BVerfG (2 BvR 278/11): Mitgliedschaft (stattgebender Kammer-Beschluss) 17.12.2014 KapitelÜberblick Aktenzeichen: 2 BvR 278/11 Fundstelle: BVerfG, 17. 12. 2014 = NVwZ 2015, 517 Gericht: BVerfG Urteilsdatum: 17.12.2014 Externe URL: dejure Ergänzend: Pressemitteilung BVerfG Hinweise und Abkürzungen Stichwörter: Judentum Mitgliedschaft Religionsgemeinschaft Leitsätze (nichtamtlich): Die staatliche Anerkennung der Mitgliedschaft in einer RG hängt vom nach außen erkennbaren Willen des Betroffenen ab. Fallgeschichte Die Beschwerdeführerin ist eine Körperschaft i.S. des Art. 137 V WRV und die einzige jüdische Gemeinde in Frankfurt am Main. Laut ihrer Satzung sind Mitglieder alle Personen jüdischen Glaubens, die in Frankfurt ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben und nicht binnen einer Frist von drei Monaten nach ihrem Zuzug nach Frankfurt am Main gegenüber dem Gemeindevorstand schriftlich erklären, dass sie nicht Mitglieder der Gemeinde sein wollen. Die Kläger des Ausgangsverfahrens verlegten ihren Wohnsitz von Frankreich nach Frankfurt am Main und gaben im Meldebogen des Einwohnermeldeamts in der Rubrik Religion "mosaisch" an. Sie widersprachen der Vereinnahmung durch die jüdische Gemeinde als Mitglied. Die Gemeinde stellte lediglich auf die Abstammung von einer jüdischen Mutter und den Wohnsitz ab. Das VG wies eine Klage auf Feststellung der Nichtmitgliedschaft in der Zeit bis zum erfolgten Austritt ab. Sie sei subsidiär gegenüber einer Anfechtungsklage, die sie gegen einen späteren Kirchensteuerbescheid erheben könnten. Der HessVGH hielt die Berufung für unbegründet. Die innerkirchliche Rechtsfolge sei nicht zu beanstanden. Die von den liberal-jüdischen Klägern vorgenommene Unterscheidung zwischen orthodox und liberal geprägten Gemeinden der Satzung der Beschwerdeführerin nicht zu entnehmen. Das BVerwG vertrat demgegenüber detailliert die Ansicht, der VGH habe die Anforderungen an die erforderliche Willensbekundung des Betroffenen unter Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG verkannt, siehe näher unter http://www.bverwg.de/entscheidungen/entscheidung.php?ent=230910U7C22.09.0 , Urteil vom 23. 9. 2010 – BVerwG 7 C 22.09 = NVwZ-RR 2011, 90. Das BVerfG verwies die Sache an das BVerwG zurück. Dieses hielt sich für gebunden durch den Kammerbeschluss des BVerfG und wies die Revisionen der beiden Juden 2016 zurück (BVerwG, Urt. v. 21.09.2016 –6 C 2.15.). Auch eine Überprüfung gem. Art. 9 EMRK sei nicht möglich. Gründe Das BVerfG hielt die VfB der jüdischen Gemeinde für offensichtlich begründet, da die maßgeblichen Fragen schon entschieden seien. Aus den Gesamtumständen lasse sich nach außen der objektive Wille erkennen, Mitglied werden zu wollen. Die Angabe gegenüber der Meldebehörde sei heranzuziehen. Es sei lebensnah, anzunehmen, dass der Anmeldende im Zweifel Mitglied der einzigen örtlichen Gemeinde werden möchte. "Das den Religionsgemeinschaften durch Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG verbürgte Selbstbestimmungsrecht verpflichtet den Staat zur Anerkennung ihrer Mitgliedschaftsordnung für seinen Bereich, auch soweit sie von den staatlichen Regeln für Zusammenschlüsse abweicht (vgl. BVerfGE 30, 415 <424>)." Ausdrücklich wird klargestellt, das betreffe nur den innerkirchlichen Rechtskreis. Kommentar Hintergrund ist die Verpflichtung der Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Frankfurt zur Zahlung von "Kirchensteuer" nach dem hessischen Kirchensteuergesetz. Mit der "Zugehörigkeit zur jüdischen Religion" nahm die Satzung entsprechend der jüdischen Tradition auf die Abstammung von einer jüdischen Mutter Bezug. Das war auch laut BVerwG mit Bundesrecht vereinbar. Entscheidend für die staatliche Anerkennung der Mitgliedschaft ist anerkanntermaßen die Freiwilligkeit der Willensbekundung des Betroffenen. Zwischen BVerfG und BVerwG besteht eine Differenz in der Frage des Vorliegens der Freiwilligkeit. Das BVerwG betonte, dass die Mitgliedschaftsregelung nur auf Wohnsitz und mütterliche Abstammung abstelle, nachfolgende Ereignisse aber ausblende. Daher müsse auf das Vorliegen einer solchen Willensbekundung abgestellt werden, die den Schluss auf eine konkrete willentliche Mitgliedschaft in der fraglichen RG erlaubt. Wörtlich: " … der Übergang vom vor- bzw. außerrechtlichen Bekenntnis zur rechtlich relevanten Eingliederung in die Religionsgemeinschaft muss aber wegen des Rechts auf negative Vereinigungsfreiheit im religiösen Bereich vom Willen getragen sein." Die Grundlage der Rechtsposition des Betroffenen müsse durch eindeutige und nachprüfbare Äußerungen und Handlungen klargestellt sein. Zwar hätten sich die Kläger generell zum Judentum bekannt, nicht aber konkret zur Frankfurter Gemeinde. Das könne dem Anmeldeschein nicht entnommen werden. Die melderechtlich begründete Frage der Behörde beziehe sich auf die rechtliche Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgesellschaft. Dem genüge die Antwort "mosaisch" nicht. Das wird unterstrichen durch die Tendenz zur Pluralisierung und Rekonfessionalisierung im Judentum. Das BVerwG hat die Rechtsfragen mit größtmöglicher Sorgfalt, Präzision und Konsequenz dargestellt und ist auch auf die Problematik des mit dem Körperschaftscharakter verbundenen Parochialrechts eingegangen. Nach diesem kann eine Religionsgemeinschaft bestimmen, dass alle Angehörigen des jeweiligen Bekenntnisses ipso jure als Mitglieder der örtlich zuständigen Gemeinde in Anspruch genommen werden (Territorialprinzip). Das sagt aber nichts darüber aus, so das BVerwG, "in welchem Umfang und insbesondere gegenüber welchen Personen hoheitliche Befugnisse verliehen werden (vgl. auch BVerfG, Urteil vom 19. Dezember 2000 - 2 BvR 1500/97 - BVerfGE 102, 370 <388>)." Selbst die Jüdische Gemeinde hatte betont, "dass es einen Automatismus im Übergang der Mitgliedschaft nach dem Selbstverständnis der jüdischen Gemeinden nicht gebe und nicht geben könne; denn die Gemeinden seien jeweils eigenständig." Übernahmevereinbarungen zwischen den verschiedenen jüdischen Gemeinden (wie bei vielen evangelischen Kirchen) gab es nicht. Angesichts der ausführlichen und überzeugenden Senatsentscheidung des BVerwG erstaunt, mit welcher Leichtigkeit eine Kammer des BVerfG (darunter zwei renommierte Professoren) darüber hinwegging, mit bindender Wirkung für die folgende Neuentscheidung des BVerwG. Ob der nach außen erkennbare Wille der Betroffenen so klar zugunsten der Jüdischen Gemeinde Frankfurt zu beantworten war, ist recht fraglich. Von einer offensichtlichen Begründetheit der VfB der jüdischen Gemeinde konnte keine Rede sein. Zwar handelt es sich nur um einen Einzelfall, aber es fällt doch erneut auf, wie sehr man teilweise geneigt ist, zumindest den traditionellen und gesellschaftlich anerkannten RG den Vorzug zu geben, sogar gegenüber einzelnen Anhängern der eigenen Glaubensrichtung und im Gegensatz zur schon häufig festgestellten Tendenz des BVerfG, das grundrechtliche Denken in das korporative Religionsrecht einzubauen.