„Sorgen Sie endlich für Transparenz und Gerechtigkeit!“: Kriminologe Pfeiffer fordert von der Bundesregierung die Rückholung der Missbrauchsakten aus dem Vatikan und umfassenden Schadensersatz durch die Kirche

Kriminologe Professor Christian Pfeiffer hat von der Bundesregierung die Rückholung der Missbrauchsakten aus dem Vatikan, von der Bischofskonferenz Schadensersatz auch für lebenslange Verdienstausfälle der Missbrauchsopfer sowie die Zulassung von unabhängiger Forschung unter Beteiligung von 5.000 aktiven Priestern gefordert. Dies sagte Pfeiffer am 8. März 2020 auf einer Veranstaltung zum Thema "Religion und Gewalt: Über den Missbrauch von Kindern in Glaubensgemeinschaften" des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw) und der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) im Haus Weitblick in Oberwesel.

Professor Christian Pfeiffer (Buchautor "Gegen die Gewalt - Warum Liebe und Gerechtigkeit unsere besten Waffen sind", Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachen a.D. und niedersächsischer SPD-Justizminister a.D.), äußerte sich damit zu den umstrittenen Ergebnissen der der Frühjahrskonferenz der deutschen Bischöfe von Anfang März. Betroffene hatten geklagt, dass die Kirche lediglich Schmerzensgeld zahlen will, orientiert an den zivilrechtlichen Schmerzensgeld-Tabellen. Für sexuellen Missbrauch entstünde ein Schadensersatz zwischen 5.000 und 50.000 Euro. Die Betroffenen vom Eckigen Tisch hatten zuletzt kritisiert, dass Aspekte des "Vertuschens und Verschweigens" durch die Täterorganisation Kirche damit ignoriert würden.

Professor Christian Pfeiffer (Buchautor "Gegen die Gewalt - Warum Liebe und Gerechtigkeit unsere besten Waffen sind", Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachen a.D. und niedersächsischer SPD-Justizminister a.D.) an Bundesregierung und Kirche: "Sorgen Sie endlich für Transparenz und Gerechtigkeit!"

Schadensersatz auch für lebenslange Verdienstausfälle

Die ausschließliche Zahlung von Schmerzensgeld ist aus Sicht von Pfeiffer zu wenig: "Der Opferschutz und die Opferversorgung müssen nachgebessert werden. Die Bischöfe dürfen sich einer zivilgerichtlichen Aufarbeitung nicht verschließen. Ein Anspruch auf Schadensersatz umfasst nicht nur Schmerzensgeld. Wenn sich die Bischöfe an zivilrechtlichen Regelungen orientieren, dann sollten sie auch die Verdienstausfälle der Missbrauchsopfer entschädigen."

In der Debatte mit Juristen des ifw kam die Idee auf, Musterprozesse in ausgewählten Diözesen zu führen und staatliche Gerichte über die Höhe der materiellen und immateriellen Schadensersatzansprüche entscheiden zu lassen. Zu erwarten stünde im Rahmen dessen u.a. die Anerkennung eines Verdienstausfalles. Wenn man 1.000 Euro pro Monat ansetzt, ergäbe das auf 30 Berufsjahre einen Betrag in Höhe von 360.000 Euro. Damit seien die öffentlich erhobenen Forderungen der Betroffenen für Entschädigungszahlungen pro Opfer zwischen 300.000 Euro und 400.000 Euro ohne Zweifel gerechtfertigt. Eine Auswertung der Jahresabschlüsse aller Bistümer hatte zudem Anfang März 2020 ergeben, dass ein Entschädigungsvolumen in der Größenordnung von einer Milliarde Euro geleistet werden könne.

Wenn die Kirche sich an vor staatlichen Gerichten üblichen Schmerzensgeldforderungen orientieren wolle, sollte sie auf die Verjährung verzichten. Denn sonst werde diese angebliche Anerkennung staatlicher Gerichte zur bloßen Makulatur. In der Vergangenheit scheiterte die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen von Missbrauchsopfern oft, weil die Ansprüche bereits verjährt waren. Mit der möglichen Einrede der Verjährung schneidet die Kirche den meisten Opfern den Weg zu den staatlichen Gerichten ab und will weiter letztlich entscheiden können, ob, wann und wieviel sie an die Opfer zahlt. Mit einem Wort. Sie will dann in diesem Streit weiter gleichzeitig Partei und Richter sein und damit genau das fortsetzen, was sie in den Missbrauchsfällen selbst in den letzten Jahrzehnten betrieben hat.

Die Einrede der Verjährung muss von den Kirchenjuristen im Prozess jedoch aktiv erhoben werden. Auf diese Einrede sollte die Kirche verzichten. Dies sei nur fair und anständig. Schließlich habe die Kirche die Opfer auf vielfältige Weise über viele Jahre entmutigt, ihre Rechte geltend zu machen und damit einen entscheidenden Anteil, dass viele Missbrauchstaten und das Missbrauchssystem vertuscht werden konnten.

Bei Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) müsse der Staat zudem stärker darauf achten, keine kirchennahen Gutachter zu beauftragen.

Missbrauchsakten aus dem Vatikan zurückholen

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht sagte kürzlich im ZDF: Wir werden "jede Möglichkeit zu Ermittlungen nutzen" und der Staat kenne "keine Geheimarchive".

Pfeiffer nahm auf der Veranstaltung die Justizministerin beim Wort: "Sorgen Sie endlich für Transparenz und Gerechtigkeit! Es ist höchste Zeit, dass in Deutschland die kirchlichen Geheimarchive geöffnet und die Missbrauchsakten aus dem Vatikan zurück nach Deutschland geholt werden. Dazu gehört auch die Offenlegung von kircheninternen Untersuchungen, wie sie zum Beispiel im Bistum München und Freising durchgeführt wurden. In München liegt eine 350 Seiten starke Studie über das Bistum im Panzerschrank von Kardinal Reinhard Marx. Es ist absurd, wenn er seine flammenden Reden über Transparenz hält und bis heute keine Angst davor hat, dass irgendjemand sagt: 'Öffnen Sie den Panzerschrank!' Es gibt keinen Grund, Benedikt zu schützen oder ihm eine Sonderrolle zu geben, nur, weil er Papst geworden ist. "

Aus Deutschland wurden zudem von der Kirche tausende Akten über Missbrauchsfälle in den Vatikan verbracht. Dies geschah auf Befehl von Joseph Ratzinger ("De delictis gravioribus – über schwere Verbrechen"), noch bevor er Papst Benedikt XVI. wurde. Sie sind dort bis heute verschwunden. Auch Hunderte von Ordensgemeinschaften haben in Rom ihre Zentralen und Personalarchive.

Die Leiterin des ifw, Jacqueline Neumann, sagte auf der Veranstaltung: "Wo sind die deutschen Rechtshilfeersuche an den Vatikan? Aus Deutschland ist offenbar noch nicht einmal ein einziges Rechtshilfeersuchen an den Vatikan gestellt worden. Auch nicht, nachdem 2018 sechs Strafrechtsprofessoren aus unserem Institut deutschlandweit Strafanzeigen bei den Staatsanwaltschaften am Sitz von jedem Bistum eingereicht haben. Die Missbrauchsakten sind aber nicht nur für die strafrechtliche Aufarbeitung relevant, sondern auch wesentlich für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen die Kirchen und Staatshaftungsansprüche gegen Bund und Länder."

Dr. Jacqueline Neumann (Leiterin des Instituts für Weltanschauungsrecht und Kuratorin der Giordano-Bruno-Stiftung): "Wo sind die deutschen Rechtshilfeersuche an den Vatikan?"

Unabhängige Forschung zulassen

Um das Missbrauchssystem systematisch aufzuarbeiten und grundlegende Reformen vorzubereiten, forderte Pfeiffer die Bischöfe zudem auf, endlich unabhängige Forschung zu ermöglichen: "Es darf keine Augenwischerei wie noch jüngst unter Kardinal Marx mehr geben. Es braucht unabhängige Forschung. Mit der anonymen Befragung einer Zufallsauswahl von etwa 5.000 aktiven Priestern insbesondere zur extremen Arbeitsüberlastung der Priester, zum Klerikalismus und den Umgang mit dem Zölibat, können wichtige Erkenntnisse für die Missbrauchsprävention gewonnen werden."