Schwangerschaftsabbruch
I. Einführung
Dieses insbesondere in der westdeutschen Gesellschaft emotionsgeladene Kapitel betrifft Strafrecht, Ethik, Religion, Interessen der Frauen, gesamtgesellschaftliche Interessen sowie den Begriff der Menschenwürde und ist ein wichtiges Kapitel der Bioethik. Es hängt eng zusammen mit dem Thema Embryonenschutz und hat eine weltweit lange und wechselvolle Geschichte, die auch theologie- und medizinhistorisch interessant ist. Auch stellen sich Grundfragen der Übertragung ethisch-ideologisch umstrittener Streitfragen in das Rechtssystem. Historisch ist, auch bei Naturvölkern, festzustellen, dass die Abtreibung seit jeher von den Gesellschaften sehr unterschiedlich beurteilt wurde. Sie wurde akzeptiert und gerechtfertigt, aber auch bestraft, sogar mit Folter und Tod, aber auch Stigmatisierung. Die Antike kannte zunächst keine moralischen Probleme, da man in der Frühschwangerschaft den Embryo als unbelebt ansah. Das römische Recht schützte nicht Kind und Mutter, sondern den um seine Nachkommenschaft betrogenen Vater. Sein Wille war in jeder Hinsicht entscheidend. Staatliche Bevölkerungspolitik, insbesondere der Gedanke der Erhaltung einer genügend großen Zahl von Soldaten, spielte oft eine Rolle. In religiöser Hinsicht galt bis ins europäische Recht des 19. Jh. überwiegend die schon in der Antike vertretene Lehre von der Sukzessivbeseelung (z. B. Aristoteles; später Thomas von Aquin) mit Beseelung der Leibesfrucht bei männlichen ab 40 und bei weiblichen ab 80 Tagen. Das bedeutete, dass für einen großen Teil der Schwangerschaftsabbrüche selbst nach katholischer Lehre praktisch eine abgemilderte Fristenlösung galt. Für die Zeit nach der angenommenen Beseelung war die Tötung des Fötus ein nicht selten mit dem Tod bestrafter Kindsmord (Homicid). Erst 1869 setzte sich theologisch die – zuvor meist abgelehnte – Lehre von der Simultanbeseelung durch, wonach bereits mit der befruchteten Eizelle ein beseelter Mensch vorliegen sollte. Siehe näher zur religiösen Problematik unten III.
Der § 218 des Reichs-StGB von 1871 drohte für Abtreibung generell mindestens sechs Monate Gefängnis und Zuchthausstrafe bis fünf Jahre an, ebenso für Beihilfe. Das führte zu einer starken Abwanderung der Abbrüche in die Illegalität. Erst 1927 ließ die Rechtsprechung Abtreibungen aus medizinischen Gründen zu. Soziale und psychische Indikation waren unzulässig. Der Status des Embryo war aber ungeklärt. Eine rechtliche Gleichsetzung des Embryos mit dem geborenen Menschen widersprach der allgemeinen Überzeugung. Zur NS-Zeit wurde die medizinische Indikation 1933 rechtlich für zulässig erklärt, wenn sie zur Abwendung einer ernsten Gefahr für Leben oder Gesundheit der Schwangeren diente und (ab 1935) ein Gutachterverfahren durchgeführt wurde. Ab März 1943 konnte bei einer Beeinträchtigung der Lebenskraft des deutschen Volkes u. U. sogar die Todesstrafe verhängt werden.
Nach starken Wirren in der unmittelbaren Nachkriegszeit galt in Westdeutschland die alte Regelung mit weit verstandener und nie genau definierter medizinischer Indikation. Bei Gewaltverbrechen wurde keine Schwangere verurteilt. Es sollen in großem Umfang ärztlich indizierte Abtreibungen durchgeführt worden sein, die auf einer sozialen oder eugenischen Indizierung beruhten. Im Zuge eines 1970 von Strafrechtslehrern vorgelegten Alternativentwurfs, der eine klare Fristenregelung für die ersten drei Monate vorsah, kam es unter kulturkämpferischen gesellschaftlich-politischen Auseinandersetzungen zu vier Gesetzentwürfen. Im April 1974 setzte sich schließlich mit 247 gegen 233 Stimmen die Fristenregelung durch. Bereits im Februar 1975 verkündete das BVerfG, nachdem etwa 1000 Polizisten den 500 m-Bannkreis gesichert hatten (die Entscheidung war aus bis heute ungeklärter Ursache durchgesickert) sein berühmt-berüchtigtes Urteil, das bis heute als ein herausragendes Beispiel für eine Grenzüberschreitung, einen unzulässigen Übergriff in die politische Sphäre und eine ideologische Urteilsbegründung anzusehen ist.
II. Die Urteile des BVerfG von 1975 und 1993
Zusammenfassend sei darauf hingewiesen, dass seit 1975 der Gesetzeswortlaut (§§ 218 ff. StGB 1994 und als Ergebnis des BVerfG-Urteils von 1975) und die deutsche Wirklichkeit auseinanderfallen. Das Gesetzesrecht will das ungeborene Leben im Grundsatz vollständig schützen, erreicht das aber wegen seiner Widersprüchlichkeit und Weltfremdheit nicht..[1] Den extremen religiösen Lebensschützern ist es aber gelungen, ihre Position des Lebensrechts ab Empfängnis unter Erzeugung starker öffentlicher Polarisierung zumindest beim Embryonenschutz weitgehend durchzusetzen. Möglich war das nur auf Grund des ersten Fristenregelungs-Urteils des BVerfG von 1975.
1. Das Urteil des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch von 1975[2]
§ 218 a StGB von 1974 erklärte den S. für straffrei (nicht: rechtmäßig), wenn er innerhalb der ersten 12 Wochen nach der Empfängnis von einem Arzt mit Einwilligung der Schwangeren vorgenommen wird (Fristenlösung). Bei Fehlen einer sachgerechten Beratung wurde (nur) der Arzt mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bedroht. Das BVerfG erklärte die Fristenregelung für verfassungswidrig. Thomas Darnstädt hat es 2018 mit eingehender Begründung als "monströs" bezeichnet.[3]
Unter schlichter Berufung auf das Urteil dominierte alsbald die juristische Auffassung, bereits das befruchtete menschliche Ei sei, zumindest ab Nidation (Einnistung in die Gebärmutter), sogar verfassungsrechtlich durch Art. 1 und 2 GG geschützt. Diese auch in den GG-Kommentaren i. d. R kritiklos übernommene und kaum je begründete GG-Auslegung ist aber nach wie vor höchst zweifelhaft.
In seiner extrem langatmigen Entscheidung vertrat das BVerfG die Grundthese, das GG schütze das vorgeburtliche menschliche Leben auch gegenüber der Mutter als selbständiges Rechtsgut, und zwar für die gesamte Dauer der Schwangerschaft. Auch der Embryo werde durch Art. II 1 und 1 I GG geschützt. Die Beurteilung als rechtswidrig habe grundsätzlich Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Frau. In bestimmten Ausnahmefällen dürfe der Gesetzgeber jedoch Straffreiheit gewähren. Das Urteil nimmt an, der Nasciturus werde spätestens nach der Nidation, am 14. Tag der Empfängnis, durch das Grundgesetz geschützt. Erst die Nidation ist ja entscheidend für den Beginn konkret-individuellen Lebens, und ab diesem Zeitpunkt seien strafrechtliche Sanktionen erforderlich. Aber diese Behauptung ist nicht juristisch, sondern nur ideologisch zu erklären, wie nun gezeigt werden soll.
Ausgangspunkt des BVerfG ist Art. 2 II 1 GG: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit." Ergänzend wird Art. 1 I GG herangezogen: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Zu entscheiden ist somit an erster Stelle, ob unter "Jeder" im Sinn des Art. 2 II 1 GG auch das werdende menschliche Leben fällt. Der isolierte Wortlaut gibt hierzu nichts her. Art. 2 I bezieht "Jeder" auf eine "Persönlichkeit", die sich frei entfalten darf, und unmittelbar auf Art. 2 II 1 folgt der Satz: "Die Freiheit der Person ist unverletzlich". Daher sprechen Wortlaut und Gesamtzusammenhang des Art. 2 deutlich dafür, dass "Jeder" grundsätzlich eine "Person" sein muss. Zwar kann man auch ein Neugeborenes nicht im Vollsinn als "Person" bezeichnen, aber da die neuere deutsche Rechtsordnung dem Menschen seit jeher mit der Vollendung der Geburt die Rechtsfähigkeit zuerkennt (s. § 1 BGB), ist unter "Jeder" sicherlich auch jeder Geborene zu verstehen. Dafür, dass auch das werdende Leben, selbst in seinen Frühformen, einbezogen werden soll, geben weder Wortlaut und systematischer Zusammenhang, noch die Entstehungsgeschichte des GG etwas her. Der Verfassungsschutz für das werdende Leben hat sich im Parlamentarischen Rat trotz heftiger Auseinandersetzungen gerade nicht im Wortlaut durchsetzen lassen, wie insbesondere Roman Herzog 1969 im Einzelnen nachgewiesen hat. Das Plenum des Parlamentarischen Rats hat den zuletzt erarbeiteten Text des GG ohne Diskussion übernommen.[4]
Ungeachtet dessen kam das BVerfG zu seinem extrem weiten Verständnis von "Jeder" durch folgende Überlegung: Die menschliche Entwicklung sei von der Empfängnis bis nach der Geburt ein kontinuierlicher Prozess, so dass der Lebensschutz des Art. 2 II 1 umfassend gelte. Auch sollten Grundrechte "in Zweifelsfällen" so ausgelegt werden, dass sie ihre Wirkungskraft am stärksten entfalten. Das ist aber ein reiner Zirkelschluss: nicht nur, dass keiner der Kontrahenten die Kontinuität eines Entwicklungsprozesses bestreitet, es geht auch nicht um den sinnvollen Umfang eines existierenden Grundrechts, sondern gerade darum, ob ein solches überhaupt zuerkannt werden soll oder nicht. Und gerade das war und ist seit je politisch und rechtlich umstritten. Ein Verfassungsrecht des Nasciturus ist dem GG gerade nicht zu entnehmen. Die Grundthese der Entscheidung ist somit eine reine Behauptung und keine juristische Begründung. Das Urteil wurde im Übrigen von zahlreichen Rechtswissenschaftlern und selbst von zweien der entscheidenden Richter in einem vielzitierten Sondervotum scharf kritisiert. Trotz aller Kritik knickte nach 1975 allmählich die gesamte Rechtsliteratur völlig ein. Heute gilt die These, auch das werdende Leben im Mutterleib sei Träger des Grundrechts auf Leben, wie eine nicht begründungsbedürftige Tatsache. Sie ist seit 1975 Basis für alle folgenden Wirrungen bis zum heutigen Tag. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf https://weltanschauungsrecht.de/1-BvF-1%E2%80%936-74 , insbesondere die Leitsätze und den Kommentar verwiesen.
2. Das Urteil des BVerfG von 1993[5]
Das ebenfalls stark umstrittene 2. Urteil des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch von 1993 war aufgrund der deutschen Wiedervereinigung notwendig geworden. In der DDR hatte eine klare, ehrliche und unangefochtene Fristenregelung gegolten. Die neuerliche Entscheidung hat die Zahl der Ungereimtheiten noch vermehrt. Die Inhalt der 17 amtlichen Leitsätze wird hier kurz zusammengefasst:
Aus Art. 1 I und 2 II GG ergebe sich die staatliche Pflicht, auch das einzelne ungeborene menschliche Leben zu schützen. Das Ungeborene habe ein eigenes Lebensrecht, unabhängig vom Willen der Mutter. Der Gesetzgeber müsse daher den Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich verbieten, so dass für die Schwangere eine Austragungspflicht bestehe. Das Abbruchverbot betreffe die gesamte Schwangerschaftsdauer, der Abbruch sei grundsätzlich als Unrecht anzusehen und demgemäß rechtlich verboten (Bestätigung von BVerfGE 39, 1 [44]). Die Reichweite der Schutzpflicht sei unter Berücksichtigung kollidierender Rechtsgüter zu bestimmen, hier vor allem das Recht der Frau auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) sowie ihr Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG). Auf Art. 4 könne sie sich zur Tötung nicht berufen. Die Grundrechtspositionen der Frau führten dazu, dass es in Ausnahmelagen zulässig und manchmal sogar geboten sei, eine solche Rechtspflicht nicht aufzuerlegen. Auf den Einsatz des Strafrechts könne nicht verzichtet werden.
Besonders stößt an dem Urteil die vierfache Abstufung beim Schutz des ungeborenen Lebens auf. Das Urteil unterscheidet nämlich zwischen fehlender Tatbestandlichkeit, rechtlichem Verbot, unsanktionierter Rechtswidrigkeit und Rechtmäßigkeit. Es wurde einerseits eine religiös beeinflusste strenge Sondermoral vertreten, andererseits wurden aber trotz des allgemeinen Unwert-Urteils erhebliche abgestufte Ausnahmen zugelassen. Viele Erwägungen sind unrealistisch, ja weltfremd. Das sehr weitschweifige und wenig präzise Urteil überschritt nach der zutreffenden Ansicht vieler Kritiker die Grenzen seiner Prüfungskompetenz und stülpte dem Gesetzgeber für eine Neuregelung paternalistisch viele Details über. Man hätte von einem Verfassungsgericht erwarten können, dass es seine Entscheidungsbegründung auf allgemein einsehbare Argumenten unter Beachtung der Widerspruchsfreiheit stützt. Dabei wäre auch zu beachten gewesen, dass es nicht Aufgabe des Staats ist, eine umstrittene Sondermoral allen Einwohnern überzustülpen. Es muss genügen, dass es Abtreibungsgegnern ja freisteht, nach ihrer persönlichen Überzeugung zu handeln.
Daraufhin änderte der Bundestag die Schwangerschaftsregelung durch eine Reihe von Vorschriften, die derzeit noch gelten. Insgesamt enthält das heutige Gesetz praktisch eine Fristenregelung mit einer erweiterten Indikationslösung. Verurteilungen gab es so gut wie keine (s. unten IV.). Frauen, die sich nicht zum Schwangerschaftsabbruch entschließen können, erleiden allerdings in der Lebenswirklichkeit trotz bestehender Sozialprogramme oft ganz erhebliche Nachteile.
III. Nicht offengelegte religiöse Positionen
1. Die Hartnäckigkeit der Auseinandersetzungen um das vorgeburtliche Leben bis zur Unversöhnlichkeit (Auschwitz-Vergleiche, Babycaust) ist nur weltanschaulich erklärbar. Historisch gab es auch in der westlichen Zivilisation stets unterschiedliche, auch politisch begründete, Grundpositionen (siehe oben I.). Obwohl seit der Antike immer wieder übergeordnete Instanzen die individuelle Entscheidung beschränkten, gibt es für die griechisch-römische Antike keine Belege für ein generelles Abtreibungsverbot. Griechische Philosophen und Schriftsteller verurteilten i. d. R. den Schwangerschaftsabbruch nicht, und die griechischen Stadtstaaten kannten kein staatliches Abtreibungsverbot. Auch der Hippokratische Eid untersagte nach heutigem Forschungsstand keineswegs generell fruchtabtreibende Mittel. Diese waren in der gesamten Antike sehr verbreitet und oft sehr wirksam. Der römische Kaiser Augustus erließ zwar Gesetze, die den Eltern von mindestens drei Kindern zahlreiche Privilegien gewährten, aber im Allgemeinen wurde eine größere Kinderzahl als Existenzgefährdung angesehen. Erst seit etwa dem Jahr 200 wurde Schwangerschaftsabbruch als Verbrechen manchmal bis zum Tod bestraft, aber hauptsächlich deswegen, weil die Frau dem in Fragen des Nachwuchses allein entscheidungsbefugten Mann (pater familias) den Besitz von Kindern vorenthielt. Schwangerschaftsabbruch als Folge einer außerehelichen Beziehung wurde nicht bestraft.
2. Die Wende in der Beurteilung kam mit dem Christentum. Die Verfügungsgewalt über das vorgeburtliche Leben stand nun allein dem Vater- und Schöpfergott zu. Die Christen konnten dabei an die spezifisch jüdische Verurteilung von Empfängnisverhütung und Abtreibung anknüpfen, wobei das Neue Testament zur Geburtenkontrolle aber keinerlei Stellung bezieht und auch die hebräische Bibel keine speziellen Aussagen macht. Obwohl schon das Frühchristentum Abtreibung und Empfängnisverhütung denkbar massiv bekämpfte, setzte sich in ihm die aristotelische Lehre von der Sukzessivbeseelung (stufenweisen Beseelung) weitgehend durch. Demnach erfolgt die Verbindung der von Gott geschaffenen unsterblichen Seele mit dem Körper und somit die eigentliche Menschwerdung nicht schon mit der Empfängnis (Simultanbeseelung), sondern erst später. Einflussreichste Vertreter der Lehre von der Sukzessivbeseelung waren Augustinus (354-430) und später Thomas von Aquin (um 1225-1274). Obwohl die Beseelungsfrage immer umstritten war, herrschte doch im Mittelalter unter Theologen fast allgemein die Auffassung, der männliche Embryo werde am 40. und der weibliche am 80. Tag beseelt. Diese die Frau abwertende Unterscheidung kann sich an die Bibel anlehnen (Lev 12,1-5; Lk 2,22). Somit ist die katholische Kirche "die eigentliche ‚Mutter’ sämtlicher Fristenlösungen" (G. Jerouschek). Das Kirchenrecht des Hoch- und Spätmittelalters behandelte nur die Abtreibung der beseelten Feten als Totschlag, während die Abtreibung der unbeseelten Leibesfrucht eine wesentlich geringere Verfehlung darstellte.
3. Erst im 19. Jh. begann sich die Ansicht der Theologen, einem Trend der Mediziner folgend, zu wandeln. Papst Pius IX. war es, der 1869 die Lehre von der Simultanbeseelung für maßgeblich erklärte. Sie wird heute von Theologen allgemein vertreten. Seit 1917 kennt auch das Gesetzbuch der katholischen Kirche die Unterscheidung zwischen dem unbeseelten und beseelten Fötus nicht mehr. Auf dieser Basis lässt sich bei oberflächlicher Betrachtung (siehe Art. Embryonenschutz IV 2) die Ansicht vertreten, selbst einer Zygote (Größe: 1/1000 mm) oder einem aus nur wenigen Zellen bestehenden Frühembryo komme volle Menschenwürde im Sinn des GG zu. Unklar bleibt dabei, was mit der Seele geschieht, wenn sich die Embryonen teilen oder wenn ein nachträglicher Zusammenschluss von Zellen zu einem Embryo erfolgt, was vor der Nidation möglich ist.
4. Thesen, die auf religiösen Behauptungen beruhen, vermögen keinen Andersdenkenden zu überzeugen. Eine gerechte Rechtsordnung lässt sich nur auf rational einsehbare Gründe aufbauen.
Es muss genügen, dass niemand zu einem persönlichen Handeln gegen seine Überzeugung gezwungen wird. Das reicht aber den Vertretern der Simultanbeseelung nicht. Sie wollen unbedingt allen Andersdenkenden ihre rational nicht vermittelbare Meinung überstülpen. Das ist ein grober Verstoß gegen die pluralistische Ordnung des Grundgesetzes, die auf der ethischen Gleichberechtigung aller Bürger beruht.
IV. Die seit 1995 bestehende Gesetzesregelung
1. Man versteht unter Schwangerschaftsabbruch eine künstlich herbeigeführte Tötung der Leibesfrucht. Der Begriff Abtreibung wird i. d. R. abwertend gebraucht und tendiert zur Unerlaubtheit. Das Menschheitsproblem Schwangerschaftsabbruch hat allein in der Bundesrepublik eine komplizierte Geschichte. Die heutige Kompromissregelung ist Resultat der zweiten Entscheidung des BVerfG zur Fristenregelung (1993, s. oben). Dem Gesetz zufolge fallen Handlungen bis zur Nidation, d. h. der Einnistung des befruchteten Eies in die Gebärmutter, begrifflich gar nicht unter den Straftatbestand des Schwangerschaftsabbruchs (§ 218 StGB). Für die Zeit danach gilt: In den gesetzlich geregelten Fällen der medizinisch-sozialen (einschließlich der "embryopathischen", d.h. eugenischen) und der kriminologischen Indikation (Gefahr für Leben oder Gesundheit der Schwangeren unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse; Fälle sexuellen Missbrauchs) ist der Abbruch nach dem Gesetz "nicht rechtswidrig", wenn er durch einen Arzt nach qualifizierter Beratung binnen zwölf Wochen durchgeführt wird (§ 218 a). Die Beratung durch eine "Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle", deren Aufgabe in einem eigenen Gesetz geregelt ist, "dient dem Schutz des ungeborenen Lebens" und geht davon aus, dass das Ungeborene in jedem Stadium ab Empfängnis (auch vor der Nidation, d. h. am 14. Tag) gegenüber der Frau "ein eigenes Recht auf Leben hat", obwohl andererseits der ordnungsgemäße Abbruch "nicht rechtswidrig" (§ 218 a II) sein soll ?? Die Beratung endet stets mit der Ausstellung einer Bescheinigung (§ 219), weil letztlich die Schwangere entscheidet. Die Pflichten des Arztes sind genau geregelt.
2. Die Regelung hat sich in der Praxis "eingespielt", bleibt aber umstritten. Sie ist nichts anderes als eine durch weit gefasste Indikationen eingeschränkte "Fristenlösung", die als solche seit Jahrzehnten dem Wunsch der großen Bevölkerungsmehrheit entspricht, freilich von einer lautstarken und einflussreichen Minderheit sehr heftig abgelehnt wird ("Abtreibung ist Mord"). Insgesamt sind die Regelungen widersprüchlich, da sie von einem verfassungsrechtlich geforderten, so das BVerfG, absoluten Lebensrecht auch des befruchteten Eis ab Empfängnis ausgehen, aber im praktischen Ergebnis doch den Schwangerschaftsabbruch in erheblichem Umfang ermöglichen. Die Widersprüchlichkeiten mit ihrer (viel kritisierten) Verwischung von Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit (auch in Spezialregelungen wie zur sozialrechtlichen Kostenerstattung) sind das Ergebnis weltanschaulich motivierter Auseinandersetzungen (s. oben III), deren wahre Gründe regelmäßig im Verborgenen bleiben.
3. Zur Problematik gehört auch die Frage der Zulässigkeit der Präimplantationsdiagnostik (s. dazu den Art. Embryonenschutz V) mit ihren vorgeschobenen verfassungsrechtlichen Argumenten. Wird dieses diagnostische Verfahren nämlich nicht angewandt, bleibt der atattdessen ggf. für erforderlich gehaltene Schwangerschaftsabbruch aus eugenischen Gründen strafrechtlich gleichwohl zulässig.
V. Werbung für Schwangerschaftsabbruch (§ 219a StGB, mittlerweile aufgehoben)
Die Gießener Ärztin Kristina Hänel wurde 2017 vom AG Gießen wegen nach § 219a StGB unzulässiger Werbung für Schwangerschaftsabbruch zu einer Geldstrafe von 6000 € verurteilt. Die Ärztin für Allgemeinmedizin betrieb nach den gerichtlichen Feststellungen eine Homepage, auf der sie unter verschiedenen medizinischen Leistungen auch Schwangerschaftsabbrüche nannte. Dabei führte ein Link zu allgemeinen Informationen zum Schwangerschaftsabbruch und zu in der Praxis dabei angewandten Methoden und den jeweiligen Vor- und Nachteilen. Auch wurde angegeben, welche Unterlagen mitzubringen seien (Beratungsschein u. a.). Die Angeklagte habe entgegen § 219 a über ihre Leistung nicht nur öffentlich informiert, sondern sie zu ihrem Vorteil angeboten.[6] Auch die Revision zum OLG hatte keinen Erfolg. In der Tat ist die Vorschrift so weit gefasst, dass sie ein umfassendes Informationsverbot darstellt. Ärzten und Kliniken wird verboten, über die Rahmenbedingungen, Methoden und Risiken eines legalen Schwangerschaftsabbruchs zu informieren.
Das bedeutet, dass nicht zwischen tatbestandslosen, rechtmäßigen und rechtswidrigen Abbrüchen unterschieden wird. Vorfeldhandlungen einer rechtmäßigen Handlung dürfen aber keinesfalls strafbar sein. Nebenbei: Die ursprüngliche Strafandrohung war 1933 Ausdruck der NS-Bevölkerungspolitik. Widersprüchlich ist es auch, dass das gesetzliche Entgelt und die Information für eine erlaubte Dienstleistung strafwürdig sein soll. § 19 a StGB verstößt auch gegen das Informationsrecht der Schwangeren (Art. 5 I 1 GG). Eine verfassungskonforme Auslegung war wohl wegen der Eindeutigkeit des gesetzlichen Wortlauts nicht möglich. Angesichts der bekannten Einschüchterung der Ärzteschaft und häufigen Fehlens geeigneter Einrichtungen war es besonders bedauerlich, dass kein Gericht die Problematik nach Art. 100 I GG dem BVerfG vorgelegt und das Verfahren bis zu dessen Entscheidung ausgesetzt hat. Die Verfassungsbeschwerde der Ärztin Hänel scheiterte 2023 nur deswegen, weil der Bundestag inzwischen den § 219 a StGB aufgehoben hatte.[7] Das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) hatte sich engagiert für den Fortfall des § 219 a StGB eingesetzt, wie insbesondere dem Sammelband von Scheinfeld/Neumann/Czermak/Merkel/Putzke, Der Fall Kristina Hänel, 2024 (s. u.) entnommen werden kann.
VI. Künftige Entwicklung
Der Fall Hänel hat zu einer neuerlichen Grundsatzdebatte darüber geführt, ob nicht endlich § 218 StGB mit begleitenden Vorschriften ganz aufgehoben werden soll.[8] Im April 2024 hat die vom Bundesgesundheitsministerium eingesetzte "Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin (Kom-rSF)" ihren Abschlussbericht vorgelegt. Dieser sieht vor, die Frage des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafrechts zu regeln.[9]
Bioethik; Embryonenschutz; Liberale Rechtstheorie; Menschenwürde; Recht, Moral und Religion
Literatur
BVerfGE 39,1 = NJW 1975,573, U. v. 25.2.1975 (Schwangerschaftsabbruch I) und BVerfGE 88,203 = NJW 1993,1751, U. v. 28.5.1993 (Schwangerschaftsabbruch II). – Zu beiden siehe auch die Dokumentation in der Rubrik Dokumente/Gerichtsentscheidungen.
- APuZ: Abtreibung. 2019, H. 20 = file:///C:/Users/Czermak/Downloads/APuZ_2019-20_online.pdf
- Brosius-Gersdorf, Frauke: Der Fall Kristina Hänel: Zur Verfassungswidrigkeit des § 219a Abs. 1 i. V. m. Abs. 4 StGB (Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft). Rechtsgutachten im Auftrag des Instituts für Weltanschauungsrecht. In: Scheinfeld/Neumann/Czermak/Merkel/Putzke, Der Fall Kristina Hänel, 2024, 117-165.
- Budde, Emma T.: Abtreibungspolitik in Deutschland, Berlin/Heidelberg/Wiesbaden 2015.
- Darnstädt, Thomas: Verschlusssache Karlsruhe. Die internen Akten des Bundesverfassungsgerichts. München 2018, S. 329-374.
- Demel, Sabine: Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation. Weltliches und kirchliches Strafrecht auf dem Prüfstand. Stuttgart 1995, 384 S. (kath. Habil-Schrift).
- Dreier, Horst: Stufungen des vorgeburtlichen Lebensschutzes, ZRP 2002, 377-383 (Der Verf. zeigt konkret auf, dass zwischen dem Lebensrecht geborener Menschen und dem Schutz vorgeburtlichen Lebens ein kategorialer Unterschied besteht. Unterschieden werden die pränidative Phase, die Phase von der Nidation bis zur 12. Schwangerschaftswoche, die von der 13. bis zur 22. Woche und ab der 23. Woche bis zur Geburt).
- Dreier, Horst: Menschenwürde und Schwangerschaftsabbruch, DÖV 1995, 1036-1040.
- Eser, Albin/Koch, Hans-Georg: Schwangerschaftsabbruch und Recht. Vom internationalen Vergleich zur Rechtspolitik, Baden-Baden 2003, 360 S.
- Herzog, Roman: Der Verfassungsauftrag zum Schutz des ungeborenen Lebens, JR 1969,442 = https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/juru.1969.1969.12.441/html (Die Untersuchung der Entstehungsgeschichte des Art. 2 II 1 GG spricht nicht für einen solchen Schutzauftrag).
- Hilgendorf, Eric: Die Entwicklung des Rechts des Schwangerschaftsabbruchs, in: Das Strafgesetzbuch, Sammlung der Änderungsgesetze und Neubekanntmachungen, Supplementband 1, Berlin 2004, 265-278 (Strafrechtsentwicklung 1975-2000).
- Hoerster, Norbert: Wie schutzwürdig ist der Embryo? Zu Abtreibung, PID und Embryonenforschung. Weilerswist-Metternich 2013.
- Hoerster, Norbert: Abtreibung im säkularen Staat, 2. A. Frankfurt 1995 (mit Anhang S. 163-196: Das Lippenbekenntnis des Bundesverfassungsgerichts zum Lebensrecht des Ungeborenen).
- Hoerster, Norbert: Das "Recht auf Leben" der menschlichen Leibesfrucht - Rechtswirklichkeit oder Verfassungslyrik? JuS 1995,192-197.
- Hoerster, Norbert: Forum: Abtreibungsverbot - Religiöse Voraussetzungen und rechtspolitische Konsequenzen, JuS 1991,190-194.
- Jerouschek, Günter: Vom Wert und Unwert der pränatalen Menschenwürde, JZ 1989, 279-285.
- Jerouschek, Günter: Lebensschutz und Lebensbeginn. Kulturgeschichte des Abtreibungsverbots. Stuttgart 1988, 331 S. (Neuausg. 2002).
- Jütte, Robert (Hg.): Geschichte der Abtreibung. Von der Antike bis zur Gegenwart. München 1993.
- Scheinfeld/ Neumann / Czermak / Merkel / Putzke (Hg.): Der Fall Kristina Hänel und die neue Debatte zur gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland, Baden-Baden 2024, 279 S. (Schriften zum Weltanschauungsrecht 5) = https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783748940456.pdf?download_full_pdf=1
- Schlink, Bernhard: Aktuelle Fragen des pränatalen Lebensschutzes, 2002.
- Spieker, Manfred: Kirche und Abtreibung in Deutschland. Ursachen und Verlauf eines Konfliktes. Paderborn 2001, 260 S
-
[1] Hilgendorf 2004.
[2] BVerfGE 39, 1 = NJW 1975, 573, U. vom 25.2.1975 = https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=BVerfG&Datum=1975-02-25&Aktenzeichen=1%20BvF%201%2F74
[3] T. Darnstädt 2018, 329, 333. Der Autor geißelte die Debatte S. 335 f. mit folgenden Worten: "Nicht nur die Richter des Bundesverfassungsgerichts zerstritten sich heillos über das Dilemma, die angesehensten Verfassungsrechtsprofessoren gingen sich mit Schaum vorm Mund an die Gurgel, wenn es um den Bauch der Frau ging. Veerfassungsrecht, Politik und katholische Heilslehre bilden bis heute eine zäh klebende Masse, die jede Ordnung der Argumente, jede rationale Lösung vereitelt. Der angesehene Wissenschaftler … Horst Dreier ruinierte 2008 seine Karriere mit allzu präzisen Veröffentlichungen über Widersprüchlichkeiten beim Schutz des keimenden Lebens: Die CDU/CSU verhinderte seine fest eingeplante Berufung zum Verfassungsrichter.
[4] R. Herzog, Der Verfassungsauftrag zum Schutz des ungeborenen Lebens, JR 1969, 442 (ausführlich zur Entstehungsgeschichte des Art. 2 I 2 GG).
[5] BVerfGE 88, 203-366 = NJW 1993, 1751, U. 28.5.1993. Dazu https://weltanschauungsrecht.de/2-BvF-2-90 mit Link zum Urteilstext. Zur Kritik des Urteils mit Umfeld T. Darnstädt 2018, 356-371.
[7] Aufhebungsgesetz vom 11. Juli 2022 (BGBl I S. 1082).
© Gerhard Czermak / ifw (2024)