Eine Replik von Rolf D. Herzberg: Die Kirche wieder einmal am Pranger?

Unser ifw-Beirat Rolf Dietrich Herzberg repliziert an dieser Stelle auf den F.A.Z.-Leserbrief von Kardinal Paul Josef Cordes:

In einem F.A.Z.-Leserbrief vom 10.03.2023 sieht Kardinal Paul Josef Cordes "die katholische Kirche wieder einmal an den Pranger" gestellt. Daniel Deckers hatte in der F.A.Z. vom 03.03.2023 von Vertuschung, Verleugnung und Verdrängung gesprochen und "das systemische wie persönliche Versagen ganzer Bischofsgenerationen in ihrem ureigenen Verantwortungsbereich" beklagt. Natürlich ging es um den sexuellen Missbrauch, verübt von Priestern an Kindern und Jugendlichen. Cordes nennt diese Straftaten "beschämende Ärgernisse der Pädophilie" und deutet den Vorwurf der Vertuschung als den der "Strafvereitelung" (§ 258 des Strafgesetzbuches), begangen durch Unterlassen, d.h. dadurch, dass die Bischöfe in Verdachtsfällen "keine rechtlichen Schritte" eingeleitet und "nicht gleich das öffentliche Gericht angerufen haben". Daniel Deckers zeihe so "verantwortliche Bischöfe eines staatlich strafbaren Vergehens". Diesen Vorwurf hält Cordes zwar nicht generell, wohl aber bei "zurückliegenden Taten" für "irrig und ungerecht".

Strafvereitelung durch das Unterlassen einer Strafanzeige? Das ist eine Rechtsfrage. Das Delikt wäre zu bejahen, wenn der Bischof durch sein Nichtanzeigen die Voraussetzungen der §§ 258 Abs. 1, 13  StGB erfüllen würde. Das ist nicht der Fall, weil ein Bischof nicht "rechtlich dafür einzustehen hat" (§ 13 StGB), dass ein ihm untergebener, straffällig gewordener Priester der gerichtlichen Bestrafung zugeführt wird. Er ist insoweit, wie die Juristen sagen, kein "Garant", er ist kein Diener der Strafrechtspflege. Das gilt allgemein, auch für ein bischöfliches Schweigen in neuester Zeit.

Cordes sieht es anders. Er beruft sich auf den Philosophen Hans-Georg Gadamer, der über "zurückliegende Taten" nachgedacht hat. Wenn ich Cordes richtig verstehe, leitet er aus Gadamers Gedanken eine zeitliche Unterscheidung ab: Die Bischöfe haben durch ihr Unterlassen noch keine Strafvereitelung begangen, als das Missbrauchsgeschehen noch nicht durch Aufdeckung seines Umfangs zum öffentlichen Skandal geworden war. Zu bejahen ist das Delikt aber, so muss man folgern, wenn heute ein Bischof von sexuellen Übergriffen eines untergebenen Klerikers erfährt und dies der Justiz nicht anzeigt.

Der Kardinal beantwortet in dieser Weise eine Rechtsfrage, ohne ins Gesetz zu blicken, gleichsam ins Blaue hinein und prompt fehlerhaft, zulasten seiner Kirche. Der Zeitpunkt spielt nämlich, wie gesagt, keine Rolle. Durch das bloße Nichtanzeigen eines tatverdächtigen oder notorisch übergriffigen Priesters begeht der Bischof, dem der Priester Gehorsam schuldet, keine Strafvereitelung, einerlei in welche Zeit die Unterlassung fällt.

Paul Josef Cordes hat Deckers' Angriff auf die Bischöfe aber missverstanden . Wenn Daniel Deckers vom "ureigenen Verantwortungsbereich" der Bischöfe spricht, dann meint er nicht ihre Verantwortung für die Strafrechtspflege, sondern die für die Vermeidung sexueller Übergriffe seitens gehorsamspflichtiger Priester und anderer Untergebener im Bistum. Insoweit hat der Bischof aber durchaus im Sinne von § 13 StGB "rechtlich dafür einzustehen", dass der schlimme "Erfolg" eines sexuellen Übergriffs "nicht eintritt". Das läuft auf den rechtlichen Befund hinaus, dass ein Bischof durch Inkaufnahme von Sexualdelikten eines seiner Priester an jungen Menschen sich selbst strafbar machen kann; und zwar wegen Beihilfe ( § 27 StGB) zu diesen Delikten, sei es begangen durch Unterlassen oder sogar durch aktives Tun, etwa wegen der Ermöglichung weiterer Taten durch Versetzen eines auffällig gewordenen Priesters in eine andere Gemeinde. Ein aktuelles Beispiel bietet uns der Fall des früheren Münchener Erzbischofs Friedrich Kardinal Wetter. Die Süddeutsche Zeitung berichtet im März 2023: "Die Staatsanwaltschaft ermittelt, ob der frühere Erzbischof zuließ, dass ein Missbrauchstäter weiter Kontakt zu Kindern hatte. 1962 war dieser als Kaplan der Pfarrei St. Maximilian verurteilt worden". Die schnelle Einstellung des Verfahrens will ich unbeurteilt lassen.

Solch ein Fall, der hier ausnahmsweise schon die Justiz beschäftigt hat, veranschaulicht den Kern der strafrechtlichen Mitverantwortung von Bischöfen. Sie können strafbar sein wegen Beihilfe zu Sexualdelikten, die ihre Priester begangen haben. Paul Josef Kardinal Cordes sieht das nicht oder will es nicht sehen. Er beschränkt seine Apologie lieber auf die partielle Abwehr des Vorwurfs der Strafvereitelung, der ohnehin gegenstandslos ist und den Daniel Decckers gar nicht erhoben hat. So bleibt die Anklage des Kardinals ohne Begründung. Ein Vorwurf, der nicht erhoben wird, kann die Kirche nicht an den Pranger stellen. Aber dieses Bild, welches der Kardinal von seiner Kirche malt, missfällt mir ohnehin, ja es empört mich, auch soweit die Kirche sich tatsächlich von schweren Vorwürfen betroffen sehen muss. Wer am Pranger steht, erfährt Schmerz und Leid, er ist ein Opfer. Und wer im Missbrauchsskandal ganz gewiss kein Opfer ist, oder auch: Die Opferrolle nicht spielen darf, das ist die römisch-katholische Kirche.