Leitprinzipien des Grundgesetzes

I. Keine religiöse Begründung der Verfassung

Heute ist zumindest unter Verfassungsjuristen völlig unbestritten, dass das GG dem Bürger von Staats wegen keine Ideologie hinsichtlich der Lebensführung vorschreibt. Das ist ein Resultat des Umstands, dass mit der WRV von 1919 (zumindest rechtstheoretisch) der Glaubensstaat beendet und durch die Säkularität des Staats beendet wurde, d. h. die Rechtsordnung ist nicht mehr religiös begründet. Daher hat das BVerfG in einer Entscheidung von 1989 ausgeführt, eine „gezielte Beeinflussung...im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung“ sei dem Staat verboten[1] (st. Rspr.).

Diese Aussage ist allerdings unvollständig. Richtig ist sie nur in dem Sinn, dass das GG bezüglich der Werte als Grundlage für Entscheidungen des Gesetzgebers und des Einzelnen nur einen ausfüllungsbedürftigen Rahmen darstellt. Das heißt aber nicht, dass das GG in Konturierung dieses Rahmens nicht auch selbst Werte enthält. Keine Staatsverfassung enthält ausschließlich formale Regeln, und selbst formale Regeln (z.B. zur Organisierung der Staatsgewalt nach Mehrheitsentscheidung, Repräsentation und Parteienbildung) entspringen einer ideologischen Grundvorstellung und repräsentieren diese.

Es stellt sich daher die Frage: Welche Ideologie (Leitprinzipien) hat das GG und welche Bedeutung hat sie generell für die Zulässigkeit ideologischer Momente in Gesetzgebung und Verwaltung, insbesondere bei der staatlichen Schulerziehung und Wissensvermittlung? Besonders schwierig sind Aussagen zu in der Gesellschaft umstrittenen ethischen Fragen wie der des Schutzes vorgeburtlichen menschlichen Lebens und weiteren Fragestellungen der Bioethik einschließlich des humanen Sterbens. Ob und inwieweit das GG zu diesen und anderen Problemen verbindliche Entscheidungsvorgaben enthält, ist vielfach noch ungeklärt, obwohl oder gerade weil es um als existentiell empfundene Probleme geht.

II. Kernforderungen des Grundgesetzes
1. Zum Kernbereich der staatlichen Grundordnung des GG gehören die bekannten rechtsstaatlich-demokratischen Prinzipien mit Grundrechten (Freiheits- und Gleichheitsgeboten), Gewaltenteilung, richterlicher Unabhängigkeit usw., insb. die gleiche Würde aller Menschen, aber auch das Sozialstaatsprinzip, der Föderalismus und der Völkerfriede (Art. 26 GG). All diese Rechte und Prinzipien finden sich explizit im GG. Man kann sie als Werte, nämlich Verfassungswerte, bezeichnen, und ihr Funktionieren setzt die Akzeptanz eines allgemeinen (nicht speziellen) Menschenbilds voraus. Dem GG ist ein aus seinem Text und Geist zu entwickelndes Idealbild des Staatsbürgers zu entnehmen, das der Staat in seiner Rechtsordnung berücksichtigt. Das BVerfG formuliert beispielsweise.: "Das GG ist eine wertgebundene Ordnung, die den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts erkennt; sein Menschenbild ist nicht das des selbstherrlichen Individuums, sondern das der in der Gemeinschaft stehenden und ihr vielfältig verpflichteten Persönlichkeit." [2]

2. Wie das Menschenbild konkret-individuell aussieht, sagt das GG nicht, und gerade dieser "Mangel" gehört zu seinem verfassungstheoretischen Wesen. Zur Pluralität des dem GG ebenfalls zu entnehmenden ethischen Standards sagt das BVerfG lediglich, er bestehe in der "Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen angesichts eines Menschenbildes, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist. In dieser Offenheit bewahrt der freiheitliche Staat des GG seine religiöse und weltanschauliche Neutralität."[3] Siehe näher unten V.

3. In zahlreichen Entscheidungen des BVerfG ist zum Ausdruck gekommen, dass zu den Grundelementen der Ordnung des GG die Garantie eines freien Meinungsbildungsprozesses gehört, und zwar sowohl in politischer, als auch religiös-weltanschaulicher Hinsicht. Dem GG lassen sich aber neben den genannten Grundrechten und Basissätzen, darunter auch das Gebot der Nichtdiskriminierung wegen persönlicher Merkmale (Art. 3 III GG), auch einzelne weitere relativ konkrete inhaltliche Anforderungen entnehmen. Dazu gehören generelle Ablehnung von Gewalt (Art. 8 I GG), ausgenommen für Zwecke der Verteidigung (Art. 12 a GG), damit korrespondierend der Schutz für Verfolgte (Art. 16 a GG); Verantwortung für die Nachwelt, die natürlichen Lebensgrundlagen und Tierwelt (Art. 20 a GG), vereintes Europa in Gleichberechtigung, allgemeiner Weltfriede (Präambel, Art. 23-25). Diese Gesichtspunkte zusammen ergeben die Grundstruktur einer auf inhaltlichen Werten beruhenden Verfassungsordnung, und diese bedingen ein einerseits in gewisser Weise spezifisches, andererseits pluralistisch-offenes „Menschenbild“. Selbstverständlich können und sollen die Erziehungseinrichtungen diese verfassungsrechtlichen Grundvorgaben, den notwendigen Grundkonsens, auch als verbindlich vermitteln, denn es geht um die Basis des friedlichen und gerechten Zusammenlebens in der Gesellschaft. Mit dieser "Doktrin" darf und soll Schule also „indoktrinieren“ (s. auch Schulbücher; Erziehungsziele). Alles zusammen ist die staatliche Leitkultur, und sie fußt auf dem Gedankengut der Aufklärung (s. dort).

III. Zulässige und unzulässige Staatsideologie
Das Problem und eine stete Quelle von Missverständnissen liegt in der Notwendigkeit der Unterscheidung von zulässiger und unzulässiger Staatsideologie. Die Propagierung eines Menschenbildes und ethischer Prinzipien durch die öffentliche Hand, die über den oben beschriebenen Prinzipienrahmen des GG hinausgehen, wäre unzulässige Staatsideologie bzw. die unzulässige einseitige Propagierung einer speziellen Ethik. Das hat das BVerfG mehrfach ausdrücklich festgestellt und ist im Grundsatz anerkannt. Ein spezifisches Konzept des guten Lebens kennt das GG gerade nicht. Insbesondere ergeben sich aus ihm keine Anhaltspunkte für die Propagierung einer christlich-religiösen (oder nichtreligiösen) Weltauffassung (s. Christentum und GG; Neutralität). Dass die Gottesnennung in der GG-Präambel nur als persönliches Motiv der Verfassungsgeber nach 1945 zu verstehen ist, dem GG aber keine zusätzliche normative Bedeutung verleiht, ist so gut wie anerkannt (s. Gott als Verfassungsbegriff). Die Probleme der Abgrenzung zwischen zulässiger und unzulässiger Ideologie liegen wegen des grundsätzlichen parlamentarischen Mehrheitsprinzips auch hier im Detail. Immer wieder versuchen insbesondere religiöse Institutionen und die ihnen ideell oder zumindest wahltaktisch verbundenen Politiker, ihr manchmal sehr spezielles und nicht allgemein als zumindest tragbar empfundenes Konzept zu einzelnen ethischen Fragen der Allgemeinheit per Gesetz aufzuzwingen. Die dabei zu stellenden Abgrenzungsfragen zwischen zulässiger und unzulässiger Ideologie sind noch wenig erforscht. Wesentliches hierzu leistet die liberale Rechts- und Staatstheorie.

IV. Staatsphilosophische Gefahren
Im Gegensatz zur konkreten Herausarbeitung einer positiven „Ideologie des GG“ aus den Normtexten besteht bei staatsphilosophischen Ansätzen die Gefahr, dem GG Tendenzen zu unterschieben, etwa zivilreligiöser Art, die den (im GG durchaus vorhandenen) Gemeinschaftsgedanken besonders hervorheben (wie etwa Winfried Brugger). Demgegenüber ist zu betonen, dass der Staat des GG – historisch plausibel – nicht auf religiös-weltanschaulichen Grundlagen beruht und dass der Grundrechtsschutz nicht durch Mehrheitsentscheidungen ausgehebelt werden darf.

V. Exkurs: Menschenbild des GG
1. Die Rede vom Menschenbild des GG taucht im allgemeinen und rechtlichen Sprachgebrauch immer wieder auf und steht in engem Zusammenhang mit der Menschenwürde, deren Konturierung ein zugrunde zu legendes Menschenbild dienen soll. Größere rechtspraktische Bedeutung hat Rede vom Menschenbild nicht erlangt. Sie vermag aber einen wesentlichen Aspekt des GG-Systems in einer Kürzel-Funktion auszudrücken. In einer seiner frühen Entscheidungen hat das BVerfG 1954 folgende viel zitierte Formulierung gefunden: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG.“ [4]

2. Das GG kennt den Ausdruck Menschenbild nicht. Das BVerfG hat die Formel vom M. hauptsächlich zur Begründung von Freiheitsbegrenzungen gebraucht. Zu diesem Zweck gibt es aber eine ausgefeilte verfassungsrechtliche Dogmatik, deren Anwendung einen mit lediglich persönlich-beliebigen ethischen Meinungen und Spekulationen leicht auffüllbaren Begriff wie M. überflüssig macht. Die unnötige Verwendung derart ideologieanfälliger Begriffe kann leicht der Verschleierung fehlender Sachargumente dienen.[5] Dem M. des GG liegt jedenfalls keine spezifische ideologische Vorstellung zugrunde, etwa im Sinn einer bestimmten religiösen Vorstellung vom Menschen, denn das r-w pluralistische und neutrale GG ist verschiedenen Menschenbildern im engeren Sinn offen, ohne sich selbst mit einem zu identifizieren. Das M. des GG – wenn man diese Formel dennoch gebrauchen will – ist daher allgemein-abstrakt i.S. der oben zitierten Passage des BVerfG.

>> Aufklärung; Bioethik; Christentum und Grundgesetz; Erziehungsziele; Gott; Grundrechtsdogmatik; Menschenwürde; Neutralität; Säkularität; Weimarer Verfassung; Zivilreligion.

Literatur

  • BVerfGE 41, 29 = NJW 1976,947, 17.12.1975 – 1 BvR 63/68: Christliche Gemeinschaftsschule BW);
  • BVerfG, NVwZ 1990, 54, B. vom 9.2.1989 (Schulbuchzulassung).
  • Huster, Stefan: Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates. Das Kreuz in der Schule aus liberaler Sicht. In: Brugger, W./Huster, S. (Hrsg.): Der Streit um das Kreuz in der Schule, 1998, 69-108 (eingeh. Begründung des Neutralitätsliberalismus).
  • Pawlowski, Hans-Martin: Recht und Glauben, KuR 1998 Nr. 110, S. 93-112 (zur inneren Rechtfertigung der Rechtsnormen im pluralistischen Staat).
  • Smid, Stefan: Recht als Wertordnung? In: ders., Einführung in die Philosophie des Rechts, München 1991 (JuS-Schriftenreihe; § 5, S. 43-60; Problem der Wertbegründungen).
  • fowid-Artikel: Vertiefender Überblick zu GG und Religion
  • ak-schulfach-ethik: Zur „Ideologie“ des GG
 


  • [1] BVerfG NVwZ 1990, 54 (B. v. 9.2.1989).
  • [2] E 12,45/51
  • [3] E 41,29/50
  • [4] BVerfGE 4,7/15 (1954), st. Rspr.)
  • [5] wie hier z.B. H. Dreier in: Dreier-GG I, Art. 1, 3. A. 2013.

Grundgesetz, Leitprinzipien

© Gerhard Czermak / ifw (2017)