Zur weltanschaulich-religiösen Neutralität der Justiz und zum Kopftuch von Rechtsreferendarinnen

Einführung

Der Beschluss des 2. Senats zu einer Verfassungsbeschwerde wurde mit 7:1 Stimmen gefasst. Seine besondere Bedeutung besteht darin, dass er das Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität gegenüber der Glaubensfreiheit [Religionsausübungsfreiheit, Cz] entscheidend stärker gewichtet als der 1. Senat im Jahr 2015 in seiner umstrittenen Entscheidung zum Lehrerinnen-Kopftuch. Der 2. Senat schließt jetzt in der Neutralitätsfrage an sein Urteil zum Lehrerinnen-Kopftuch von 2003 an und führt diese Linie für den Bereich der Justiz weiter.

Die Leitsätze der umfangreichen Entscheidung sind lesenswert.

Im Streitfall war eine muslimische Rechtsreferendarin gezwungen, ihre Juristenausbildung während der jeweils zeitlich begrenzten Dauer von wenigen Tätigkeiten, in denen sie als Repräsentantin des Staats, also dienstlich, öffentlich wahrnehmbar war, kein Kopftuch zu tragen. Es ging insbesondere um staatsanwaltschaftlichen Sitzungsdienst oder die Leitung einer Sitzung im Rahmen der öffentlichen Verwaltung.

Die Beschwerdeführerin (Bf.) konnte die Verfassungswidrigkeit trotz Abschlusses ihrer praktischen Ausbildung prozessual geltend machen. Denn ein Rechtsschutzbedürfnis ist nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG auch dann gegeben, wenn die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung andernfalls unterbleibt und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint. Letzteres, kann man einwerfen, ist immerhin fraglich, denn abgesehen von den allenfalls wenigen Repräsentationsfällen konnte die Bf. ja ihre regulären Ausbildungsveranstaltungen (Kurse, Klausurprüfungen, Besprechungen) mit Kopftuch besuchen. Ob das teilweise Trageverbot wirklich besonders belastend war, ist Frage des Einzelfalls und der Glaubhaftmachung.

Die äußerst sorgfältigen Entscheidungsgründe im engeren Sinn umfassen etwa 25 Seiten, so dass hier nur wesentliche Punkte der Argumentation des Senats herausgegriffen werden können.

Glaubensfreiheit und ihre Einschränkbarkeit

Auch Rechtsreferendare können sich laut 2. Senat wie alle Staatsbediensteten auf die Glaubensfreiheit (Art. 4 I, II GG) berufen. Unter Berücksichtigung des Selbstverständnisses auch der Grundrechtsträgerin sei die religiöse Betroffenheit hinreichend plausibel. Der Grundrechtseingriff sei aber gerechtfertigt. Als Rechtfertigung kämen die weltanschaulich-religiöse Neutralität, die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und die Religionsfreiheit Dritter in Betracht. Die an sich hilfreiche neuerliche kompakte Darstellung des Neutralitätsbegriffs (Rn 87 f.) bringt aber nichts Neues. Wieder wird die undifferenzierte Formel wiederholt, Neutralität sei nicht distanzierend, sondern bedeute eine "die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung", ohne dass die Selbstverständlichkeit erwähnt würde, dass das auch die gleichberechtigte Förderung nichtreligiöser Weltanschauung bedeutet. Auch, was eine dabei unzulässige "gezielte Beeinflussung" konkret bedeutet, wird nicht ausgeführt.

Neutralität in der Justiz

Neutralität bedeutet laut Beschluss insbesondere, dass auch Amtsträger neutral sein müssen. Der Staat muss sich aber, je nach den Einzelfallumständen, nicht jedes Handeln eines Amtsträgers zurechnen lassen. Der Senat beschreibt ausführlich Fragen der Selbstdarstellung des Staats im Gerichtssaal [ohne ausdrücklichen Hinweis auf die Problematik der Kreuze in Gerichtssälen, Cz], die neben Bestimmungen der Prozessordnungen das Vertrauen in die Neutralität und Unparteilichkeit der Gerichte stärken sollen: die richterliche Dienstpflicht, eine Amtstracht zu tragen, die Gestaltung des Gerichtssaals. Die formalisierte Situation im Gerichtssaal weise den Amtsträgern eine auch äußerlich Distanz und Gleichmaß betonende Rolle zu. In dieser Situation könne aus Sicht eines objektiven Betrachters das Tragen eines islamischen Kopftuchs während der Verhandlung durch Richterinnen und Staatsanwältinnen als "Beeinträchtigung der weltanschaulich-religiösen Neutralität" dem Staat zugerechnet werden. Zwischen dieser Problematik und dem persönlichen Grundrecht sei daher eine Abwägung vorzunehmen.

Funktionsfähigkeit, Justizvertrauen, Unparteilichkeit

Als weitere Grundrechtsschranken seien die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und das Vertrauen in die Justiz insgesamt zu berücksichtigen. Wörtlich: Der Staat darf zur Optimierung "Maßnahmen ergreifen, die die Neutralität der Justiz aus der Sichtweise eines objektiven Dritten unterstreichen sollen. Das Verbot religiöser Bekundungen oder der Verwendung religiöser Symbole durch den Staat und seine Amtsträger kann  – wenn es sich gleichheitsgerecht auf alle Äußerungen und Zeichen im Gerichtssaal bezieht (vgl. BVerfGE 108, 282 <313>; 138, 296 <346 ff. Rn. 123 ff.>) – insoweit legitimer Ausdruck einer solchen Konzeption sein …" Rn 92). Die öffentliche Kundgabe von Religiosität sei geeignet, "das Bild der Justiz in ihrer Gesamtheit zu beeinträchtigen". Im Gerichtssaal tritt der Staat dem Bürger "klassisch-hoheitlich und daher mit größerer Beeinträchtigungswirkung gegenüber".

Aus Art. 20 II 2, III sowie 92, 97 und 101 I 2 GG ist insgesamt die Garantie der richterlichen Unparteilichkeit zu entnehmen. Sie erfordert Neutralität und Distanz gegenüber allen Verfahrensbeteiligten. Das entspricht dem Maßstab des Art. 6 I EMRK [Recht auf faires Verfahren, unparteiisches Gericht]. Der Gesetzgeber muss durch Verfahrensregelungen möglichst die Neutralität und Distanz der Richter sichern. Zu einer Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit "genügt bereits der ‚böse Schein‘ mangelnder Objektivität, der in der Außenwahrnehmung das Vertrauen in die Richterrolle beeinträchtigt (vgl. BVerfGE 20, 1 <5>; 82, 30 <38>; stRspr)" (Rn 98).

Andererseits räumt der Senat ein: "Das Verwenden eines religiösen Symbols im richterlichen Dienst ist für sich genommen indes nicht geeignet, Zweifel an der Objektivität der betreffenden Richter zu begründen … Ebenso wenig, wie die Zugehörigkeit eines Richters zu einer politischen Partei für sich allein die Besorgnis der Befangenheit begründen kann … , ist dies bei seiner Religions- oder Konfessionszugehörigkeit der Fall." Nur bei entscheidender Bedeutung der religiösen Einstellung könne die Zurschaustellung religiöser Symbole auf der Richterbank die Besorgnis der Befangenheit im Einzelfall begründen. [Hier stellt sich aber die Frage, ob es von Verfassungs wegen zulässig sein kann, dass Richter beim Fehlen besonderer Fallumstände berechtigt sein könnten, kleine Kreuze, Parteiabzeichen usw. sichtbar zu tragen.]

Kopftuch, Religionsfreiheit, Schranken

Bei einem vorbeugend wirkenden staatlichen Verbot äußerer religiöser Bekundungen sei der Glaubensfreiheit der Amtsträger ein hoher Wert beizumessen, wobei ein Spielraum bestehe. Bei der konkreten Fallbeurteilung ging es darum, dass auch für Referendare das Landesbeamtengesetz gilt. Demnach dürfen sie solche Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale nicht tragen oder verwenden, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden zu gefährden.

Die Bf. halte sich für religiös verpflichtet, stets ein Kopftuch zu tragen. Da es im Christentum keine vergleichbare Pflicht gebe, sei sie durch ein Verbot besonders betroffen. Allerdings gehe es nur um wenige einzelne Tätigkeiten (staatsanwaltschaftlicher Sitzungsdienst, Leitung verwaltungsrechtlicher Sitzungen), auf deren Wahrnehmung kein Anspruch bestehe und die auch keinen Einfluss auf die Bewertung hätten. Bei dieser konkreten Sachlage sei das partielle Kopftuchverbot nicht zu beanstanden gewesen, hätte aber nach dem GG auch unterbleiben können.

Die gesetzliche Vorschrift, wonach objektiv neutralitätsschädliche Kleidung usw. nicht getragen werden darf, wird eingeschränkt durch die Klausel, bei der Beurteilung des Vorliegens des Verbotstatbestandes sei die christlich-humanistische Tradition angemessen zu berücksichtigen. Das hält der Senat für verfassungskonform-einschränkend auslegbar.

Würdigung

Es ist viel von Neutralität die Rede, leider aber nicht vom schlichten Kern des  Neutralitätsgebots: Es verfügt die Gleichbehandlung aller religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen, soweit sie mit den entscheidenden Grundprinzipien des GG vereinbar sind. Erst hier beginnen die Rechtsanwendungsprobleme mit vielen Varianten. Angesichts des von einer Professorenminderheit in der Substanz angegriffenen Neutralitätsgebots und einer oft inkonsequenten Rechtsprechung wäre die Erwähnung dieser Selbstverständlichkeit im Maßstäbeteil der Gründe vielleicht nützlich gewesen. Die im Gerichtswesen ungewöhnliche, aber beim BVerfG traditionelle Aufteilung der Gründe in einen Maßstäbeteil (mit allgemein-orientierenden lehrbuchartigen Ausführungen) und einen Subsumtionsteil (mit konkretisierender Anwendung auf den Einzelfall) erschwert auch hier die Lesbarkeit. Unklar erscheint dem Rezensenten, ob und inwieweit Richter beim Fehlen eines gesetzlichen Verbots Symbole tragen dürfen.

Insgesamt ist die Entscheidung ein Meilenstein der Verfassungsrechtsprechung. Mit diesem Fall und dem zum assistierten Suizid hat sich Präsident Voßkuhle ein Denkmal gesetzt. Wie wichtig ihm diese Fälle waren, sieht man schon an der beim BVerfG seltenen umfangreichen Literaturverarbeitung. Deutlich setzt sich die jetzige Kopftuchentscheidung von der des 1. Senats aus dem Jahr 2015 ab. Aus der Entscheidung ergibt sich übrigens – wenn auch leider unausgesprochen – deutlich, wie grotesk es ist, vom Richter absolute Neutralität zu verlangen, Gerichtssäle aber mit dem christlichen Kreuzsymbol auszustatten. Bleibt nur zu hoffen, dass das so zentrale Neutralitätsgebot im Anschluss an diese Entscheidung endlich auf Dauer die Bedeutung erhält, die ihm zukommt.

Gerhard Czermak, 1.3.2020