BVerfG (2 BvR 1693/04): Heimunterricht; Verstoß gegen Strafnormen (Nichtannahmebeschluss) 31.05.2006 KapitelÜberblick Aktenzeichen: 2 BvR 1693/04, BVerfG-K 8, 151 Fundstelle: BVerfG 31.05.2006 – BayVBl 2006, 633 Gericht: BVerfG Urteilsdatum: 31.05.2006 Externe URL: dejure Ergänzend: Hinweise und Abkürzungen Stichwörter: Beeinflussungsfreiheit Elternrecht Erziehung Evolutionslehre Heimunterricht Menschenwürde Schulpflicht Sexualerziehung Strafrecht Leitsätze (nichtamtlich): Die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 GG kann Art und Maß der zulässigen strafrechtlichen Sanktionen beeinflussen. Bei religiöser Motivation ist jeweils zu fragen, ob unter den besonderen Umständen eine Bestrafung den Sinn staatlichen Strafens erfüllen kann. Daran fehlt es, wenn der Täter sich nicht aus mangelnder Rechtsgesinnung gegen die staatliche Rechtsordnung auflehnt, sondern in einer persönlichen Grenzsituation die allgemeine Rechtsordnung mit dem Glaubensgebot in Konflikt gerät und der Täter dem Glaubensgebot den Vorrang gibt. Fallgeschichte Ein Elternpaar hielt seine drei Töchter vom weiteren Besuch der Gesamtschule ab, weil sie dort Einflüssen ausgesetzt seien, die bei wortgetreuem Bibelverständnis göttlichen Geboten zuwiderliefen. Das betraf sexualkundliche Wissensvermittlung und die Evolutionstheorie. Die Kinder wurden zu Hause unterrichtet. Das LG sprach eine Verwarnung mit Strafvorbehalt aus. Die VfB wurde nicht zur Entscheidung angenommen. Gründe Die Pflicht aller öffentlichen Gewalt, die ernste Glaubensüberzeugung zu respektieren, müsse jedenfalls dann zu einem Zurückweichen des Strafrechts führen, wenn der konkrete Konflikt zwischen einer nach allgemeinen Anschauungen bestehenden Rechtspflicht und einem Glaubensgebot den Täter in eine seelische Bedrängnis bringe, der gegenüber sich die Bestrafung als eine übermäßige, seine Menschenwürde verletzende soziale Reaktion darstellen würde. Im streitigen Fall liege eine derartige Gewissensnot nicht vor. Die schulische Vermittlung von Kenntnissen über geschlechtlich übertragbare Krankheiten und über Methoden der Empfängnisverhütung sowie der Evolutionstheorie sei nicht zu beanstanden. Nach BVerfG gibt es in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, kein Recht, Kinder vollständig von fremden Glaubensbekundungen oder Ansichten abzuschirmen. Auch hätten es die Eltern unterlassen, an Elternabenden teilzunehmen oder sonst ihre Besorgnisse vorzutragen. Hinzu komme, dass das vollständige Fernhalten der Töchter unverhältnismäßig gewesen sei. Die Beschwerdeführer hätten nicht dargelegt, weshalb nicht ein Fernbleiben ihrer Kinder nur von bestimmten Unterrichtseinheiten als milderes Mittel zur Sicherung ihres elterlichen Erziehungsrechts ausgereicht hätte. Kommentar Der Beschluss entspricht völlig der verfassungs- und verwaltungsgerichtlichen Rspr. Er behandelt das in der Praxis häufige Argument der unzulässigen Einflussnahme in Sachen Sexualität und Evolutionslehre. Zur unnötigen Zusatzbemerkung, es sei nicht lediglich eine Befreiung von einschlägigen Unterrichtseinheiten beantragt worden, ist zu sagen, dass ein solches Vorgehen bei neutralem Unterricht auch nach der Rspr. des BVerfG ebenfalls keinen Erfolg hätte haben können. Interessant wäre die Beantwortung der Frage, wann in Strafsachen- oder Ordnungswidrigkeitssachen ein Absehen von Strafe zur Wahrung der Gewissensfreiheit infrage kommt, anhand eines konkreten Beispiels. Das dürfte aber ziemlich theoretisch sein. Es kann wegen Art. 4 GG ein Entschuldigungsgrund vorliegen. Das BVerfG hat in E 23, 134 zur Strafzumessung bei Gewissenstätern von einem allgemeinen Wohlwollensgebot gesprochen, was hier nicht weiter zu erörtern ist.