Kopftuchdebatte, Neutralitätsgebot, Glaubensfreiheit und kein Ende

Rezension von Gerhard Czermak

Die Frage der Zulässigkeit des dienstlichen Tragens islamischer Kopftücher durch Lehrerinnen an öffentlichen Schulen mag manchem schon zum Hals heraushängen, stehen diese und ähnliche Fragen doch mindestens seit etwa 2000 immer wieder im Zentrum öffentlicher und juristischer Debatten. Die kontroversen Erregungen waren besonders nach der einschlägigen Entscheidung des 2. Senats des BVerfG von 2003 und der fast entgegengesetzten des 1. Senats von 2015 groß, manchmal sogar fanatisch. Die juristische und nichtjuristische Spezialliteratur ist nur schwer überschaubar. Das bisherige Berliner Neutralitätsgesetz betreffend Lehrer und allgemein Beamte ist nach einem rechtskräftigen Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 2020 schwer angeschlagen und soll mit dem neuen CDU/SPD-Senat stark modifiziert werden. Eine neutralitätsfreundlichere Position hat demgegenüber der Europäische Gerichtshof für das private Recht vertreten. Ungelöste Probleme hat das 2021 verabschiedete Bundesgesetz zur Regelung des Erscheinungsbilds von Beamtinnen und Beamten erneut aufgeworfen.

In dieser Situation ist eine zusammenfassende Untersuchung von Nutzen, geht es doch um die Kollision von Neutralität und Glaubensfreiheit und ihre gegenseitige Gewichtung. Das stößt in den Kern der Neutralitätsdiskussion und damit des Religionsverfassungsrechts. Die Untersuchung Wolfgang Heckers befasst sich gleichermaßen mit juristischen wie nichtjuristischen Fragen.

In der Zusammenfassung von Studien zur Bedeutung des islamischen Kopftuchs aus Sicht der Trägerinnen (S. 28-45) kommt Hecker zu folgendem Ergebnis: es komme nicht nur auf einen objektiven Erklärungsgehalt an, sondern auf den Verwendungszusammenhang und die Motive. Die Spannung zwischen Tradition und Moderne sei zu berücksichtigen. Die Entscheidung für das Kopftuch sei in hohem Maß selbstbestimmt, so dass pauschale Annahmen von Druck und Zwang nicht zuträfen. Religiöse Motive seien überwiegend maßgeblich. Fundamentalistisch-extreme Motive eines politischen Islam seien nicht als relevant nachweisbar. Die häufig vertretene These vom Kopftuch als Symbol des politischen Islam und der Frauenunterdrückung habe sich in der Rechtsprechung nicht durchgesetzt, werde aber in der verfassungsrechtlichen Literatur teilweise zu Unrecht immer noch vertreten. Auch eine Lehrerin mit Kopftuch könne im Regelfall die Gleichberechtigung im Sinn von Art. 3 II GG vermitteln.

Ein über 60 Seiten langer Abschnitt (S. 92-155) befasst sich mit dem Kopftuch einschließlich der Justizproblematik anhand überkommener Muster staatlicher Neutralität. Zur Rechtsposition von Amtsträgern schreibt Hecker, sie dürften religiöse und parteipolitische Aktivitäten nach heutigem Grundrechtsverständnis auch offen erkennen lassen, wenn nur die "Pflicht zur neutralen und zurückhaltenden Amtsführung" [?] beachtet werde. Das sei auch lange Zeit kein relevantes Problem gewesen, bis es die ersten kopftuchtragenden Lehrerinnen gegeben habe. Heute seien Amtsträger auch während des Dienstes hinsichtlich ihrer persönlichen Rechtsstellung anerkanntermaßen Grundrechtsträger, nicht freilich bezüglich der Amtsausübung selbst. Daher stelle sich die Frage nach der optischen Sichtbarkeit als entscheidendes Bewertungskriterium (S. 93 ff). Dabei wäre freilich, anders als bei Hecker, zu beachten, dass das Beamtenstatusgesetz zwischen unparteiischer Amtsführung (dienstlich) und (lediglich) politischer Mäßigung (außerdienstlich) unterscheidet. Es kann daher nur auf die Unparteilichkeit des dienstlichen Kopftuchtragens ankommen. Im Rahmen der kritischen Erörterung des Urteils des BVerfG von 2003 mit seiner nach Hecker zu großzügig gewährten Wahlfreiheit des Gesetzgebers werden auch die meisten danach ergangenen Landesgesetze zu Recht kritisiert ("äußerst fragwürdig"). Dem Berliner Neutralitätsgesetz attestiert er, dass es mit seinem generellen Verbot religiös konnotierter Kleidung "eine ausgeprägt laizistische Ausrichtung" aufweise (S. 104). Eine solche wirft Hecker auch dem Verfasser dieser Besprechung mit Nachdruckvor (S. 131 ff), obwohl dieser noch nie die Ansicht vertreten hat, Kopftücher dürften von Verfassungs wegen unter keinen Voraussetzungen von Lehrerinnen getragen werden. Ein konsequentes, eng an den Verfassungswortlaut und die Verfassungsstruktur angelehntes Verständnis von Neutralität (im Rahmen deren Anwendungsbereichs) sollte nicht mit dem in Deutschland gern als Kampfwort verwendeten Laizismusvorwurf bedacht werden. Ansonsten ist die Darstellung verschiedener Neutralitätsverständnisse im Zusammenhang mit dem Kopftuch recht informativ.

Zustimmend erörtert Hecker die Entscheidung des BVerfG von 2015. Wichtig sei die Abwägung zwischen Religionsfreiheit, Neutralitätsgebot und Rechten Dritter, wobei der Sichtweise der Trägerin wegen der Bedeutung der Religionsfreiheit "in hohem Maße Rechnung getragen werden" müsse. Die erneute Entscheidung habe "die liberal-rechtsstaatliche Normalität wieder hergestellt", die wegen der 2003 zugelassenen "fast grenzenlosen Wahlfreiheit des Gesetzgebers" unterzugehen gedroht habe (S. 105). Die Arbeit befasst sich auch mit Körperschmuck und Integrierung des Kopftuchs in Dienstkleidung, etwa bei der Polizei. Ein Kapitel ist dem Bundesgesetz von 2021 zur Regelung des Erscheinungsbilds von Beamtinnen und Beamten mit seiner Änderung des Beamtenstatusgesetzes gewidmet, ein weiteres speziell dem Kopftuch in der öffentlichen Verwaltung.

Mit gut 20 Seiten ist die Diskussion des Berliner Neutralitätsgesetzes ein spezieller Schwerpunkt der Monographie. Heftig umstritten ist immer noch § 2 des Neutralitätsgesetzes von 2005. Demnach dürfen Lehrer und andere pädagogische Landesbeschäftigte in den öffentlichen Schulen generell keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulich geprägten Symbole oder auffallende Kleidungsstücke tragen. Eine etwas problematische bzw. ungereimte Ausnahmeregelung besteht für Berufsschulen und Einrichtungen des zweiten Bildungswegs. Hecker billigt S. 160 ff. die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts von 2020 betreffend eine Entschädigungszahlung an eine abgelehnte kopftuchtragende Lehramtsbewerberin. Das BAG ging von einer Bindung des Gesetzgebers an das Urteil des BVerfG von 2015 aus mit der Folge, das Land hätte das Neutralitätsgesetz durch entsprechende Auslegung an das Urteil anpassen müssen. BAG wie Hecker vertreten apodiktisch die Meinung, das Urteil von 2003 sei bedeutungslos, weil tragender Entscheidungsgrund nur die Erforderlichkeit eines Gesetzes zur Kopftuchfrage gewesen sei. Das ist aber, hätte hinzugefügt werden müssen, recht streitig. Es stehen sich die Ansicht gegenüber, dass das religiöse Kopftuch grundsätzlich zu tolerieren sei (2015) und die, der Gesetzgeber dürfe zum Schutz von Verfassungsgütern abstrakt-vorbeugend ggf. auch ein generelles Kopftuchverbot aussprechen. Folgt man dem 1. Senat, wonach jedes Verbot wegen nur abstrakter Gefährdung unzulässig sei, beraubt man das Urteil des Zweiten Senats seines Zentrums. Dazu hätte auf das große Gutachten von Wolfgang Bock (2019) verwiesen werden können. Dieses begründet die Zulässigkeit, ja Erforderlichkeit eines Kopftuchverbots in Berlin wegen abstrakter Gefährdung zudem gründlich mit Strukturen der islamischen Religionskultur unter spezieller Berücksichtigung der Berliner Schulverhältnisse.

Besteht also aus Sicht des Rezensenten ein Defizit in der Frage der Bindungswirkung hinsichtlich der stark divergierenden Ansichten beider Senate des BVerfG, so enthält die Arbeit andererseits auch unnötige (wenngleich interessante) Ausführungen wie die zum Patriarchalismus der frühen Bundesrepublik (S. 80-85). Manche Kapitel wie die zu den Verhältnissen in Frankreich (S. 203-234) und Österreich (S. 266-271) erscheinen als Exkurse. Ein durchgehender roter juristischer Faden lässt sich dem Buch nicht entnehmen. Warum Hecker so großen Wert auf das Übergewicht der Religionsfreiheit über das Neutralitätsgebot legt, ist dem Rezensenten nicht klar geworden, zumal die Sichtweise der Schüler und Eltern kaum berücksichtigt wurde.

Ungeachtet dessen gibt das interessante Buch eine Fülle an Informationen und Denkanregungen und es ist auch wegen seiner Literaturhinweise wertvoll. Wer sich intensiver mit Fragen religiöser Kleidung im öffentlichen Dienst, insbesondere in der Schule, beschäftigt, wird mit Gewinn zu Heckers Buch greifen. Es lässt sich aber unschwer vorhersehen, dass uns diese vielfältigen Probleme gesellschaftlich und juristisch noch lange beschäftigen werden.

Wolfgang Hecker, Die Kopftuchdebatte. Verfassungsrecht und Sozialwissenschaften. Baden-Baden 2022 (Nomos), 299 S. ISBN 978 3 8487 8378 6, € 84.-