Religionskritik im Lebenskundlichen Unterricht unerwünscht: Der Fall des Herrn K

Sachverhalt

Thema des Lebenskundlichen Unterrichts ist die Frage: "Ist der Islam mit der Moderne vereinbar?". Herr K. meldet sich mehrfach und erhält durch die Militärpfarrerin auch wiederholt das Wort. Bei diesen Wortmeldungen vertritt er naturgemäß jeweils seine Meinung. Die Kritik an einer oder mehrerer Religionen oder Religionen generell ist vom Schutz des Art. 5 I GG umfasst.

Daraufhin wird ihm jedoch vorgeworfen, er habe den Ablauf des Lebenskundlichen Unterrichts gestört. Die Störung sei dadurch erfolgt, dass er sich ständig zu Wort gemeldet habe. Des Weiteren wird ausgeführt, dass die unterrichtende Militärpfarrerin und nicht weiter benannte Kameraden dies als Störung des Unterrichts und als Provokation angesehen hätten bzw. dies als Störung und Provokation "empfanden". Es sollen außerdem "religiöse Gefühle von Kameraden verletzt" worden sein.

Gegen Herrn K. wird eine erzieherische Maßnahme verhängt.

Verfahrensstand

Der Verfahrensbevollmächtigte des Herrn K., Rechtsanwalt Sven Tamer Forst, beantragt beim Truppendienstgericht Süd, die gegen den Antragsteller ausgesprochene erzieherische Maßnahme in Form einer Belehrung und Ermahnung wegen der Vorkommnisse während des Lebenskundlichen Unterrichts aufzuheben.

Das Truppendienstgericht Süd weist den Antrag auf gerichtliche Entscheidung zurück. Gegen die im Beschluss enthaltene Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig wird Beschwerde eingelegt. Hintergrund sind unter anderem Verfahrensfehler des Truppendienstgerichts - so etwa die Vorenthaltung eines Stellungnahmeschriftsatzes des Antragsgegners. Ferner hätte das Truppendienstgericht einen Sachverhalt zu Lasten des Antragstellers zugrunde gelegt, ohne hierüber zuvor Beweis zu erheben, obwohl sich eine solche Beweisaufnahme geradezu aufdrängte und auch beantragt worden war.

Mit Beschluss vom 15. Juli 2019 (BVerwG 1 WNB 7.18) gibt das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde teilweise statt und verweist die Sache an das Truppendienstgericht Süd zurück. Am 4. Mai 2021 beschließt das Truppendienstgericht Süd sodann ohne mündliche Verhandlung erneut, den Antrag zurück zu weisen. Daraufhin entscheidet das Bundesverwaltungsgericht auf die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde mit Beschluss vom 15. Dezember 2021 (BVerwG 1 WNB 5.21), dass der zuvor genannte Beschluss des Truppendienstgerichts aufgehoben wird. Die Aufhebung wird mit der unzureichenden Sachverhaltsaufklärung durch das Truppendienstgericht sowie mit der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung trotz entsprechenden ausdrücklichen Antrages begründet.

Eine neuerliche Entscheidung des Truppendienstgerichts Süd steht trotz erhobener Verfahrensrüge noch aus.

Rechtliche Würdigung

Ungeachtet der nur vagen tatsächlichen Vorwürfe verkennt der Beschwerdegegner, dass die im Lebenskundlichen Unterricht erfolgten Äußerungen und vertretenen Auffassungen von der Meinungsfreiheit des Art. 5 I GG gedeckt sind. Generell gilt, dass die Meinungsfreiheit auch solche Äußerungen erfasst, welche andere Personen nicht nachvollziehen können oder sogar als provokant empfinden. Der Lebenskundliche Unterricht ist ein Ort des Lernens und der Diskussion gesellschaftlicher und damit auch politischer und religiöser Fragen. Die Teilnahme stellt keine Dienstausübung dar, bei welcher konkrete Aufgaben oder Funktionen erfüllt werden müssen. Gerade dort dürfte ein Meinungsaustausch auch in deutlicher Form hinzunehmen sein.

Gemäß der zum streitgegenständlichen Zeitpunkt geltenden Zentralrichtlinie ist der Lebenskundliche Unterricht "ein Ort freier und vertrauensvoller Aussprache und lebt von der engagierten Mitarbeit der Soldatinnen und Soldaten".

Dem Beschwerdeführer wird vor allem vorgeworfen, er habe provozierende Äußerungen getätigt. Abgesehen davon, dass nicht erläutert wird worin genau die Provokation bestehen soll, ist auf das Unterrichtsthema hinzuweisen. Dies trägt den Titel "Ist der Islam mit der Moderne vereinbar?". Allein den Titel könnte man schon als provozierend bezeichnen. Es dürfte jedenfalls genügend Menschen geben, die ihn als provozierend empfinden. Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Titel eine intensive Diskussion hervorrufen kann.

Demokratie, auch in der Bundeswehr, lebt von couragiertem Meinungsaustausch. Dies wird auch der Beschwerdegegner nicht in Zweifel ziehen. Die Grenzen zwischen couragiert, vehement, provozierend u. ä. dürften fließend sein. Vielleicht ist eine Differenzierung sogar gar nicht möglich, weil die Begriffe für sich genommen wiederum einen stark subjektiven Charakter haben. Störungen können demzufolge nur an objektiven Gesichtspunkten festgemacht werden. Solche objektiven Gesichtspunkte – wohl auch mangels Existenz - sind vom Beschwerdegegner nicht angeführt worden.

Die Rechtswidrigkeit der erzieherischen Maßnahme ergibt sich zusätzlich zu den oben getätigten Ausführungen aus der generellen Rechtswidrigkeit bzw. Verfassungswidrigkeit des Lebenskundlichen Unterrichts. Die Durchführung des lebenskundlichen Unterrichts und die zum streitgegenständlichen Zeitpunkt bestehende Teilnahmepflicht gemäß der Zentralrichtlinie A2/2530/0-0-1 verstoßen gegen die aus Art. 4 GG herrührende negative Religionsfreiheit des Beschwerdeführers sowie gegen das Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates. Ziff. 107 der Zentralrichtlinie lautet:

"Der Lebenskundliche Unterricht ist ein Ort freier und vertrauensvoller Aussprache und lebt von der engagierten Mitarbeit der Soldatinnen und Soldaten. Er ist kein Religionsunterricht und auch keine Form der Religionsausübung im Sinne von § 36 des Soldatengesetzes, sondern eine berufsethische Qualifizierungsmaßnahme und damit verpflichtend. Er wird in der Regel von Militärseelsorgerinnen und Militärseelsorgern und im Bedarfsfall auch von anderen berufsethisch besonders qualifiziertem Lehrkräften erteilt."

Dabei folgt die generelle Rechtswidrigkeit zunächst aus der Tatsache, dass die Zentralrichtlinie A2-2530/0-0-1 vom 27.06.2011 zum Lebenskundlichen Unterricht keine gesetzliche Grundlage hat, so dass ein Verstoß gegen die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Wesentlichkeitstheorie vorliegt. Ferner resultiert die Verfassungswidrigkeit aus dem Umstand, dass die Durchführung des Unterrichts durch Militärpfarrerinnen und Militärpfarrer erfolgt und diese an die kirchlichen Vorgaben gebunden sind.

Folglich weist der Lebenskundliche Unterricht von vornherein eine jedenfalls indirekte religiöse Tendenz und einen glaubensbezogenen Inhalt auf. So etwa sollen nach den EKD-Leitlinien die Geistlichen "das Evangelium von Jesus Christus der Schrift gemäß, der Lebenswirklichkeit angemessen glaubwürdig verkündigen. Dies gilt auch für ihren Dienst in der Militärseelsorge (Art. 4 MSV)." 

Der Einwand, der Lebenskundliche Unterricht sei kein Teil der Militärseelsorge, dürfte lediglich formaler Natur sein, denn für die einzelnen unterrichtenden Militärpfarrer/Innen dürfte eine klare vollständige Trennung ihrer unterschiedlichen Tätigkeiten naturgemäß weder innerlich, noch äußerlich möglich sein. 

Empirische Untersuchungen haben beispielsweise auch ergeben, dass jeder dritte Soldatenseelsorger in den ostdeutschen Bundesländern ein Ziel des Lebenskundlichen Unterrichts darin sieht, missionarisch wirken zu können. 

Hinzu kommt, dass in anderen Befehlen, die der Beschwerdeführer nach seiner Auskunft erhalten hat, explizit ausgeführt wird, dass der Lebenskundliche Unterricht auf den "Grundlagen christlichen Glaubens" fußt.  Diese Ausgestaltung des Unterrichts stellt eine unzulässige Verzahnung von Staat und Kirche und damit einen Verstoß gegen das Trennungsgebot dar. Das Grundgesetz postuliert über die inkorporierten Artikel der Weimarer Reichsverfassung eine klare Trennung von Staat und Kirche. Ausnahmen von diesem Trennungsprinzip müssen daher grundgesetzlich festgelegt sein. 

Zudem wird gegen das Neutralitätsgebot des Staates verstoßen. Der Staat ist nicht befugt, lebenskundlich-ethisch-gesellschaftliche Themen vor dem Hintergrund einer spezifischen Religion und zu erörtern. Zumindest in indirekter Form wird damit gegen das in Art. 4 I GG enthaltene Beeinflussungsverbot verstoßen. Dabei ist hervorzuheben, dass in der Schule staatlicher Religionsunterricht nur deswegen zulässig ist, weil Art. 7 III GG dies -  im Gegensatz zum Wehrrecht - ausdrücklich vorsieht. Das Unterricht zur ethischen Bildung und Werteorientierung, Befähigung zum Umgang mit anderen Überzeugungen, Weltanschauungen und Kulturen, zur interkulturellen Kompetenz, zu Lebensverantwortung, Gemeinschaftssinn und Gewissensschärfung in der Bundeswehr wichtig ist, steht außer Frage. Jedoch muss dieser verfassungskonform ausgestaltet sein, was nach der derzeitigen Rechtslage nicht der Fall ist. Dies hat die Unwirksamkeit der Vorschriften zur Erteilung und zur Teilnahme am Lebenskundlichen Unterricht zur Folge.

Daraus folgt wiederum als Konsequenz, dass die streitgegenständlichen Vorkommnisse im Lebenskundlichen Unterricht nicht als Grundlage für die Erteilung der erzieherischen Maßnahme herangezogen werden können.