Zusammenfassung des Aufsatzes von Rolf Schwanitz: Freilegungen – Zur Geschichte der Ablösung besonderer Staatsleistungen an die Kirchen und Schlussfolgerungen für ein Grundsätzegesetz

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Foto: Evelin Frerk

Unser ifw-Beirat und Staatsminister a.D. Rolf Schwanitz hat in einem kompakten Beitrag, der seinesgleichen sucht, rhetorisch brillant die Geschichte der Ablösung der besonderen Staatsleistungen an die Kirchen freigelegt. Nach einem packenden Intro bringt er die Absurdität des seit nunmehr über 100 Jahren ignorierten Verfassungsauftrag auf den Punkt und fragt: "Wie konnte ein und derselbe Verfassungsartikel – der Ablösungsauftrag der Staatsleistungen an die Kirchen nach Art. 138 Abs. 1 WRV – im Jahr 1919 Bezugs- und Ankerpunkt für die Kirchen sein und dann neun Jahrzehnte später die gleiche Funktion für die Säkularen in der Bundesrepublik haben?"

Die Ablösungsklausel war seinerzeit hart umkämpft, die Kirchen versuchten, sich so viele Geldzuwendungen wie möglich zu sichern. Über die Jahrzehnte hinweg gewöhnten sich die Kirchen aber derart an die "ewige Rente", dass es ihnen nicht eilte, eine Ablösung tatsächlich zu vollziehen.  Auch im politischen Betrieb schien der glasklare Verfassungsauftrag längst vergessen: "Es ist Montag, der 18. April 2011 – der Jurist Johann-Albrecht Haupt legt im Auftrag der Humanistischen Union einen Entwurf über die Grundsätze zur Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen vor. Es ist der bis dahin erste und einzige Entwurf zur Umsetzung des Ablösungsauftrages nach Artikel 138 WRV seit 1949. Politik und Kirchen reagieren darauf verschnupft bis ablehnend. Vom noch immer gültigen und unerfüllten verfassungsrechtlichen Ablösungsauftrag will man nun nichts mehr wissen. In der SPD-Bundestagsfraktion biegt man sich hier sogar das Grundgesetz zurecht – der innenpolitische Sprecher hält den Ablösungsauftrag nur noch für eine Frage der politischen Opportunität."

Das klang am 17. Juli 1919 noch deutlich anders: "Der sozialdemokratische Abgeordnete und Jurist Dr. Max Quarck konstatierte dort mit viel Bitterkeit das Steckenbleiben einer "reinlichen Trennungsarbeit" zwischen Staat und Kirchen. Er brachte die schwierige Kompromissfindung aus Sicht der SPD dann folgendermaßen auf den Punkt: "Also keinerlei staatliche Glaubensherrschaft mehr, sondern Glaubensgemeinschaften, innerliche Glaubensgemeinschaft! Und wenn keine Glaubensherrschaft mehr, keine Gewaltherrschaft mehr, so auch keine Herrschaftsmittel mehr! Der Staat will nichts mehr von den Machtmitteln der Kirche borgen, er hat vollkommen verzichtet auf irgendeine Degradierung der Kirche zu seinem Gehilfen. Die Kirche soll aber auch nichts vom Staate mehr borgen, sie sollen beide friedlich-schiedlich nebeneinander den Weg der Kulturförderung zu gehen versuchen.

Wir haben uns aber in der Annahme schmerzlich getäuscht, dass dieser Standpunkt Verständnis finden würde; denn im Ausschuß ist es das Bestreben der bürgerlichen Parteien gewesen, eine ganze Reihe staatlicher Machtmittel der Kirche weiter zu erhalten. Indem ich diese Tatsache konstatiere, bedaure ich sie aufs tiefste im Namen des Sozialismus."

"Der Verfassungsgeber erwartete damals eine ebenso zügige wie vollständige Verwirklichung dieses Ablösungsauftrages", betont Schwanitz. Dazu gekommen ist es, wie wir wissen, indes nicht. Durch die jahrzehntelange Verschleppung des Verfassungsauftrags hat sich das Verständnis dessen, was dem Verfassungsgeber einst vor Augen stand ins Absurde verkehrt: "Die Kirchen fordern im Gegenzug für den Verzicht eine Übertragung von Staatsvermögen in äquivalenter Höhe, quasi eine Rendite mit Ewigkeitsgarantie. Das ist das genaue Gegenteil dessen, was den Kerngehalt des Ablösungsauftrages ausmacht."

Sodann stellt Schwanitz zwei sehr beachtenswerte Gesetzesentwürfe zur Ablösung noch aus der Zeit der Weimarer Republik vor, die ebenfalls ein klares Zeugnis über den Sinn und Zweck der Regelung ablegen: "Zwei zentrale Dinge vermittelt die Entstehungsgeschichte des Artikels 138 WRV über den Willen der Mütter und Väter der noch heute gültigen Verfassungsnorm. Diese Erkenntnisse sind nach wie vor von Bedeutung:

Zum einen ist die Abschaffung der exklusiv die Kirchen begünstigenden Finanzprivilegien ein wesentlicher und untrennbarer Teil der Beendigung der Staatskircheneigenschaft. Der Schnitt bei den finanziellen Privilegien der Kirchen ist deshalb verfassungsrechtlich nicht zuletzt auch im Staatskirchenverbot sowie im allgemeinen Trennungsgrundsatz von Staat und Weltanschauungsgemeinschaften begründet. Zum anderen müssen wir uns bewusst machen, dass es – damals wie heute – um eine ganzheitliche Abschaffung geht. Es besteht ein Beendigungsauftrag, der sich auf alle vom Staat gewährten kirchlichen Finanzprivilegien bezieht. Der Umstand, dass der erste Absatz des Artikels 138 WRV für eine Teilgruppe der Staatsleistungen – jenen, welche 1919 auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhten – eine komfortablere Beendigungsform vorsieht, darf nicht dazu führen, die Gesamtdimension des Beendigungsauftrages zu übersehen. Er bezieht sich faktisch auf drei die Kirchen privilegierenden Staatsleistungsgruppen. Es geht um die 1919 auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen, des Weiteren um die sonstigen bereits 1919 bestehenden Staatsleistungen und außerdem um jene Staatsleistungen, die erst danach den Kirchen exklusiv gewährt worden sind. Sie alle sind vom verfassungsrechtlichen Beendigungsauftrag erfasst. Eine Verkürzung auf die Staatsleistungsgruppe nach Art. 138 Abs. 1 WRV ist unzulässig."

Schwanitz streift sodann auch kurz die unrühmliche Rolle der deutschen Bischöfe in der NS-Diktatur und stellt die Aufnahme der Kirchenartikel ins Grundgesetz dar. Nach 1949 geschah sechs Jahrzehnte lang nichts, was Schwanitz zu Recht als "kritikwürdige politische Missachtungskultur gegenüber dem grundgesetzlichen Ablösungsauftrag" ansieht.

Derzeit verhandeln Bund, Länder und Kirchen, allerdings ohne die Beteiligung säkularer Vertreter:innen, was Schwanitz zu recht kritisiert: "In der Vergangenheit wurden Gespräche zwischen dem Staat (meist den Ländern) und den Kirchen allzu oft komplett unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Selbst Landesparlamenten wurden regelmäßig nur bereits endverhandelte Staatsverträge zur Bestätigung vorgelegt, ohne dass eine vorgelagerte Mitgestaltungsmöglichkeit eröffnet worden war. Ein solches Vorgehen wäre bei der Entstehung eines Grundsätzegesetzes zur Ablösung der Staatsleistungen kontraproduktiv und nicht akzeptabel. Der Steuerzahler, der mehrheitlich nicht mehr aus Kirchenmitgliedern besteht, muss sich darauf verlassen können, dass auch seine Interessen gewahrt bleiben und die Grundsätze nicht einseitig nach den finanziellen Wünschen der Kirchen gestaltet werden. Aus diesem Grund ist die frühzeitige Information der Öffentlichkeit, der öffentliche Diskurs, sowie die Einbeziehung säkularer Teile der Gesellschaft mehr als geboten. Nur so kann ein allseitiger Interessenausgleich gelingen und Rechtsfrieden entstehen nach Jahrzehnten der Missachtung des verfassungsrechtlichen Ablösungsauftrages."

Er betont sodann, dass eine Einvernehmlichkeit zwischen dem Staat und den Kirchen zwar begrüßenswert wäre, dass es aber keineswegs so ist, dass den Kirchen ein Letztentscheidungsrecht zukommt. Sprich: Am Ende entscheidet der Gesetzgeber.

Hiernach arbeitet Schwanitz bestechend präzise Kriterien und Grundsätze (Grundsatz der Vollständigkeit, der Endgültigkeit und der Verhältnismäßigkeit) für die Ablösung heraus, die er sodann nachvollziehbar erläutert.

Im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hält der Autor überzeugend fest:

"Die von Anfang an verfassungsrechtlich zu beendenden Staatsleistungen wurden an die Kirchen mehr als einhundert Jahre weitergezahlt, dynamisiert und ausgeweitet. Es ist deshalb weder vermittelbar noch gerechtfertigt, diesem milliardenschweren einhundertjährigen Geldregen weitere Entschädigungszahlungen folgen zu lassen. Alle vorstellbaren Ausgleichsansprüche sind dadurch bereits abgegolten. Alles andere wäre einfach unverhältnismäßig. Deshalb sollte bei der Bemessung der Ausgleichszahlungen die Anrechnung der Staatsleistungen seit 1919 zwingend in das Grundsätzegesetz aufgenommen werden. Die fiskalischen Belastungen der öffentlichen Hände dürften in diesem Bereich deshalb nahezu bei null liegen.

[…]

Seit 1949 wurden trotz der bestehenden verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Ablösung in dieser Form insgesamt mehr als 19 Milliarden Euro als besondere Staatsleistungen an die Kirchen gezahlt. Die bereits 1919 ablösungspflichtigen Staatsleistungen sind deshalb in 104 Jahren mehr als überkompensiert. Der nun anstehende, komplizierte Nachweis- und Ablösungsprozess könnte wesentlich vereinfacht werden. Den Schlüssel für diese Vereinfachung besitzen die Kirchen selbst. Sie könnten wegen der langen Fortzahlung der Staatsleistungen einen ersatzlosen Verzicht auf die Beträge erklären. Ein wirtschaftlicher Einbruch wäre bei den Kirchen deshalb – schaut man allein auf das Volumen der Kirchensteuereinnahmen und auf den enormen Grundbesitz – nicht zu befürchten. Ein solcher Schritt würde Rechtsfrieden schaffen und außerdem das Ansehen der Kirchen bis weit in die säkularen Teile der Gesellschaft hinein befördern."

Abschließend gibt Schwanitz die ernüchternde Antwort auf seine eingangs aufgeworfene Frage:

"Die Antwort ist eigentlich ganz einfach. Dazwischen liegen über 100 Jahre ziemlich erfolgreicher politischer Lobbyarbeit durch die Kirchen. Für sie hat sich ein privilegiertes Netzwerk in Politik und Verwaltung entwickelt, das lange Zeit als etwas Selbstverständliches galt. So wuchsen nicht zuletzt auch die finanziellen Privilegien, die der Staat den Kirchen gewährte, in früher ungeahnter Größen an. Die immer weiterlaufende und sich beschleunigende Säkularisierung der Bevölkerung spielte dabei ebenso wenig eine Rolle, wie der für die Staatsleistungen fortbestehende Beendigungsauftrag"

Dem Autor ist es mit diesem Aufsatz gelungen, das Thema Staatsleistungen und dem darin liegenden regelrechten Skandal um die Ignoranz eines Verfassungsauftrags, auch für jene, die sich nicht seit Jahren damit befassen verständlich zu machen. Es bleibt zu hoffe, dass seine scharfsinnigen Beobachtungen und Gedanken bei der Verhandlung über die Ablösung Berücksichtigung finden. Alles andere wäre ein erschütternder Hinweis auf die immer noch wirkmächtigen politischen Verflechtungen der Kirchen und zugleich ein Wiederaufleben der von Schwanitz zu Recht gescholtenen Missachtungskultur.

Den Aufsatz können Sie auch als pdf herunterladen.