Untergang der Kirchensteuerpflichtigkeit mit dem Untergang der DDR? Der Fall Frau X gegen die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg

Sachverhalt

Frau X ist im Jahr 1953 in der Stadt X geboren und aufgewachsen. Ihre Eltern tauften sie kurz nach Ihrer Geburt in der Evangelischen Kirchengemeinde in X. Knapp drei Jahre später trat zunächst der Vater und dann auch die Mutter offiziell aus der Kirche aus. Ihre Eltern sind bereits verstorben. Von ihrer Geburt im Jahr 1953 bis zum Jahr 2012 – und damit knapp 60 Jahre lang – hatte sie in ihrer gesamten Lebensführung keinerlei Kenntnis von einer Mitgliedschaft in einer Kirche und keinerlei Beziehungen zur Kirche. Insbesondere hat sie nicht an den kirchlichen Riten teilgenommen. Sie hat das Jugendweihe-Gelöbnis abgelegt, standesamtlich geheiratet und ihre Kinder haben nicht das Sakrament der Taufe erhalten. Auch ausweislich Ihrer Steuererklärung galt sie offiziell bis zum Jahr 2011 als konfessionslos. Aus ihr unerfindlichen Gründen übersandte die Kirchensteuerstelle beim Finanzamt Prenzlauer Berg ihr plötzlich im Jahr 2011 einen Fragebogen zur Feststellung der Zugehörigkeit zu einer öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft. Dabei berief sich die Kirchensteuerstelle auf die §§ 88, 90 AO, wonach die "Finanzbehörde" den Sachverhalt von Amts wegen ermittelt. Aufgrund dieser Formulierung und aufgrund der Tatsache, dass die Kirchensteuerstelle unter derselben Adresse firmiert wie das Finanzamt, ging Frau X davon aus, dass es sich um ein staatliches Auskunftsersuchen, das erzwingbar ist, handele und beantwortete dieses. Sie gab dabei an, nicht getauft worden zu sein, da sie sich an eine Taufe nicht erinnern konnte. Daraufhin wandte sich die Kirchensteuerstelle Berlin an die Evangelische Kirche in X und bat um Prüfung der Kirchenmitgliedschaft und ggf. um Übersendung einer Taufbescheinigung. Diese übersandte eine Taufbescheinigung und einen Auszug aus dem Taufregister, worin die Austritte der Eltern vermerkt waren, jedoch kein Austritt des Kindes, woraufhin Frau X für die Jahre 2012 und 2013 Kirchenlohnsteuer abgezogen wurde. 2014 ist Frau X vorsorglich aus der Kirche ausgetreten.

Verfahrensstand

Im August 2015 hat Frau X Klage gegen den Bescheid des Finanzamtes über evangelische Kirchensteuer für den Veranlagungszeitraum 2012 und 2013 beim Verwaltungsgericht Berlin eingereicht.

Das Verfahren wird von ifw/gbs unterstützt. Die Prozessvertretung erfolgte bis 2017 durch Rechtsanwältin Jacqueline Neumann und seitdem durch Rechtsanwalt Eberhard Reinecke.

Im März 2019 wurde eine Verzögerungsrüge gem. § 198 GVG erhoben.

Am 12.12.2019 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Die Bescheide seien rechtmäßig und verletzten die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie sei in den betreffenden Veranlagungszeiträumen, den Jahren 2012 und 2013, Mitglied der Beklagten gewesen. Sie sei durch ihre Taufe im Juni 1953 Mitglied der Evangelischen Kirche geworden. Es lasse sich nicht feststellen, dass die Klägerin vor dem Jahr 2014 aus dieser Kirche ausgetreten sei. Insbesondere ergebe sich ihr Kirchenaustritt nicht aus den Austrittserklärungen ihrer Eltern. Die Heranziehung der Klägerin zur Zahlung von Kirchensteuer verstoße auch nicht gegen Art. 29 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung von Berlin; vor allem sei das Freiwilligkeitsprinzip nicht verletzt. Die Klägerin hätte mit ihrer Kirchenmitgliedschaft rechnen müssen und daher austreten können, dies aber nicht getan. Die für die Erhebung der Kirchensteuer erlangten Informationen seien auch nicht, insbesondere nicht aus datenschutzrechtlichen Gründen, unverwertbar. Infolgedessen stehe der Klägerin auch kein Anspruch auf Erstattung der als Kirchensteuer einbehaltenen Beträge zu (Pressemitteilung Nr. 40/2019). Gegen das Urteil kann Antrag auf Zulassung der Berufung zum Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg gestellt werden.

Nach der Auswertung der Urteilsbegründung ist das ifw zu dem Ergebnis gelangt, dass diese grob fehlerhaft ist. Am 02. März 2020 hat Rechtsanwalt Reinecke für die Klägerin deshalb die Zulassung der Berufung beantragt. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wurde am 02. Juli 2020 abgelehnt. Die dagegen eingereichte Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht am 08. Juni 2022 nicht zur Entscheidung angenommen. Zuvor hatte  die Kirche "aus kirchlichen Erwägungen" ein Erlassangebot unterbreitet.

Rechtliche Problematik

Ziel dieses Verfahrens ist es insbesondere, das Vorgehen der Kirche als Verstoß gegen die nationalen und europäischen Datenschutzgesetze zu qualifizieren und die in Berlin gängige Praxis der Ansiedlung der Kirchensteuerstellen in den Finanzämtern als verfassungswidrigen Verstoß gegen das Trennungsgebot zu beenden. Überdies geht es um die Frage, ob die Übersendung des Fragebogens in der praktizierten Form als Amtsanmaßung strafrechtlich relevant ist. Die Fahndung nach potentiellen Kirchenmitgliedern durch die Übersendung des Fragebogens lässt sich als "Rasterfahndung" qualifizieren. Gesucht wird nach Personen, die zwei Merkmale aufweisen: Erstens müssen sie (in der DDR) als Säugling bzw. Kleinkind getauft worden sein und zweitens soll auf diese Personen das Merkmal der Nichtzahlung von Kirchensteuern zutreffen (Groschopp, Rasterfahndung nach Kirchensteuerflüchtigen, 2006).

Darüber hinaus werden in dem Verfahren erstmalig die Frage des Untergangs der behaupteten Kirchensteuerpflichtigkeit mit dem Untergang der DDR sowie die Frage, ob der Körperschaftsstatus der beiden großen Religionsgemeinschaften nach 1990 neu begründet werden musste, problematisiert.