellten Anforderung, sich loyal und aufrichtig zu verhalten, nicht ausschließlich anhand des nationalen Rechts vorgenommen werden dürfe, sondern auch die Bestimmungen von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 und die dort genannten Kriterien zu berücksichtigen seien.
Demnach, so das Gericht, sei eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung abhängig vom objektiv überprüfbaren Vorliegen eines direkten Zusammenhangs zwischen der vom Arbeitgeber aufgestellten beruflichen Anforderung und der fraglichen Tätigkeit. Ein solcher Zusammenhang könne sich entweder aus der Art dieser Tätigkeit ergeben – z. B. wenn sie mit einem Beitrag zu deren Verkündigungsauftrag verbunden ist – oder aus den Umständen ihrer Ausübung, z. B. der Notwendigkeit, für eine glaubwürdige Vertretung der Kirche oder Organisation nach außen zu sorgen. Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die geltend gemachte Gefahr einer Beeinträchtigung ihres Ethos oder ihres Rechts auf Autonomie wahrscheinlich und erheblich ist, obliegt der Kirche.
Abschließend hat nunmehr das BAG zu entscheiden, ob die vorliegend streitige Anforderung des katholischen Krankenhauses gegenüber seinen katholischen Angestellten in leitender Stellung, sich loyal und aufrichtig zu verhalten, eine rechtmäßige berufliche Anforderung im Sinne der Antidiskriminierungs-Richtlinie darstellt. Die Antwort auf diese Frage gibt der EuGH in Form eines Hinweises jedoch schon einmal vor:
"Im vorliegenden Fall betrifft die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Anforderung einen bestimmten Gesichtspunkt des Ethos der katholischen Kirche, nämlich den heiligen und unauflöslichen Charakter der kirchlichen Eheschließung.
Unter Berücksichtigung der […] [vom Kläger] ausgeübten beruflichen Tätigkeiten, nämlich Beratung und medizinische Pflege in einem Krankenhaus und Leitung der Abteilung "Innere Medizin" als Chefarzt, erscheint die Akzeptanz dieses Eheverständnisses für die Bekundung des Ethos […] nicht notwendig. Sie scheint somit nicht im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 eine wesentliche Voraussetzung der beruflichen Tätigkeit zu sein […].
Die Feststellung, dass die Akzeptanz dieses Bestandteils des Ethos der betroffenen Organisation im vorliegenden Fall keine wesentliche Anforderung sein kann, wird durch den […] Umstand bekräftigt, dass Stellen, die medizinische Verantwortung und Leitungsaufgaben umfassen und der mit […] [dem Kläger] besetzten Stelle ähneln, Beschäftigten […] anvertraut wurden, die nicht katholischer Konfession sind und folglich nicht derselben Anforderung, sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos […] [des katholischen Krankenhauses] zu verhalten, unterworfen waren."
Mit anderen Worten: "Ärzte sollen heilen und nicht missionieren!" Für diesen Grundsatz setzen sich säkulare Organisationen, allen voran die "Kampagne gegen religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz", bereits seit langem ein.
Erste (unzutreffende) Kritik an dem Urteil
Vorwürfe gegenüber dem EuGH, dass es ihm an Sinn dafür mangele, dass im kirchlichen Arbeitsrecht implizit theologische Fragen verhandelt würden, die zu beantworten der säkulare Staat sich nicht anmaßen dürfe, ließen nicht lange auf sich warten. Ihre Urheber verkennen erstens, dass die Luxemburger Richter im Bezug auf verkündigungsnahe Tätigkeiten durchaus gewillt sind, entsprechende Loyalitätsanforderungen anzuerkennen. Und zweitens hat auch das oberste deutsche Arbeitsgericht im vorliegenden Fall bereits im Jahr 2011 im Sinne des Klägers entschieden und es als zweifelhaft erachtet, ob sich ein Arbeitnehmer unter dem Regime staatlichen Rechts wirksam dazu verpflichten kann, nicht erneut zu heiraten. Überdies betonte das BAG, dass Art. 137 Abs. 3 WRV den Kirchen zwar ein Recht zur Ordnung und Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten gewähre, dies jedoch innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes zu erfolgen habe.
Auch der Hinweis, dass der Erlass der RL 2000/78/EG nicht den deutschen Sonderweg im Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts berühren sollte, ist zurückzuweisen. Junker (NJW 2018, 1850 m.w.N.) hat bereits früher zutreffend darauf hingewiesen, dass einer solchen Auslegung bereits der Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 und Erwägungsgrund 24 der Richtlinie entgegenstünden. Denn die Regelungen sprechen nicht nur von "beibehalten", sondern von "beibehalten oder in künftigen Rechtsvorschriften vorsehen". Die Gleichsetzung von "beibehalten" und "(neu) vorsehen" entzieht der Argumentation den Boden. Dass die Mitgliedstaaten nach Erlass der Richtlinie durch neues Recht deren Wirksamkeit beeinträchtigen können, soll Art. 288 AEUV verhindern. Überdies weist auch die Entstehungsgeschichte der Richtlinie in eine andere Richtung. Gleiches gilt im Übrigen für den immer wieder ins Feld geführten Art. 17 AEUV. Danach achtet die Union den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. Die Vorschrift ist ein Bekenntnis zur Neutralität der EU, nicht aber zum Vorrang mitgliedstaatlicher Besonderheiten vor Grundrechten und Grundsätzen der Union wie dem Diskriminierungsverbot des Art. 21 der Charta (Junker NJW 2018, 1850 unter Verweis auf GA Tanchev, Schlussantrag v. 9.11.2017 – C-414/16 m.w.N.).
Auswirkungen und Konsequenzen des Urteils
In einer ersten Presseerklärung des ifw unmittelbar nach der Urteilsverkündung begrüßte Ingrid Matthäus-Maier, ehemalige stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Mitglied im ifw-Beirat und Sprecherin der "Kampagne gegen religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz", die Entscheidung und bezeichnete das Urteil als "Anfang vom Ende des kirchlichen Arbeitsrechts in Deutschland".
Die ständige Rechtsprechung des BVerfG, wonach nicht nur die Bestimmung der Eigenart des kirchlichen Dienstes, sondern auch der daraus folgenden Anforderungen an kirchliche Mitarbeiter als elementarer Bestandteil der korporativen Religionsfreiheit durch Art. 4 Abs. 1, 2 GG verfassungsrechtlich geschützt ist und den staatlichen Gerichten nur eine Plausibilitätskontrolle auf der Grundlage des glaubensdefinierten Selbstverständnisses der verfassten Kirche obliegt, ist nicht mehr haltbar (so bereits zum Egenberger-Urteil Junker, NJW 2018, 1850 m.w.N.).
Für die ca. 1,2 bis 1,7 Mio. Menschen, die potentiell von dem Urteil betroffen sind (fowid, Wohlfahrtseinrichtungen in Deutschland, 2016), bleibt nunmehr zu hoffen, dass
- das BAG sich der Auslegung des EuGH anschließen wird;
- das von dem beklagten Krankenhaus daraufhin sicherlich erneut angerufene BVerfG ebenfalls die Auslegung des EuGH und den Vorrang des Unionsrechts vor dem deutschen Grundgesetz anerkennt und
- sich die Kirchen und ihre Wohlfahrtseinrichtungen im Anschluss daran an die Vorgaben des EU-Rechts halten und ihre Praxis anpassen werden. Denn ein mindestens 10 Jahre dauernder Marsch durch die Instanzen ist keinem Betroffenen zumutbar.
Der deutsche Gesetzgeber sollte weiteren juristischen Auseinandersetzungen vorbeugen, indem er die einschlägige nationale Regelung des § 9 AGG reformiert, so dass diese im Einklang mit der Antidiskriminierungs-Richtlinie, wie sie vom EuGH interpretiert worden ist, steht.