Religionsverfassungsrecht konservativ-affirmativ - Zur Neuauflage eines juristischen Lehrbuchs
Nach sechzehn Jahren ist die Neuauflage des seit Jahrzehnten etablierten und lange einzigen Lehrbuchs des Staatskirchenrechts von Axel v. Campenhausen erschienen. Die jetzige 5. Auflage hat erstmals den Haupttitel Religionsverfassungsrecht und ist diesmal vollständig von Heinrich de Wall, Inhaber des Lehrstuhls für Kirchen-, Staats- und Verwaltungsrecht in Erlangen-Nürnberg überarbeitet worden. Mittlerweile gibt es drei weitere vergleichbare einschlägige Lehrbücher mit den Titeln Religionsrecht (C. D. Classen), Religions- und Weltanschauungsrecht (G. Czermak; alternatives Lehrbuch) und Religionsverfassungsrecht (P. Unruh). Daher durfte man die Neuauflage des v. Campenhausen/de Wall interessiert erwarten.
De Wall hat die Grundstruktur des Bandes beibehalten. Seine kirchenfreundliche, d. h. nach hiesigem Verständnis nicht neutrale Gesamttendenz zeigt sich schon in der relativ ausführlichen Darstellung zum nationalsozialistischen Kirchenregime (S. 36-40), weil in ihr die Kirchenfeindschaft des Regimes und der Kirchenkampf betont werden, während die (insbesondere von protestantischen Gelehrten) gut erforschten abgründigen Verstrickungen der Kirchen in das Regime ganz ausgeblendet werden. Im rechtlichen Teil zeigt sich diese Tendenz des Buchs in vielerlei Hinsicht. Schon bei den Rechtsquellen wird das Vertragsstaatskirchenrecht als wichtige Quelle des Religionsverfassungsrechts bezeichnet, die auch eine Verständnishilfe bedeute. Das ist rechtlich problematisch, weil die Verträge traditionell in Landesgesetze transformiert werden, die ja nicht verfassungsfest, sondern dem GG unterworfen sind. Die vertragliche Übernahme gemeinsamer Verantwortung von Staat und Kirche sowie die vertragliche Würdigung des christlichen Glaubens und diakonischen Dienstes (S. 56) beanstandet de Wall ebenso wenig wie die Betonung der Festigung des freundschaftlichen Verhältnisses von Staat und Kirche (S. 171), dies obwohl er andererseits die religiöse Inkompetenz des neutralen Staats hervorhebt (S. 170).
Ein gewichtiger Schwerpunkt jeder religionsverfassungsrechtlichen Gesamtdarstellung ist naturgemäß die Erörterung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit mit ihren zahlreichen Facetten und dogmatischen Problemen einschließlich des Verhältnisses von Art. 4 und 140 GG – so auch hier. Dabei fällt auf, dass der Gesichtspunkt der Freiheit von staatlicher religiös-weltanschaulicher Beeinflussung hier wie im gesamten Buch keine Rolle spielt. Auf S. 86 heißt es nur, in der Schule dürften die Kinder "dem Wind der Auseinandersetzung" ausgesetzt werden, solange keine religiös-weltanschauliche "Indoktrination" erfolge. Der Staat habe Neutralität zu bewahren (S. 88). Dazu erklärt de Wall hinsichtlich des Kreuzes im Klassenzimmer aber, es hätte beim Kruzifix-Beschluss des BVerfG von 1995 nahegelegen, den Anblick des Kreuzsymbols als nur minimales und daher zulässiges Zwangselement einzustufen. Ein Eingriff liege aber vor (so S. 90). Zum bayerischen Erlass von 2018 betreffend das Aufhängen von Kreuzen in Behörden erklärt de Wall, bei abstrahierender Bedeutung sei das Kreuzsymbol mit der Neutralität vereinbar und habe auch wegen der Flüchtigkeit des Anblicks keinen appellativen Charakter. (Ganz anders urteilt demgegenüber z. B. Oebbecke im Handbuch des Staatskirchenrechts, 3. A. 2020, S. 1657.)
Erstmals enthält die Neuauflage 2022 einen eigenen Paragraphen "Gleichheit und Neutralität", wobei die Neutralität auf nur drei Seiten behandelt wird. Sie wird verstanden als lediglich beschreibende Kategorie ohne inhaltlichen Mehrwert gegenüber den einschlägigen Normen des GG. Der Begriff biete aber eine plastische Umschreibung des Verhältnisses Staat/Religion. Ihm komme eine Art "Kompasswirkung" zu, die eine Richtung zur Auffindung eines Ergebnisses weise (S. 103 f). Zur objektiven Rechtsbindung der Neutralitätsgesichtspunkte sagt de Wall leider nichts. Im Gegensatz zur Neutralitätsproblematik ufert der Paragraph zum Verbot der Staatskirche mit 12 S. regelrecht aus, wobei die Aussagekraft eher gering ist. Dass die religiöse und ebenfalls die weltanschauliche Überzeugung "die größtmögliche Entfaltungsmöglichkeit genießen soll" (S. 110), und der Bürger die Wahl haben soll, welche weltanschauliche Atmosphäre ihm in Schule, Krankenhaus oder Altersheim am besten zusagt (S. 111), dürfte angesichts der nicht erörterten einseitigen Faktenlage ein Lippenbekenntnis sein. Belange der Nichtreligiösen werden im Buch ansonsten nämlich allenfalls pauschal erwähnt. In der Kritik an zu weitreichender Zusammenarbeit zwischen Staat und Konfessionen sieht de Wall pauschal ein laizistisches Missverständnis, das er mit den Namen Czermak und Renck personifiziert. Dabei haben beide noch nie rechtlich-laizistische Positionen vertreten.
Rechtliche Probleme, die für die Kirchen unangenehm sein könnten, zu sehen oder gar zu vertiefen, ist nicht Sache des Verfassers. Der neutrale Staat sei in religiös-weltanschaulicher Hinsicht inkompetent (S. 170), aber das Vertragswesen enthalte nicht die Gefahr, das Einmischungsverbot zu verletzen. Beim mit dem Körperschaftsstatus verbundenen einfachrechtlichen Privilegienbündel sieht der Verfasser keine Probleme, zumal die Gleichheitssätze einzuhalten seien (S. 323). Die meist recht fragwürdigen Ungleichbehandlungen von privat- und öffentlich-rechtlich organisierten Religionsgemeinschaften sieht de Wall nicht. Kein Problem sind ihm auch die Offenlegung der Konfession bei der Lohnkirchensteuer, das Besondere Kirchgeld, der staatliche Kirchensteuereinzug und die beamteten Militärseelsorger. Insgesamt bleibt das tatsächliche System des Religionsverfassungsrechts, so wie es sich in der Rechtsprechung und Gesetzgebung durchgesetzt hat, unangetastet, auch dort, wo bekannte Religionsrechtler deutliche Kritik üben.
Auch die Neuauflage ist inhaltlich besonders breit gefächert. Der Raumgewinn, der aus dem ungewöhnlichen völligen Entfall des Literaturverzeichnisses (in der 4. A. ca. 40 S.) resultiert, wird aber insofern nicht genutzt, als viele §§ längere allgemeine Ausführungen enthalten, die für Verständnis und Information entbehrlich erscheinen. Rechtsdogmatischen Ungereimtheiten wird keine besondere Beachtung geschenkt. Die umfangreich im Fußnotenapparat nachgewiesene Literatur ist häufig stark veraltet, während aktuelle Literatur vergleichsweise spärlich vertreten ist. Manche Autoren werden trotz vieler Veröffentlichungen auffällig ignoriert.
Wer sich breit informieren will, wird auch in der Neuauflage oft fündig werden. Wer aber Wert auf eine kompaktere und dogmatisch schärfere Darstellung legt, wird mit einem der eingangs genannten Lehrbücher wohl besser bedient sein. Wer zudem, über die Darstellung der Rechtsprechung des BVerfG hinaus, generell ein Bedürfnis nach Erörterung rechtsdogmatischer Ungereimtheiten hat, sollte das Lehrbuch von Czermak/Hilgendorf besonders in Erwägung ziehen.
Von Campenhausen/de Wall, Religionsverfassungsrecht, 5. Aufl. München 2022. Ein Studienbuch, 420 S. – ISBN Print 978 3 406 70618 9. € 39,80.
2. Juni 2023