LG Hamburg: Schwangerschaftsabbruch darf nicht mit dem Holocaust gleichgesetzt werden

Das Gericht gab mit dem Urteil vom 24.08.2020 (Az. 324 O 290/19) der Klägerin Kristina Hänel Recht. Es verurteilte den Beklagten zum Unterlassen diverser Äußerungen über dessen Website, sprach der Ärztin eine Entschädigung zu und stellte fest, dass die von Kristina Hänel durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche nicht mit dem Holocaust gleichgesetzt werden dürfen. Eine Analyse von Marcus Licht.

Hänel sah sich schon in den Jahren zuvor zahlreichen Bedrohungen, Beleidigungen und Diffamierungen für ihre Betätigung ausgesetzt, weil sie als Ärztin auch über Schwangerschaftsabbrüche informierte und diese durchführte. Besonders hervor stachen jedoch die Äußerungen des Beklagten über die von ihm betriebene Plattform "babycaust". Auf der Website bezeichnete der Beklagte die Ärztin als "entartet", behauptete sie "stoße das Tor zu Auschwitz auf" und verglich sie mit Wachleuten und Ärzten in Konzentrationslagern.

Die Entscheidung erging als Versäumnisurteil, gegen das ein Einspruch möglich ist, da der Anwalt des Beklagten nicht wie angekündigt per Video zugeschaltet wurde. Allerdings galt der Ausgang des Verfahrens als klarer Fall, der sich bereits in einem Beschluss des Landgerichts zur Prozesskostenhilfe abgezeichnet hatte. Schon dort stellten die Richter fest, dass mit der Gleichsetzung mit Mördern des Nationalsozialismus ein menschenunwürdiges Menschenbild verbunden sei. Auch mit dem auf der Rassentheorie der Nationalsozialisten beruhenden Begriff "entartet" werde der Klägerin das Recht, wie jeder andere zu leben, abgesprochen.

Das Urteil wurde auch deshalb begrüßt, weil es ein klares Zeichen gegen die Verharmlosung des Holocaust setze. Der Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, Christoph Heubner drückte seine Dankbarkeit dafür aus, dass Hänel die Klage gegen den Betreiber von "babycaust" angestrengt hatte. Die Art und Weise, wie der Abtreibungsgegner seine Überzeugungen auf der Internetseite verkünde, sei nicht nur für Überlebende des Holocaust unerträglich, so Heubner.

Der Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, Michael Schmidt-Salomon, äußerte sich zu dem Urteil über Facebook:

"Die Giordano-Bruno-Stiftung unterstützt es sehr, dass Kristina #Hänel gegen den Betreiber der Website "babycaust.de" klagt. In ihrem Buch "Letzte Hilfe - Ein Plädoyer für das selbstbestimmte Sterben" hatten die gbs-Autoren Uwe-Christian Arnold und Michael Schmidt-Salomon bereits 2014 gefragt, "warum es nicht dem Tatbestand der #Volksverhetzung entspricht, wenn die Ermordung jüdischer Männer, Frauen und Kinder ("Holocaust") mit der Entfernung empfindungsloser Embryonen beim Schwangerschaftsabbruch ("Babycaust") gleichgesetzt wird! Gibt es eine perfidere Weise, das Leid der Opfer des Nationalsozialismus zu bagatellisieren?"

Laut Medienberichten zeigte sich Hänel dankbar über das Urteil. Im Interview betonte sie noch einmal ihr Anliegen: Es gehe nicht, dass ein Staat dringend benötigte sachliche Informationen von Fachleuten verbiete, aber Fehlinformation, Hass und Hetze unter anderem mit unzulässigen Holocaustvergleichen zulasse. Sie sei dankbar, dass das Gericht eine deutliche Grenze gezeigt habe.

Darüber hinaus ist das Urteil nach Auffassung des ifw ein weiterer Etappensieg in dem Bestreben, das Vermitteln von Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen zu entkriminalisieren.

Hänel selbst war in einem Strafverfahren im November 2017 zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen verurteilt worden. Nicht weil sie Schwangerschaftsabbrüche durchführte, sondern weil sie auf der Website ihrer Praxis erklärt hatte, diese vorzunehmen.

Dieses Informationsverbot wurde in einem späteren Verfahren (in der Hänels Geldstrafe nach der "Reform" des § 219a StGB im März 2019 auf 25 Tagessätze abgesenkt wurde) sogar von der Vorsitzenden Richterin Enders-Kunze im Urteilsspruch mehrmals kritisch kommentiert:

"Es macht keinen Sinn, strafrechtlich eine sachliche Information zu einem medizinischen Eingriff zu verbieten. [...] Es fällt schwer, Argumente dafür zu finden, dass der 219a so ins Gesetz gekommen ist."

"Es ist sicher fraglich, ob der Paragraf 219a verfassungsgemäß ist"

"Was ist überhaupt das Rechtsgut, das geschützt werden soll?"

Dennoch musste das Gericht seiner Ansicht nach die Norm – da geltendes Recht und aufgrund einer Rückverweisung des Oberlandesgerichts, welches keine verfassungsrechtlichen Bedenken angemeldet hatte – anwenden.

Ob eine solche Strafnorm, die ein vollständig harmloses, der Meinungs- und Informationsfreiheit unterfallendes Verhalten unter Strafe stellt, verfassungsgemäß ist, wird das Bundesverfassungsgericht dank Hänels Kampfgeist demnächst verhandeln.

Auch Aspekte der weltanschaulichen Neutralitätspflicht des Staates werden hier, wie schon beim verfassungswidrigen Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe (§ 217 StGB), eine Rolle spielen. Denn die Ächtung von (straffreien) Schwangerschaftsabbrüchen und das mit der Strafnorm durchgesetzte Tabu, beruhen maßgeblich auf religiösen Motiven.

Während der Schwangerschaftsabbruch theologisch sowohl im Islam als auch im Judentum umstritten ist, wird er insbesondere von der katholischen Kirche vehement abgelehnt. Laut dem Katechismus der katholischen Kirche sind dem menschlichen Leben vom Augenblick der Empfängnis die Rechte der Person und unverletzlicher Schutz des Lebens zuzuerkennen.

Dies führte nicht selten zu Situationen, in denen in (mit Steuergeld finanzierten) katholischen Krankenhäusern der Einsatz von Abtreibungsmedikamenten wie "Mifepriston" oder sogar der lediglich empfangsverhütenden "Pille-Danach", unterbunden wurde.

Als 1974 erstmals der Schwangerschaftsabbruch in den ersten Monaten entkriminalisiert wurde, erfolgte dies gegen den erbitterten Widerstand der katholischen Kirche und der CDU, die gegen die sogenannte "Fristenregelung" erfolgreich Verfassungsbeschwerde einlegte.

In der Folgezeit konnte jedoch eine Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruches unter bestimmten Umständen durchgesetzt werden und in einem Urteil von 1993 stellte das BVerfG klar, dass die Rechte des ungeborenen Kindes auch mit der Menschenwürde der Mutter, ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit und ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abzuwägen sind (BVerfGE 88, 203).

Wie schon durch die Richterin Enders-Kunze festgestellt, ist ein vom § 219a StGB geschütztes Rechtsgut nicht nachvollziehbar ersichtlich. Letztlich dient die Norm nur dem Zweck, das gesellschaftliche Tabu von Schwangerschaftsabbrüchen aufrechtzuerhalten. Denn obwohl der Eingriff als medizinische Behandlung mittlerweile legalisiert ist - auch um die Menschenrechte der Mutter zu schützen - handelt es sich nach verbreiteter religiöser Sicht weiterhin um ein "schweres sittliches Vergehen".

Die beiden großen deutschen Kirchen setzten sich bislang erfolgreich gegen eine Streichung des § 219a StGB ein. Wenngleich in der evangelischen Kirche auch Stimmen für eine nicht-strafrechtliche Lösung laut werden, konnten diese sich bisweilen nicht durchsetzen.

Der Staat darf sich jedoch nicht zum Anwalt einer spezifischen Weltanschauung machen und deren Werte zur allgemeinverbindlichen Norm erheben, denn dies ist unweigerlich mit einem Verstoß gegen den Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität und das Diskriminierungsverbots der Verfassung (Art. 3 Abs. 3, Art. 4 Abs. 1, Art. 140 GG) verbunden.

Stattdessen muss sich der rechtsstaatliche Gesetzgeber an den Grundrechten orientieren. Hier sind sowohl die Menschenrechte der Mutter zu beachten, die durch die Abtreibungsmöglichkeiten direkt geschützt sind, als auch das Recht auf freien Zugang zu medizinischen Informationen und das Grundrecht der Meinungsfreiheit. In der damit einhergehenden Güterabwägung ist der § 219a StGB, auch in seiner Neufassung, unhaltbar.

Zur weltanschaulichen Problematik: Hauptartikel zu § 219a StGB