BVerfG (1 BvR 792/03): Verkäuferin mit islamischem Kopftuch (Nichtannahmebeschluss) 01.07.2003 KapitelÜberblick Aktenzeichen: 1 BvR 792/03, BVerfG-K 1, 308 Fundstelle: BVerfG 30.07.2003 = NJW 2003, 2815 Gericht: BVerfG Urteilsdatum: 30.07.2003 Externe URL: dejure Ergänzend: Hinweise und Abkürzungen Stichwörter: Arbeitsrecht Drittwirkung Glaubensfreiheit Grundrechtskollision Islam Kündigungsschutz Leitsätze (nichtamtlich): Eine Kündigung wegen eines islamischen Kopftuchs ist im Privatrechtsverkehr nur dann sozial gerechtfertigt, wenn und soweit sie auf Grund plausibler und nachvollziehbarer Erwägungen durch personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Gründe bedingt ist, die einer Weiterbeschäftigung entgegenstehen. Eine Verursachung betrieblicher Störungen oder wirtschaftlicher Nachteile durch das Kopftuch muss hinreichend plausibel dargelegt werden. Fallgeschichte Ein Kaufhaus kündigte einer türkisch-stämmigen Verkäuferin, als sie wegen Wandels ihrer religiösen Vorstellungen ein Kopftuch zu tragen begann. Die Arbeitgeberin hielt eine Weiterbeschäftigung für ausgeschlossen, weil das Verkaufspersonal gehalten sei, sich dem Stil des Hauses entsprechend gepflegt und unauffällig zu kleiden. Gerade in der Parfümerieabteilung sei eine Verkäuferin mit Kopftuch nicht tragbar. Erst das BAG gab der Kündigungsschutzklage statt, weil die soziale Rechtfertigung fehle (BAGE 103, 111 = NJW 2003, 1685). Gründe In diesem Kollisionsfall gehe die Glaubensfreiheit der Arbeitnehmerin in Abwägung mit der Berufsfreiheit und allgemeinen Handlungsfreiheit des Arbeitgebers vor. Das BAG habe das Abwägungsergebnis maßgeblich darauf gestützt, dass die Beschwerdeführerin betriebliche Störungen oder wirtschaftliche Nachteile nicht hinreichend plausibel dargelegt habe. Insoweit könne sich die Beschwerdeführerin nicht auf Branchenüblichkeit oder die Lebenserfahrung berufen, zumal die Arbeitnehmerin auch weniger exponiert in anderen Abteilungen als Verkäuferin eingesetzt werden könne. Diese Argumentation sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Wörtlich erklärt das BVerfG: "Eine Kündigung ist nur gerechtfertigt, wenn und soweit diese auf Grund plausibler und nachvollziehbarer Erwägungen durch personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Gründe "bedingt" ist, die einer "Weiterbeschäftigung" des Arbeitnehmers entgegenstehen (§ 1 Abs. 2 KSchG). Dabei geht es nicht um die Sanktionierung unbotmäßigen Verhaltens, sondern um die Folgen, die ein bestimmtes Verhalten für die weitere Beschäftigungsmöglichkeit des Arbeitnehmers hat. Deshalb ist es sachgerecht, wenn das Bundesarbeitsgericht bei der Herbeiführung eines schonenden Ausgleichs der unterschiedlichen grundrechtlichen Positionen die Glaubensfreiheit der Arbeitnehmerin nicht auf einen möglichen "Verdacht" hin als beiseite gestellt ansieht (unter Berufung auf Böckenförde, NJW 2001, S. 723 <728>), sondern eine konkrete Gefahr des Eintritts der von der Beschwerdeführerin behaupteten negativen betrieblichen oder wirtschaftlichen Folgen verlangt." Kommentar Der Beschluss entspricht der allgemeinen Rechtsmeinung, dass die Gesetze im Privatrechtsverkehr im Licht der betroffenen Grundrechte auszulegen sind (Drittwirkung der Grundrechte).