Pluralismus

I. Politischer Pluralismus

Pluralismus in Staat und Gesellschaft meint einen Ordnungszustand zwischen reinem Individualismus und Totalitarismus, bei dem die unterschiedlichen Interessen vielfach in grundsätzlich gleichberechtigten Gruppen gebündelt sind. Diese wirken autonom und suchen zugunsten ihrer Sonderinteressen auf Gesellschaft und Staat Einfluss zu nehmen. Der P. ist damit ein Grundmerkmal des modernen demokratischen Rechtsstaats. Die Vertretung von Gruppeninteressen ist einerseits problematisch im Hinblick auf das (freilich dynamische und oft schwer festzustellende) gesellschaftlich-politische Gesamtinteresse (Gemeinwohl), andererseits aber notwendig wegen der klaren Formulierung der divergierenden Sonderinteressen. Aufgabe der staatlichen Organe ist es, zumal wegen der zunehmenden Beschleunigung und Individualisierung in allen Lebensbereichen, diese Interessen in seiner Gesetzgebung und seinem sonstigen Handeln (insbesondere: bei der Förderung von Maßnahmen und Institutionen und bei der Repräsentation) angemessen und verfassungskonform zu berücksichtigen bzw. auszugleichen und die Durchsetzung unberechtigter Sonderinteressen zurückzuweisen. Das scheint in einer Zeit harter wirtschaftlicher Auseinandersetzungen und des zunehmenden Egoismus gerade bei Führungskräften gegenüber einem aggressiven Lobbyismus immer weniger zu gelingen.

II. Religiöser Pluralismus

Die zunehmende Pluralisierung hat auch die Religionen erfasst. Die Säkularisierung und Selbstsäkularisierung der großen Kirchen ist (im Gegensatz zu anderen Teilen der Welt) in Europa zunehmend weit fortgeschritten, mit am weitesten in Deutschland. Die Folge ist eine erhebliche Zunahme der Nichtreligiösen (Indifferente sowie weltliche Humanisten), aber auch einer Fülle meist kleiner Religionsgemeinschaften (abwertend: Sekten). Herausragende Bedeutung hat der Islam gewonnen. Eine größer werdende Gegenbewegung sind die Kreationisten und die Vertreter des Intelligent Design (teils innerhalb, teils außerhalb der Kirchen). Echter Pluralismus erfordert eine formale Gleichbehandlung (ideologische Neutralität) im Rahmen des Möglichen, was aber in Politik und Rechtspraxis und auch in der Gesellschaft weithin missachtet wird. Kleine Religionsgemeinschaften werden z. T. eklatant benachteiligt, vor allem aber wird der schon sehr große Bevölkerungsteil, der dem säkularen Humanismus nachweislich zuzurechnen ist, völlig ignoriert. Es gibt zwar immer noch um die 740 christlich-theologische Professuren[1] und eine große Zahl von Professuren für Islamwissenschaften und Judaistik, zusätzlich auch außerhalb theologischer Fakultäten zahlreiche religionswissenschaftliche Professuren (mit oft christlichem Hintergrund). Dem steht nicht ein einziger Lehrstuhl für "Humanistik" gegenüber: das Gegenteil von Pluralismus.

Insbesondere der gewaltige und von der Bundesverwaltung geförderte kirchliche Lobbyismus spielt eine nicht zu überschätzende Rolle (s. Lobbyismus, kirchlicher).

III. Benachteiligung des GG-nahen Gedankenguts

Gerade die Vertreter des aufklärerisch-humanistischen Gedankenguts, das dem Geist des GG am nächsten steht und in dem es historisch seine kräftigsten Wurzeln hat, werden von Staat und Gesellschaft an den Rand gedrückt. Dabei geht es um die Menschenrechte, insb. die Freiheit der Religionen und Weltanschauungen, die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, einen freien geistigen Prozess, um Demokratie, Gewaltenkontrolle, Gleichheit und Toleranz als bürgerlicher Tugend. Diesem bedauerlichen Tatbestand entspricht das weitgehende Fehlen einer ausreichenden staatsbürgerlichen Erziehung, so dass selbst bei vielen Repräsentanten in Staatsführung, Verwaltung und Schule beklagenswerte Defizite an staatsbürgerlichen Grundkenntnissen bzw. entsprechende Grundhaltungen festzustellen sind. Das Schwinden der gesellschaftlichen Integration ist daher nicht verwunderlich, die Entwicklung eines allgemeinen Verfassungspatriotismus ein Desiderat. Die bemerkenswerte Dominanz der großen christlichen Kirchen weit über ihre zahlenmäßige und innere Stärke und die ihnen selbstverständlich zustehende Freiheit hinaus auf vielen Gebieten[2] steht in einem auffälligen Gegensatz zur starken Säkularisierung der Gesellschaft. Die Kirchen haben zwar die genannten Verfassungswerte seit 1945 im Wesentlichen auch zu den ihren gemacht (vom Neutralitätsgebot abgesehen), aber ihr machtbewusstes Dominanzstreben hat im Zweifel Vorrang. Solange Politik und Gesellschaft unberechtigte religiöse Sonderinteressen nicht zurückweisen, ist der Pluralismus defizitär.

>> Evolutionslehre; Humanismus; Leitprinzipien des Grundgesetzes; Islam; Statistik; Soziologie; Klerikalismus; Lobbyismus, kirchlicher; Neutralität; Säkularität; Säkularisation; Säkularisierung; Sekten.


  • [1] Einschließlich Fachhochschulprofessoren; Daten s. Statistisches Bundesamt, Stand 2013/14.
  • [2] Das betrifft viele Gebiete wie Schulen, Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen, Politik, Akademien, öffentliche Förderung, Sozialwesen, Bundeswehr, öffentliche Trauer.

© Gerhard Czermak/ ifw (2017)