Streikverbot in kirchlichen Einrichtungen?

Eine Sendung des SWR vom 18. Februar 20231 sorgte vor einigen Wochen für Verwirrung. Mitarbeiterinnen in einer evangelischen Kita in der Pfalz hatten vom Arbeitgeber Droh-Briefe bekommen. Wenn sie sich an dem gerade beginnenden Arbeitskampf der Gewerkschaft ver.di durch Streik beteiligen sollten, müssten sie mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen rechnen.

Die Mitarbeiterinnen sahen darin eine Androhung von Abmahnung und Kündigung. Sie hielten sich auch deshalb für streikberechtigt, weil die Evangelische Kirche der Pfalz ihre Mitarbeiterinnen nicht nach einem eigenen kirchlichen Regelwerk bezahlt. Sie übernimmt vielmehr regelmäßig den von ver.di verhandelten Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TvöD).

Die Kirche erklärte nach Angaben des SWR: "Wir als Kirche sagen nicht, dass die Leute nicht streiken dürfen. Wenn eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter sagt, sie oder er möchte an einem Unterstützungsstreik teilnehmen, dann dürfen sie das. Sie müssen dann nur dafür Urlaub oder Gleitzeittage nehmen – wie jeder andere Beschäftigte auch. Wenn sie das nicht tun und einfach fernbleiben, wird ihnen Lohn abgezogen." Nur dieser Lohnabzug, nicht etwa Abmahnung oder gar Kündigung, sei mit den arbeitsrechtlichen Konsequenzen gemeint gewesen. Die Gewerkschaft ver.di kündigte an, sie werde die Kirche verklagen, wenn Abmahnungen oder Kündigungen ausgesprochen würden.

Mal abgesehen von der naiven, wenn nicht aberwitzigen Idee der Kirche, Arbeitnehmer müssten, wenn sie streiken wollen, vorher Urlaub beantragen: Ist ver.di im Recht? Wie steht es mit dem Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen?

Die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Thema ist in einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 20. November 20122 (1 AZR 179/11) ausführlich zusammengefasst. Sie gibt, jedenfalls auf den ersten Blick, dem kirchlichen Standpunkt ihren Segen: Kirchliche Unternehmen haben aufgrund der verfassungsrechtlichen Garantien aus Art. 140 GG iVm Art. 137 WRV und Art. 4 GG das Recht, in Erfüllung der von ihnen selbst zu definierenden kirchlichen Anliegen (Diakonie, Caritas) am Wirtschaftsleben teilzunehmen und dabei die Regeln des sogenannten "Dritten Wegs" für sich in Anspruch zu nehmen.

"Dritter Weg" heißt in diesem Zusammenhang: Kollektive Regelungen für die Arbeitsverhältnisse werden nicht durch Arbeitskämpfe, sondern durch eigene konsensorientierte Verfahren geschaffen. Auch betriebliche Konfliktlagen, deren Behandlung sich im weltlichen Unternehmen nach dem Betriebsverfassungsgesetz richtet, dürfen die Kirchen durch eigene Regelungswerke (Mitarbeitervertretungsordnungen) gestalten. Sie müssen darin allerdings vorsehen, dass die Letztentscheidungen in paritätisch von Dienstnehmer- (sprich: Arbeitnehmer-) und Dienstgeber-Seite (sprich Arbeitgeber-) Seite besetzten Schlichtungskommissionen getroffen werden, in denen auch Gewerkschaften sitzen dürfen. Außerdem muss im Nichteinigungsfall eine neutrale Person den Ausschlag geben. Die Gewerkschaften dürfen also auch "bei Kirchens" mitmischen, nur streiken dürfen ihre Mitglieder nicht. Was böse Zungen dazu verleitet hat, den "Dritten Weg" als den Weg des "kollektiven Bettelns" zu bezeichnen. Wobei das, wie der Verfasser dieser Zeilen aus eigener Erfahrung als Vorsitzender eines Vermittlungsausschusses in der katholischen Kirche weiß, nicht der Wahrheit entspricht. Es werden im "Dritten Weg" durchaus faire Ergebnisse ausgehandelt, zuweilen sogar bessere, als ver.di sie erzielt. Ein Beispiel dafür ist die gegenüber dem Gesetz deutlich arbeitnehmerfreundlichere Regelung des Befristungsrechts in den Arbeitsvertragsrichtlinien der Deutschen Diözesen und des Caritas-Verbandes3.

Begründet wird die Sonderstellung der kirchlichen Arbeitgeber von BAG und BverfG damit, dass die Kirchen die Zusammenarbeit in den betreffenden Bereichen (Caritas und Diakonie) als Ausdruck ihrer christlichen Sendung und nicht nur als neutrale Dienstleistung begreifen4. Beschäftigte und Dienstgeber bilden nach dem Verständnis der beiden großen christlichen Kirchen eine "Dienstgemeinschaft". Sie stehen einander nicht konfliktuell gegenüber, sondern wirken in der Erfüllung des göttlichen Heilswerks zusammen. Man kann sich die Mitarbeiter kirchlicher Unternehmen ungefähr so vorstellen wie die "Blues-Brothers", die bei ihren – zugegeben skurrilen – Unternehmungen ständig "im Namen des Herrn unterwegs" sind. Ob eine solche "Dienstgemeinschaft" sich irgendwie messbar von einer weltlichen Arbeitseinheit in derselben Branche unterscheidet, spielt für die rechtliche Beurteilung keine Rolle. Insbesondere kommt es nicht darauf an, ob die Beschäftigten kirchenangehörig oder gar gläubig sind. Allein entscheidend ist, so sagt das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung zum Dritten Weg im Einklang mit dem Bundesverfassungsgericht, dass die Kirche es so definiert.

Da muss der Laie mehrfach schlucken und stellt fest, dass dann, wenn die Kaiserslauterner Kita im vorgenannten Sinne kirchlich ist, die Arbneitnehmerinnen tatsächlich nicht streiken dürfen.

An der Richtigkeit der genannten Rechtsprechung kann man natürlich zweifeln. Das in Art. 11 der Europäischen Menschenrechts-Konvention niederlegte Streikrecht dürfte der deutschen höchstrichterlichen Sichtweise allerdings nicht entgegenstehen. Zum Einen lässt der EGMR den Mitgliedsstaaten einen weiten Spielraum hinsichtlich der Art und Weise, wie die gewerkschaftliche Freiheit und der Schutz der beruflichen Interessen der Gewerkschaftsmitglieder gewährleistet werden5. Das Bundesverfassungsgericht sagt in ständiger Rechtsprechung, dass die völkerrechtsfreundliche Auslegung des deutschen Rechts da seine Grenze findet, wo sie "nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint"6. Da die Vorrechte der Kirchen in Deutschland Verfassungsrang haben, dürften sie durch Art. 11 EMRK nicht berührt werden können. Dem Bundesarbeitsgericht ist bei dieser verfassungsrechtlichen Lage jedenfalls zugutezuhalten, dass es in seiner Entscheidung zum "Dritten Weg" versucht hat, die sehr kirchenfreundlichen Ansichten des BVerfG wenigstens in einen gewissen Ausgleich mit dem Streikrecht zu bringen, indem es die Kirchen zwingt, die Gewerkschaften auf dem "Dritten Weg" mitzunehmen. Allerdings bleibt die "Dienstgemeinschaft" ein christliches Mysterium7. In ihrer 2022 erschienenen Dissertation hat Linda Krewerth die Problematik dieses letztlich meist inhaltsleeren Begriffs herausgearbeitet8, dessen Abstammung aus dem  nationalsozialistischen Rechtsdenken unseligen Andenkens schon bösen Verdacht erwecken kann. Die Zweifel an der bisherigen Linie der Rechtsprechung gelten erst recht, wenn eine kirchliche Einrichtung wie die Kaiserslauterner Kita – so man sich auf die Reportage des SWR verlassen kann – von vornherein erklärt, gar kein eigenes Regelwerk anzustreben und stattdessen die Regelungen des TVöD ohne Abstriche anwendet.

In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick auf den Leitsatz der BAG-Entscheidung zum "Dritten Weg". Er lautet:

"Verfügt eine Religionsgesellschaft über ein am Leitbild der Dienstgemeinschaft ausgerichtetes Arbeitsrechtsregelungsverfahren, bei dem die Dienstnehmerseite und die Dienstgeberseite in einer paritätisch besetzten Kommission die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten gemeinsam aushandeln und einen Konflikt durch den neutralen Vorsitzenden einer Schlichtungskommission lösen (sog. Dritter Weg), dürfen Gewerkschaften nicht zu einem Streik aufrufen. Das gilt jedoch nur, soweit Gewerkschaften in dieses Verfahren organisatorisch eingebunden sind und das Verhandlungsergebnis für die Dienstgeberseite als Mindestarbeitsbedingung verbindlich ist."

Wenn aber – wie offenbar der Träger der Kita in der Pfalz – die Kirche schon im Voraus erklärt, dass sie den weltlichen TVöD anwenden wird, dann besteht ja offenbar noch nicht einmal die Absicht, materiell andere, auf die Kirchlichkeit der kirchlichen Einrichtung ausgerichtete – vielleicht für die Dienstnehmerinnen günstigere – Arbeitsbedingungen zu vereinbaren, als sie durch den Arbeitskampf von ver.di erzielt werden. Besteht dann nicht der einzige Unterschied zwischen der kirchlichen und der nichtkirchlichen Einrichtung darin, dass die Kirchen sich den Streikärger sparen und die Früchte des säkularen, vielleicht sogar atheistischen Treibens ihren Arbeitnehmern einfach vorsetzen? Kann das der Sinn der so mühsam aus allen irgendwie plausibel herangezogenen Rechtsquellen entnommenen Maßgaben der individuellen und institutionellen Religionsfreiheit sein?

Man könnte sich, wie es in der oben schon erwähnten Frage der Befristungsregelungen in kirchlichen Arbeitsverhältnissen geschehen ist, auch als Kirche die Frage stellen, ob man nicht den Dritten Weg als Innovationschance nutzt und versucht, sich abzuheben von gewinnorientierten und staatlichen Unternehmen. So könnte man seinen Ehrgeiz darein setzen, für die kirchlichen Mitarbeiter(innen) besonders attraktive Beschäftigungsbedingungen zu schaffen, die zum Beispiel die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern oder Weiterbildungsangebote vorsehen. Man könnte auch gemeinsame Reisen für den Zusammenhalt der Mitarbeiter anbieten, und auch im Arbeitsalltag ließe sich Zeit und Raum für die Reflexion über den Sinn der Tätigkeit und des Zusammenwirkens schaffen. So etwas würde natürlich Geld kosten, aber die Kirchen könnten durch solche Maßnahmen ihre Christlichkeit unter Beweis stellen und hätten echte Argumente für ihre den Streik ausschließenden Sonderrechte.

1 https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/kaiserslautern/evangelisch...

2 BAG 20. November 2012 – 1 AZR 179/11 –, BAGE 143, 354; nachfolgend BVerfG 15. Juli 2015 – 2 BvR 2292/13 – BVerfGE 140, 42

3Bepler in juris-Praxisreport Rechtsprechung Februar 2022 zum Urteil des Kirchlichen Arbeitsgerichtshofes Bonn vom 26.11.2021 - K 06/2021

4Vgl. dazu ausführlich: Brune/Schmitz-Scholemann, Chefarzt, Egenberger und nun eine Hebamme, NZA 2022, 1646 ff

5Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte vom 10.6.2021 – Nr. 45487/17 – Rn 114; dazu Walser EuZA 2022, 338 ff.

6BVerfG, Urt. v. 12.6.2018 – 2 BvR 1738/12 u. weitere, LS 3 c

7Ob die Annahme einer prästabilierten Harmonie im Sinne einer Dienstgemeinschaft realistisch ist, wird auch in Kirchenkreisen bezweifelt, vgl. Thomas Hanstein, Hiltrud Schönheit und Peter Schönheit: "Heillose Macht! Von der Kultur der Angst im kirchlichen Dienst", Herderverlag 2022, Rezension abrufbar im Online-Dienst der katholischen Kirche unter https://www.katholisch.de/artikel/40931-wiefuehrungsschwaeche-zu-machtmi.... Zum Begriff der "Dienstgemeinschaft" sehr instruktiv Krewerth, S. 193 ff.; vgl. auch: Bepler, Die zukünftige Arbeit der Arbeitsrechtlichen Kommissionen in 40 Jahre Kommission für das Arbeitsvertragsrecht der Bayerischen Diözesen, 2020. Den "blinden Fleck" in der Herleitung von Sonderrechten der Kirchen hat auch die katholische Bischofskonferenz erkannt, indem sie vor allem in den Artikeln 2 bis 4 der neuen Grundordnung vom 22.11.2022 versucht, die Katholizität der Dienstgemeinschaft ausführlich zu beschreiben und insbesondere die Arbeitgeberseite auf katholische Werte wie einen wertschätzenden, gleichsam geschwisterlichen Umgang mit den Arbeitnehmern zu verpflichten.

8 L. Krewerth, Besondere Loyalitätsobliegenheiten in kirchlichen Arbeitsverhältnissen – Eine verfassungsrechtliche Betrachtung im Kontext, Diss. Köln 2021, Baden-Baden 2022