Bundesarbeitsgericht – 2 AZR 130/21 (A): Vorlagefrage an den Europäischen Gerichtshof wegen Kirchenaustritt
Zusammenfassung:
Am 21.07.2022 legte das Bundesarbeitsgericht dem Europäischen Gerichtshof erneut eine Vorlagefrage vor, die das kirchliche Arbeitsrecht betrifft. Es geht darum, ob eine katholisch getragene Klinik einer Hebamme kündigen darf, weil sie einige Jahre zuvor aus der Kirche ausgetreten war. Die Paradoxie besteht darin, dass dieselbe Klinik andererseits andere Hebammen ohne Kirchenmitgliedschaft beschäftigt. Die Antwort des EuGH auf die neue Vorlagefrage wird auch für ein laufendes Verfahren, eine beim BVerfG eingereichte Verfassungsbeschwerde der evangelischen Diakonie gegen das BAG und den EuGH, von Belang sein.
I.
Die Vorlagefrage, mit der sich das BAG im Juli 2022 an den EuGH wandte[1], betrifft folgenden Vorgang: Eine von der katholischen Caritas getragene Klinik im Ruhrgebiet hatte im Jahr 2019 einer Hebamme während ihrer Probezeit gekündigt. Im Personalfragebogen hatte sie angegeben, im Jahr 2014 aus der katholischen Kirche ausgetreten zu sein. Die Klinik bedrängte sie, einen Wiedereintritt vorzunehmen. Sie lehnte dies ab, obwohl sie sich ihrer Darlegung zufolge durchaus kirchlich religiös gebunden verstehe. Jedoch wolle sie erst dann wieder eintreten, wenn angesichts der sexuellen Gewalt an Kindern in der Kirche "die Schuldigen bestraft" würden. Ein Geistlicher, mit dem sie auf Wunsch der Klinikleitung zu sprechen hatte, und die Mitarbeitervertretung hatten der Klinikleitung empfohlen, keine Kündigung auszusprechen. Trotzdem wurde sie entlassen, obwohl dieselbe Klinik andere Personen, unter ihnen Hebammen, ohne Kirchenzugehörigkeit eingestellt hatte und sie sie weiterhin bei sich tätig sein ließ.
Der Fall wurde vor dem ArbG Dortmund und dem LAG Hamm verhandelt.[2] Anders als das ArbG Dortmund gab das LAG Hamm dem kirchlichen Arbeitgeber, der Caritas, recht. Das LAG akzeptierte den Standpunkt des katholischen Kirchenrechts, ein Austritt aus der Kirche sei verwerflicher als eine Nichtzugehörigkeit ohne vorherigen Austritt. Dabei überging das LAG unter anderem, dass man der Hebamme die prinzipielle "Lossagung" von der Kirche, die die Klinikleitung ihr vorwarf, bei näherer Betrachtung so nicht zur Last legen kann, weil sie sich – wie oben wiedergegeben – der Kirche weiterhin verbunden fühlte. Dem LAG Hamm zufolge war die Hebamme weder ungleich noch willkürlich behandelt worden. Gegen Art. 3 Abs. 1 GG sei nicht verstoßen worden, weil sich die Kündigung "folgerichtig aus dem kirchlichen Recht und aus der Idee der Gemeinschaft der Dienste ableiten" lasse.
Hiermit hat das LAG Hamm Art. 3 Abs. 1 GG verzeichnet.[3] Ohnehin ist das Urteil stark angreifbar. Legt man die EuGH-Judikatur zum kirchlichen Arbeitsrecht aus dem Jahr 2018 zugrunde – für die Bundesrepublik Deutschland ist sie geltendes Recht –, darf eine kirchlich getragene Gesundheitseinrichtung von einer Hebamme die Kirchenmitgliedschaft überhaupt nicht einfordern. Denn laut EuGH dürfen Beschäftigten und Arbeitsplatzbewerbern kirchenseitig nur solche Auflagen gemacht werden, die angesichts der konkreten Tätigkeit "wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt" sind. Für die Berufsausübung einer Hebamme ist es indessen ohne Bedeutung, ob sie formal Kirchenmitglied ist. Dass die Hebammenarbeit nicht als "verkündigungsnah" einzustufen ist, lässt sich auch anhand von binnenkatholischen Dokumenten belegen.[4]
II.
Das BAG hat am 21.07.2022 den Finger auf einen ganz bestimmten Aspekt gelegt. Es ersuchte den EuGH um Klärung, ob es mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar ist, einer Hebamme wegen eines früheren Kirchenaustritts zu kündigen, obwohl anderen beschäftigten Personen, auch Hebammen, die Kirchenmitgliedschaft ebenfalls fehlt.
Der Sache nach ist zu erwarten, dass der EuGH auf der Spur seiner beiden Urteile zum kirchlichen Arbeitsrecht von 2018 bleibt, denen gemäß die Kirchen enge, restriktive Auflagen zur Kirchen-, Glaubens- und Moralbindung nur für Personen im kirchlich-religiösen Kernbereich (etwa Priester) oder in religiös tatsächlich relevanten Verantwortungs- oder Repräsentanzfunktionen vornehmen dürfen. Konkret hatte der EuGH es 2018 abgewiesen, eine Einstellung als Referentin von der Kirchenzugehörigkeit abhängig sein zu lassen (der evangelische Fall Egenberger) oder einen Chefarzt in einer katholisch getragenen Klinik der kirchlichen Morallehre, nämlich dem Verbot der Wiederverheiratung nach einer Ehescheidung, zu unterwerfen (Chefarztfall).[5] Folgerichtig wird der EuGH die jetzige Vorlagefrage des BAG voraussichtlich dahingehend beantworten, dass die engen binnenkirchenrechtlichen Normen auch beim Hebammenfall nicht greifen dürfen und dass ihre Kündigung unzulässig war.
III.
In der Sache sind die Binnennormen des katholischen Kirchenrechts zum Kirchenaustritt mehr als problembeladen. Hiermit wird sich der EuGH im Einzelnen aber gar nicht zu beschäftigen brauchen. Zu den Schieflagen gehören z.B. die Unstimmigkeit zwischen den Vatikanvorgaben zum Kirchenaustritt einerseits und den 2012 erlassenen partikularkirchlich deutschen Vorgaben andererseits oder der Widerspruch zwischen der Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils, in Glaubensdingen dürfe kein Zwang ausgeübt werden, einerseits und den Praktiken in deutschen katholisch getragenen Einrichtungen andererseits: Diese üben auf Beschäftigte starken Druck aus, in der Kirche zu bleiben oder in sie einzutreten. Solche Pressionen mögen innerkatholisch insoweit formal legal sein, als das katholische Kirchenrecht den Kirchenaustritt zur Straftat erklärt hat.[6] Ebenso wie es im Islam geschieht und aus triftigen Gründen nachdrücklich kritisiert wird, lehnt die katholische Kirche für ihren Bereich die negative Religionsfreiheit ab und duldet nicht, dass ihre Mitglieder von ihr abfallen; dogmatisch gilt ihr der Kirchenaustritt als Schisma, Apostasie, Häresie.[7] Aufgrund ihrer Verpflichtung auf die individuellen Grundrechte kann und darf die staatliche Judikatur solche binnenreligiösen Standpunkte für weltliche Tätigkeiten wie diejenige einer Hebamme aber nicht als rechtswirksam anerkennen.
Nun haben die beiden Kirchen das von ihnen gesetzte kirchliche Arbeitsrecht in den letzten Jahren aufgrund der öffentlichen Kritik immer wieder ein wenig öffnen müssen. Für das laufende Jahr 2022 plant die römisch-katholische Kirche die Zurücknahme einiger weiterer Restriktionen. Im Entwurf für eine Neuordnung des deutschen katholischen Arbeitsrechts vom 06.05.2022[8] wird auch das Nein zum Kirchenaustritt relativiert. Laut Art. 7 Abs. 4 soll in solchen Fällen nur noch "in der Regel" gekündigt werden; man könne "ausnahmsweise" hiervon absehen. Legt man diese jüngste kirchliche Positionierung zugrunde, müsste die entlassene Hebamme sogar innerkatholisch betrachtet billigerweise unter die Ausnahmeklausel fallen.
Doch wie gesagt: Die inneren Unstimmigkeiten des Kirchenrechts und die – sachlich völlig unzureichende – Lockerung des katholischen Arbeitsrechts, die sich 2022 anbahnt, werden den EuGH nicht zu interessieren brauchen. Der springende Punkt besteht darin, dass kirchlich Beschäftigte, die keine religiös tatsächlich relevanten Funktionen ausüben, vom EU–Diskriminierungsverbot bzw. vom Gleichbehandlungsgebot geschützt werden. Der EuGH wird im Hebammenfall vom Tenor seines Chefarzturteils und seines Urteils zum Fall Egenberger keine Abstriche machen können.
IV.
Die Vorlagefrage des BAG ist aktuell auch deshalb rechtspolitisch bedeutsam, weil die evangelische Kirche bzw. die evangelische Diakonie gegen das Urteil des EuGH zum Fall Egenberger im März 2019 in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde eingelegt hat. Im Schrifttum ist vielfach dargelegt worden, dass diese Verfassungsbeschwerde europarechtlich unhaltbar ist.[9] Inhaltlich richtete sich die evangelische Verfassungsbeschwerde insbesondere dagegen, dass der EuGH den kirchlich Beschäftigten das Recht zugesprochen hat, von der Rechtswegegarantie des Rechtsstaats Gebrauch machen zu dürfen. Der EuGH hatte klargestellt, dass kirchliche ArbeitnehmerInnen sich im Fall eines Konflikts mit der Kirche an unabhängige staatliche Gerichte wenden können, wobei die staatlichen Arbeitsgerichte den Vorgang in der Sache nachzuprüfen haben. Hiergegen wehrt sich die evangelische Diakonie auf das heftigste.
Einzelheiten und Einzelprobleme der Verfassungsbeschwerde der Diakonie sind an dieser Stelle nicht zu erörtern.[10] Bemerkenswert ist, dass das BVerfG sich inzwischen sogar selbst, in eigener Sache, auf das EuGH-Urteil zum Fall Egenberger berufen hat, und zwar speziell auf die Unhintergehbarkeit der Rechtswegegarantie. Dies erfolgte im EZB-Urteil des BVerfG.[11] Hinter seine eigene Bejahung der EuGH-Judikatur zum Fall Egenberger wird das BVerfG nicht zurückgehen können, wenn es die Verfassungsbeschwerde der Diakonie verhandeln wird.
Nach derzeitiger Information ist eine zügige Befassung des BVerfG mit dieser Verfassungsbeschwerde nicht zu erwarten. Das BVerfG hat jüngst geäußert, es sei "nicht absehbar, wann mit einer Entscheidung zu rechnen ist"[12]. Möglicherweise wird die Antwort des EuGH auf die Vorlagefrage des BAG zum Hebammenfall bereits vorliegen, wenn sich das BVerfG der evangelischen Verfassungsbeschwerde widmet. Daher wird die Entscheidung, die das BVerfG zu ihr trifft, auch aufzugreifen haben, was der EuGH zum Hebammenfall darlegen wird.
[1] BAG, Beschl. v. 21.07.2022, 2 AZR 130/21 (A), online www.bag-urteil.com/21-07-2022-2-azr-130-21-a/ (Abruf 26.09.2022).
[2] LAG Hamm, Urt. v. 24.09.2020, 18 Sa 210/20.
[3] Vgl. H. Kreß, Anmerkung zu LAG Hamm, Urt. v. 24.9.2020 – 18 Sa 210/20 (ArbG Dortmund), in: MedR 39 (2021), 746, 748.
[4] Vgl. H. Kreß, Anmerkung zu LAG Hamm, Urt. v. 24.9.2020 – 18 Sa 210/20 (ArbG Dortmund), in: MedR 39 (2021), 746, 747.
[5] Anknüpfend an die EuGH-Judikatur z.B. ArbG Karlsruhe, Urt. v. 18.09.2020, 1 Ca 171/19; hierzu H. Kreß, Entschädigungsanspruch nach AGG aufgrund Benachteiligung wegen Religion, online https://weltanschauungsrecht.de/meldung/arbeitsgericht-karlsruhe-entscha....
[6] Vgl. z.B. Codex Iuris Canonici 1983 can. 1364 § 1.
[7] Vgl. z.B. J. Listl, Kirchenaustritt, in: Lex. f. Theol. u. Kirche Bd. V, 3. Aufl. 1996, Sp. 1510.
[8] Grundordnung des kirchlichen Dienstes, online www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2022/2022-086a-G... (Abruf 26.09.2022).
[9] Statt vieler B. Pieroth/T. Barczak, Grenzen verfassungsgerichtlicher Überprüfung der Judikatur des EuGH am Beispiel des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, in: NJOZ 19 (2019), 1649.
[10] Vgl. H. Kreß, Gutachten zur Verfassungsbeschwerde der Diakonie ("Fall Egenberger"), online https://weltanschauungsrecht.de/sites/default/files/download/kress_gutac....
[11] Vgl. BVerfG, Urt. v. 05.05.2020, 2 BvR 859/15 u.a., Rdnr. 145.
[12] Zit. nach T. Podolski, Austritt als Kündigungsgrund. Was darf Kirche?, 02.08.2022, online https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bag-2-azr-130-21-eugh-vorlage-h... (Abruf 26.09.2022).