EGMR: Keine Anwendung islamischen Rechts (Scharia) gegen den Willen eines Betroffenen
Mit Urteil vom 19. Dezember 2018 hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) einstimmig und rechtskräftig entschieden, dass die Anwendung islamischen Rechts (Scharia) in einer Erbrechtsstreitigkeit gegen den Willen des muslimischen Erblassers konventionswidrig ist (Beschwerde Nr. 20452/14, Molla Sali v. Greece). Der EGMR verurteilte Griechenland wegen Verletzung des Diskriminierungsverbots (Art. 14 EMRK) in Verbindung mit der Eigentumsgarantie (Art. 1 Zusatzprotokoll 1).
von Jacqueline Neumann (ifw)
Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin, eine griechische Staatsbürgerin muslimischen Glaubens, erbte nach dem Tod ihres muslimischen Ehemannes dessen gesamten Nachlass aufgrund eines notariellen Testaments, welches dieser verfasst hatte. Zwei muslimische Schwestern des Verstorbenen riefen daraufhin ein Gericht an, um das Testament für ungültig erklären zu lassen. Sie vertraten die Auffassung, dass vorliegend das islamische Erbrecht und nicht das griechische Zivilgesetzbuch zur Anwendung kommen müsste und der Vorgang in die Jurisdiktion eines islamischen Richters ("Mufti") fallen würde, da der Verstorbene Mitglied einer muslimischen Religionsgemeinschaft in Griechenland gewesen sei. Während die Witwe in den unteren Instanzen obsiegte, entschied der Kassationshof, dass Erbrechtsstreitigkeiten innerhalb der muslimischen Gemeinschaft vom Mufti unter Anwendung der Scharia entschieden werden müssten. Aufgrund dessen verlor die Beschwerdeführerin am Ende der juristischen Auseinandersetzung 75 Prozent des Erbes.
Urteil
Der EGMR wertete die Anwendung muslimischen Rechts als ungerechtfertigte Diskriminierung. Wäre der Verstorbene nicht Mitglied der muslimischen Gemeinschaft gewesen, hätte seine Frau das gesamte Vermögen geerbt. Lediglich aufgrund der Religionszugehörigkeit ihres Ehemannes wurde sie hier jedoch anders behandelt.
Der Gerichtshof betonte, dass das Recht auf Religionsfreiheit die Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht dazu verpflichte, ein Sonderrecht für Religionsgemeinschaften zu schaffen und diesen bestimmte Privilegien zu gewähren. Wenn ein Staat jedoch ein Sonderrechtsregime geschaffen habe, sei er verpflichtet, zu gewährleisten, dass mit dessen Anwendung keine Diskriminierungen einhergingen. Bezogen auf den vorliegenden Fall dürfe die Anwendung dieses Sonderrechts insbesondere nicht dazu führen, dass gegen den Willen des Erblassers, welcher sich entschieden hatte, ein Testament nach staatlichem Recht aufzusetzen, islamisches Recht auf den Erbvorgang zur Anwendung gelangt.
Die Versagung der Wahlfreiheit zwischen der Anwendbarkeit religiösen oder staatlichen Rechts, verletzt das Selbstbestimmungsrecht eines Mitglieds einer religiösen Minderheit in gravierender Weise. Jede Person, die einer nationalen Minderheit angehört, hat das Recht, frei zu entscheiden, ob sie als solche behandelt werden möchte oder nicht.
Kritik internationaler Organisationen an der Anwendung islamischen Rechts
Im Rahmen seiner Abwägung merkte der Gerichtshof überdies an, dass verschiedene internationale Organisationen ihre Besorgnis bezüglich der Anwendung islamischen Rechts anstelle des staatlichen Rechts auf die muslimische Minderheit in Griechenland geäußert hätten, da damit u.a. Diskriminierungen von Frauen und Kindern einhergingen. Der Menschenrechtsbeauftragte des Europarates hatte beispielsweise erklärt, dass die Anwendung islamischen Rechts auf familien- und erbrechtliche Streitigkeiten mit den internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen Griechenlands nicht in Einklang zu bringen sei. Auch in der griechischen Rechtsprechung sei, so der EGMR, umstritten, ob die Anwendung islamischen Rechts mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz und den internationalen Menschenrechtsstandards vereinbar sei.
Rechtsvergleichende Betrachtung
In dem EGMR-Urteil sind auch die folgenden rechtsvergleichenden Ausführungen interessant. Danach kommt islamisches Recht in den Mitgliedsstaaten des Europarates nur im Rahmen des internationalen Privatrechts zur Anwendung, d.h. wenn verschiedene nationalstaatliche Privatrechtsordnungen kollidieren. Hierbei wird das islamische Recht von europäischen Staaten jedoch nicht als solches angewandt, sondern als Bestandteil des staatlichen Rechts eines nicht-europäischen Staates. Einzige Ausnahme bildet Großbritannien. Hier gelangt gegenwärtig noch islamisches Recht durch Schariagerichte zur Anwendung. Dies jedoch nur dann, wenn die Anrufung freiwillig erfolgt. Die Urteile sind nach staatlichem Recht nicht bindend. Dementsprechend geht das staatliche Recht den Empfehlungen der Schariagerichte auch vor, wenn deren Entscheidungen nicht im Einklang mit dem staatlichen Recht stehen.
Soweit ersichtlich, war Griechenland das einzige Land in Europa, welches im entscheidungserheblichen Zeitpunkt islamisches Recht auf einen Teil seiner Bevölkerung gegen deren Willen angewendet hat.
Rechtsänderung in Griechenland Anfang 2018
Mit Befriedigung nehmen die Straßburger Richter deshalb auch zur Kenntnis, dass Griechenland Anfang 2018 seine Regelungen zur Anwendung islamischen Rechts auf familienrechtliche Streitigkeiten geändert hat. Die Anrufung eines Mufti bei Eheschließungen, Scheidungen und Erbangelegenheiten ist nach der Neuregelung nur noch dann möglich, wenn alle Betroffenen dem zugestimmt haben.
Bewertung
Das Urteil ist aus rechtsstaatlicher Sicht zu begrüßen. Die Feststellung, dass das Menschenrecht auf Religionsfreiheit die Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht dazu verpflichte, ein Sonderrecht für Religionsgemeinschaften zu schaffen und diesen bestimmte Privilegien zu gewähren, ist auch für die Debatte in Deutschland wichtig. Die Feststellung der Richter, dass in einem säkularen, demokratischen Rechtsstaat auf der Basis der Menschenrechte niemand gegen seinen Willen religiösem Recht unterworfen werden darf, ist zentral.
Wünschenswert wäre darüber hinaus eine klare Positionierung des EGMR dahingehend gewesen, dass religiöses Recht in einem Rechtsstaat auch dann nicht zur Anwendung gelangen darf, wenn es im Widerspruch zu den Grund- und Menschenrechten steht. Auf den Aspekt der Freiwilligkeit der Unterwerfung unter religiöses Recht kommt es dann nicht mehr an. Denn selbst wenn Entscheidungen religiöser Gerichte de jure rechtlich nicht bindend sind, können sie de facto aber eine überaus starke Bindungswirkung nicht nur für die Mitglieder der Religionsgemeinschaft, sondern durch die Zurückdrängung staatlicher Justiz auch für die sonstige Bevölkerung haben. Nicht zuletzt dürfte aufgrund des sozialen Gruppendrucks auch die "Freiwilligkeit" bei der Anrufung von Schariagerichten nicht immer gegeben sein.