Rezension zu Isensee: Staat und Religion. Abhandlungen aus den Jahren 1974-2017

Josef Isensee: Staat und Religion. Abhandlungen aus den Jahren 1974-2017 (Hg. Ansgar Hense)

Rezension von Dr. Gerhard Czermak, Friedberg/Bayern

Der Band umfasst die wesentlichen Teile der vom nunmehr über 80-jährigen Autor verfassten Texte zur Thematik Staat-Religion-Kirche. Er ist sogar noch umfangreicher als der erst 2018 erschienene Band mit gesammelten Abhandlungen Isensees zur Staats- und Verfassungstheorie ("Staat und Verfassung"). Der erst kürzlich erschienene Band verdient schon deswegen Beachtung, weil Isensee, zusammen mit Paul Kirchhof auch Mitherausgeber des jetzt 13-bändigen Handbuchs des Staatsrechts, einer der öffentlichkeitswirksamsten deutschen Staatsrechtslehrer ist. Er ist auch Träger des Ehrenrings der katholischen Görres-Gesellschaft. Dass der Katholizismus in der Person des Verfassers tief verankert ist, kommt auch in den hier zu erörternden gesammelten Schriften klar zum Ausdruck. Gerade das kann von Interesse sein für jemand, den das Denken eines solchen Juristen in diesem speziellen Gesamtzusammenhang interessiert und der eine Einordnung im Vergleich mit anderen Religionsrechtlern anstellen möchte.

Bei den 30 Texten handelt es sich um oft längere Abhandlungen, z. T. monographischen Charakters, aber auch vereinzelt um Zeitungsartikel. Sie wurden in den verschiedensten Büchern und Fachzeitschriften, auch nichtjuristischen, publiziert, oft in Festschriften. Man kann die sieben thematisch gegliederten Abschnitte des Bandes grob aufteilen in einen mehr allgemeinen und theoretischen Teil und einen Teil mit praktisch-juristischen Themenstellungen. Dazu gehören auch (kirchen)historische und innerkirchliche Auseinandersetzungen und Entwicklungen im katholischen Bereich. Insgesamt wird das Augenmerk im juristischen wie außerjuristischen Bereich durchwegs oder fast immer nur auf die großen Kirchen gelenkt. Andere Religionsgemeinschaften spielen nur am Rande, nichtreligiöse Gemeinschaften keine Rolle. Eine Ausnahme macht der Islam, dem drei Aufsätze gewidmet sind.

Gleich im einleitenden Aufsatz zum christlichen Erbe in Europa (JZ 2015) wird die Ansicht vertreten, die europäische Identität ergebe sich aus der gemeinsamen Verfassungssubstanz der Mitgliedstaaten, die Kind des "zutiefst" vom Christentum geprägten europäischen Geistes sei. Isensee betont die Säkularität der EU mit gleichem grundrechtlichem Mindeststandard für alle Religionen und Weltanschauungen. Die Gottesklausel in verschiedenen Verfassungspräambeln von Mitgliedstaaten bestätige geradezu den säkularen Charakter der Verfassung als bloßes Menschenwerk. Gottesklauseln hätten "überhaupt keine unmittelbar praktische Relevanz". Die Demutsgeste des Gottesbezugs hätte der EU aber gut angestanden (S. 10). Die EU lasse religiöse Parität nach Maßgabe ihrer realen Bedeutung zu (12). Isensee sieht [übertrieben, Cz] die latente Gefahr, "daß die säkulare Regierungswalze über religiöse Besonderheiten hinwegrollt und das geistliche Proprium zerquetscht" (13 f.). Der Wertekatalog der EU sei "in einem hohen Grade durch das Christentum vorgeprägt" (18). S. 18 ff. wird die These begründet: "Die Geschichte des Christentums ist von Anfang an ein Prozeß der Aufklärung" (18). Wesentliche Züge der modernen Menschenrechte gründeten im Menschenbild des Christentums (23). Wörtlich: "Die Schöpfungs- und Erlösungslehre begründet die Würde des Menschen … für jeden einzelnen, der … zum ewigen Heile berufen …" sei. Zustimmend zitiert der Autor Martin Mosebach mit der Aussage, bei der ungläubig gewordenen Gesellschaft sei ihr moralisches Eigengewicht noch nicht feststellbar (25). Der europäische Staat habe selbst in seiner säkularsten Variante religiösen Charakter. Ungeachtet der dazu erforderlichen Kritik fragt sich, ob aus den Ausführungen irgendetwas rechtlich gefolgert werden kann. Isensee sagt selber, dass die Besinnung auf das christliche Erbe kein rechtlicher, sondern ein symbolischer Akt zur Schaffung einer europäischen Seele sei (27). Dass diese im Kern insgesamt m. E. etwas unwirklich klingenden Aussagen aber doch auf etwaige rechtliche Wirkungen zielen, klingt an, wenn zuvor ausgeführt wird, der Staat könne die christlichen Denktraditionen im Rahmen seiner Verfassung "unter Wahrung seiner Neutralitäts- und Paritätspflichten" fördern. Es gehe um die Anerkennung und Unterstützung religiöser Aktivitäten als "gemeindienlich" (26).

Die Frage, ob bzw. inwieweit eine differenzierte Förderung je nach Gemeinwohldienlichkeit ein zulässiges Kriterium sein kann, wird gar nicht erst gestellt. Auch zum dazugehörigen Neutralitätsbegriff wird nichts ausgesagt. Zwar enthält das – sehr anerkennenswerte – Sachregister fast 50 Fundorte für den verfassungsrechtlichen Zentralbegriff "Neutralität, religiös-weltanschauliche", aber sie sind alle nur verbal, d. h. ohne substanzielle Aussage. Das ist in einem derart umfangreichen Opus höchst bedauerlich.

Aus den vielen Aufsätzen können im Übrigen nur Einzelpunkte herausgegriffen werden. Ein weiterer Grundlagenaufsatz befasst sich mit dem langen Weg bis zur Konzilserklärung über die Religionsfreiheit von 1966. Zu den Kernthesen gehört die Behauptung, die Menschenrechte seien ein geschichtliches Derivat des Christentums, die christliche Vorprägung der Gesellschaft sei "eine soziokulturelle Voraussetzung für den Verfassungsstaat, obwohl die katholische Kirche gegen seine wesentlichen Elemente gekämpft habe. Heute habe sie den Ausgleich zu den Menschenrechten gefunden "und das in ihnen verkörperte Erbe der Aufklärung sich anverwandelt und zu eigen gemacht" (34 f.). Die "Selbstsäkularisation" der Kirche gefährde den Verfassungsstaat, weil die christliche Religion "das Gewissen der Menschen schärft und ihnen sittliche und religiöse Maßstäbe vermittelt" (64 f.).

Verdienstvoll ist der Abdruck der nunmehr leicht zugänglichen Abhandlung "Keine Freiheit für den Irrtum (1998), der sich mit der Ablehnung der Menschenrechte durch die katholische Kirche im 19. Jh. befasst. Es schließt der Aufsatz "Versteckter Dissens" zum nur unvollkommenen Ausgleich mit der menschenrechtlichen Moderne (2017) an. Isensee beklagt die Verdunstung des kirchlichen Propriums. Die Kirche vermöge nämlich viele ihrer sittlichen Forderungen der säkularen Umwelt zustimmungsfähig zu vermitteln. Umgekehrt kritisiert es Isensee aber, wenn sich kirchliche Hierarchen in Sachen Geld oder Behandlung Abhängiger von den säkularen rechtlichen Standards freizeichnen. Das Kirchenrecht müsse einem Missbrauch kirchlicher Macht vorbeugen.

Rätsel gibt der Schlussabschnitt des Aufsatzes zur Gottesklausel auf, wenn einerseits die GG-Präambel keinen religiösen, insbesondere keinen christlichen Staat aufrichte und die Verfassung nur Legalität, nicht aber Religiosität fordere, andererseits Religion eine Verfassungsvoraussetzung und deswegen "der Staat zu religionsfreundlichem Verhalten verpflichtet" sei (162). Dass der Staat auch freundlich gegenüber nichtreligiösen Weltanschauungen ist, sagt Isensee nicht.

Der wohl eigenwilligste Aufsatz ist der von 1996 zum Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Einleitend fragt Isensee, ob das Gericht seinem richterlich-fachjuristischen Anspruch genüge und stellt die Bindungswirkung der Entscheidung infrage, weil die Begründung unklar und widersprüchlich sei (163-165). Der Text enthält folgende Aussagen: "Der Schüler ist dem Wandkreuz gegenüber frei, ob er es wahrnimmt oder ignoriert" (173). Die Religionsfreiheit werde "nicht thematisch berührt" (171). Ein Grundrechtstatbestand liege weder nach Art. 4 noch nach Art. 2 I GG vor. Das Kreuz sei lediglich Ausdruck staatlicher Selbstdarstellung, das Kreuzsymbol verkörpere ein Stück seiner Identität. Das GG übertrage die Schulmaterie den Ländern, so dass Art. 4 den Spielraum nicht auf Null reduziere. Daher könnten konfessionsgebundene Bekenntnisschulen auch Regelschule sein, eine Ansicht, die selbst der kirchenhörige BayVerfGH 1967 nicht mehr zu teilen vermochte. Im Schlussabsatz heißt es, der nicht lege artis zustande gekommene Beschluss vermittele den "Eindruck kulturrevolutionärer Provokation" (178). Die Tatsache, dass diese juristische Unmutsbekundung mit der ausdrücklichen Billigung Isensees und ohne relativierenden Nachtrag in die Sammlung aufgenommen wurde, beweist, dass der Autor noch knapp 25 Jahre nach der Gerichtsentscheidung zu dem Text steht.

In einem großen interessanten Aufsatz über verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche (1991) erkennt Isensee klar die sehr ungünstig gewordene gesellschaftliche Position der Kirchen und gesteht ein, dass die Einheit des säkularen Staats nicht mehr auf der Religion, sondern auf der Religionsfreiheit beruht und das Christentum nur noch ein Element in der pluralen Welt darstellt. Ungewiss bleibt, ob das von irgendeiner rechtlichen Bedeutung sein kann. Trotz seiner Sorge um die Legitimation des "Staatskirchenrechts" begrüßt Isensee die heute fast berüchtigte arbeitsrechtliche Entscheidung des BVerfG zum Buchhalter- und Assistenzarztfall (1985) ohne differenzierende Anmerkung. Am Schluss der Ausführungen über den Legitimationsdruck des Staatskirchenrechts erklärt der Autor hellsichtig: "Was Verfassungsinterpretation gibt, kann Verfassungsinterpretation wieder nehmen. Legitimation ist permanent vonnöten" (225).

In einem Aufsatz über das moralische Risiko der Zusammenarbeit der Kirche mit dem Staat (2015) heißt es zur Religionsförderung, der Staat dürfe die Kirchen "auch in ihrem spezifisch religiösen Wirken fördern" (368). Bei der Ermessensförderung müsse die Gleichheit gewahrt werden, damit die Neutralität nicht gefährdet werde. Wie das bei "Sekten" oder Nichtreligiösen gehandhabt werden soll, sagt Isensee nicht. Im Widerspruch zur Neutralitätsforderung Isensees steht die Aussage, manche Förderung könne nur den Kirchen vorbehalten werden, im Übrigen sei Gemeinwohlrelevanz Voraussetzung.

Bei den mehr praktischen Themenstellungen handelt es sich um den Religionsunterricht, die karitative Tätigkeit, die Anstaltsseelsorge, den Denkmalschutz, kirchliche Finanzquellen, historische Staatsleistungen, Schulgebet, Beschneidung u.a.

Bei der Gesamtwürdigung fällt auf, dass innerkirchliche bzw. kirchenpolitische Erläuterungen einen nicht geringen Teil des Bandes ausmachen. Oft wiederkehrende Ausführungen gelten der Kritik an der starken kirchlichen Selbstsäkularisierung, die auch nicht im Interesse des Staates sei. Die besondere Bedeutung des Christentums für den Staat wird immer wieder hervorgehoben. Da der Autor in erster Linie als Staatsrechtler bekannt ist, wirkt der Titel "Staat und Religion" irreführend. Treffender wäre etwa "Staat-Religion-Kirche" gewesen. Bei der rechtlichen Argumentation fällt auf, dass eine Auseinandersetzung mit Autoren außerhalb der kirchlich-konservativen Tradition so gut wie nie erfolgt. Der Anmerkungsapparat verdeutlicht das augenfällig. Wichtige Fragestellungen wie die Zulässigkeit kirchlicher Sozialmonopole werden ignoriert. Das immer wieder kurz erwähnte Neutralitätsgebot, das wohl wichtigste Merkmal des Religionsverfassungsrechts, hat in dem Opus so gut wie keine inhaltliche Bedeutung. Auch unter Berücksichtigung des großen zeitlichen Rahmens der Abhandlungen wirken viele von ihnen etwas aus der Zeit gefallen. Wenn der Band schon so umfangreich ausfallen sollte, hätte es oft nahe gelegen, aktualisierende bzw. korrigierende Anmerkungen unterzubringen.

Ungeachtet dieser Monita ist festzustellen, dass der Band auch für Leser, denen Isensee insgesamt etwas fern steht, viel Lesenswertes enthält, etwa die Aufsätze zur Beschneidung oder zur päpstlichen Politik im 19. Jh.

Auf jeden Fall ist der voluminöse Band ein interessantes Dokument der Zeitgeschichte.

Link zum Buch

Josef Isensee: Staat und Religion. Abhandlungen aus den Jahren 1974-2017 (Hg. Ansgar Hense). Berlin 2019, 800 + 40 S., ISBN: 978-3428155910, EUR 159,90