Protestantismus

I. Begriff und Anfänge

1. Der Begriff Prgggotestantismus kennt keine dem Parallelbegriff Katholizismus vergleichbare speziell politisch-gesellschaftliche Bedeutung, sondern ist ein allgemeiner Sammelbegriff für alle im Zuge der Reformation seit Martin Luther entstandenen Kirchen und eine Vielzahl an religiösen Bewegungen, die sich als Erben der Reformation verstehen. Die Bezeichnungen protestantisch und evangelisch sind auswechselbar. Als evangelikal bezeichnet man demgegenüber Vertreter einer streng konservativen Richtung innerhalb des Protegggstantismus, die das Evangelium als von Gott unmittelbar und weitgehend wortwörtlich gegebene Handlungsanweisung zur Lebensgestaltung verstehen.

2. Begrifflicher Ausgangspunkt ist die Speyerer Protestation der evangelischen Reichsstände (d. h. der Fürsten und Reichsstädte) auf dem 2. Reichstag zu Speyer 1529. Sie protestierten gegen die zugunsten der Katholiken beschlossene Anwendung des Mehrheitsprinzips in Glaubenssachen und beriefen sich dabei auf die Glaubensfreiheit (die aber dem Einzelnen selbst nach dem 30-jährigen Krieg im Westfälischen Frieden von 1648 keineswegs zugestanden wurde). Typisch für den Protesgggtantismus sind seine zahlreichen konfessionellen Aufspaltungen. Historischer Ausgangspunkt ist die außerordentlich massive Kritik Martin Luthers an den zahlreichen Missständen und Entartungen der spätmittelalterlichen Kirche. Die sich daraus ergebende Kirchenspaltung war eine (unbeabsichtigte) Voraussetzung für die Jahrhunderte dauernde, oft sehr blutige, Entwicklung bis zur persönlichen Religionsfreiheit.

II. Traditionelle Merkmale

Als gemeinsame traditionelle Kennzeichen des Protestagggntismus gelten eine besondere Betonung der (ursprünglich ziemlich wörtlich verstandenen) Hl. Schrift (Altes und Neues Testament), die entscheidende Bedeutung des richtigen Glaubens (Rechtfertigungslehre) und des Angewiesenseins auf die göttliche Gnade zur Erlangung des ewigen Heils sowie der besondere Bezug zur göttlichen Person Jesus Christus. Gemeinsam ist den protestantischen Bewegungen auch die Ablehnung des Papsttums. Sie kennen kein verbindliches Lehramt, sondern betonen das allgemeine Priestertum aller Gläubigen. Sie haben daher kein sakramentales Amtsverständnis und stellen die unmittelbare Verantwortung der Gläubigen vor Gott und dem je eigenen Gewissen in den Vordergrund. Den priesterlichen Zölibat lehnen sie ab, das Mönchtum ist eine seltene Ausnahme. Statt der Gehorsam fordernden Autorität der kirchlichen Amtshierarchie (so in der katholischen Kirche) wird, anders als in der Anfangszeit der lutherischen Rebellion, strikter Gehorsam gegenüber der weltlichen Obrigkeit gefordert, da alle Macht von Gott stamme. Meistens sind in den evangelischen Kirchen und Gemeinschaften seit einiger Zeit auch Frauen zu Leitungsfunktionen zugelassen. Die protestantische Liturgie ist bei weitem nicht so sinnenfreundlich wie die katholische und teilweise recht karg (Wortgottesdienst; keine bzw. nur geringe Bedeutung von Sakramenten).

III. Vielfalt des Protesgggtantismus

Schon bald entwickelte sich im 16. Jh. neben dem Luthertum der reformierte Protestantgggismus des Ulrich Zwingli und der besonders wirkmächtige des Johannes Calvin mit seiner Prädestinationslehre (göttliche Vorherbestimmung des menschlichen Schicksals), wobei die Erwählung zur ewigen Seligkeit in äußerem Lebenserfolg zum Ausdruck kommt. Manche Richtungen des frühen Protestagggntismus, insbesondere die auch dem Luthertum verhasste Täuferbewegung, wurden brutal verfolgt. Welche unglaubliche Fülle an reformatorischen Bewegungen mit abenteuerlich anmutenden unterschiedlichsten theologischen Theorien und unterschiedlicher Frömmigkeitspraxis der Protestgggantismus schon zur Reformationszeit aufwies, wird in dem schon klassischen theologiehistorischen Sammelwerk von Andresen/Ritter dargelegt. Später entstand auch eine Reihe größerer Glaubensgemeinschaften, die dem Protesgggtantismus zugerechnet werden: z. B. im 17. Jh. die Baptisten (in Deutschland seit 1834), die Methodisten (18. Jh.), die Siebenten-Tags-Adventisten (19. Jh.). In Deutschland zählen sie zur Gruppe der evangelischen Freikirchen. Weltweit haben sich evangelische Konfessionsfamilien herausgebildet: Der Lutherische Weltbund, der Reformierte Weltbund, der Baptistische Weltbund, der Weltrat Methodistischer Kirchen, die Mennonitische Weltkonferenz u. a. Die Anglikanische Kirche wird i. d. R. nicht zum Protestantgggismus gerechnet, da sie trotz Ablehnung des Papsttums Ähnlichkeiten mit der kath. Kirche aufweist, freilich neuerdings die Frauenordination zulässt.

IV. Aktuelle deutsche Situation

1. Die zahlreichen christlichen Glaubensgemeinschaften außerhalb der 23 evangelischen Landeskirchen der EKD, der Katholischen Kirche und der Orthodoxie haben bevölkerungsmäßig nur eine sehr geringe Bedeutung. Die Evangelischen Freikirchen machten 2011 nur 0,9% der Bevölkerung aus (s. religiöse Minderheiten).

2. Die gesellschaftliche Verweltlichung ist innerhalb der EKD verbunden mit starken inhaltlichen Auflösungserscheinungen. Rudolf Bultmann, Vertreter der kritischen Bibelwissenschaft, entwickelte seit 1941 eine "Entmythologisierung" der Bibel, wonach etwa der Glaube an Wunder, die leibliche Auferstehung Jesu und vieles andere unglaubwürdig geworden ist. Das Neue Testament als Ausdruck eines mythischen Weltbildes sei überholt. Dieser zeitbedingte erzählerische Verstehensrahmen sei neu zu interpretieren, um den Kern der Botschaft zum Ausdruck zu bringen. Die Bibel wird demontiert, um dann wieder neu geglaubt zu werden. Heute gilt Bultmann als einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jh. Wie schwierig es ist, über inhaltliche Fragen des Protestantigggsmus zu sprechen, zeigt die Bemerkung des Theologen und Kirchenhistorikers Gerhard Besier, an den deutschen evangelischen Fakultäten herrsche "theologische Konfusion".[1] Zwischen den großkirchlichen Theologen seien die Lehrunterschiede oft größer als die etwa zwischen einer EKD-Kirche und dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden. Die evangelische Universitätstheologie sei geprägt durch "Unsicherheit und Zerrüttung des Faches".[2]

V. Gegenbewegung

All das hat eine Gegenströmung zur Folge. Zunehmende Bedeutung gewinnen daher außerhalb, vor allem aber innerhalb der evangelischen Landeskirchen die sog. bibeltreuen Christen und die lautstarken Gegner der (naturwissenschaftlich nicht sinnvoll bestreitbaren) Evolutionslehre, nämlich die Kreationisten und (gemäßigter) die Anhänger des sog. InteIntelligent Designlligent Design. Diese z. T. sehr konservativen Richtungen waren 2005 in der evangelischen Bevölkerung (44%) schon fast so stark wie in der katholischen (49%).[3]

Der evangelische Kirchenhistoriker Gerhard Besier hat 1997 die Ansicht vertreten, die EKD als Volkskirche und "religiöser Großkonzern" solle sich zugunsten von Bekenntniskirchen als Freiwilligkeitskirchen auflösen.[4] Es bestehen aber keine Anzeichen dafür, dass sich die evangelischen Landeskirchen dieser Ansicht anschließen könnten.

>> Evolutionslehre; Katholizismus; Statistik; Kirchenorganisation; Kirchenrecht; religiöse Minderheiten; Geschichte der Religionsfreiheit; Säkularisierung.

Literatur:

  • Andresen, C./Ritter, A. M. (Hg.): Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, 3 Bde, Göttingen 1998-1999 (Erstausg. 1980-1984), hier: Bd. 2; 1998 (UTB).
  • Besier, Gerhard: konzern kirche. Das Evangelium und die Macht des Geldes. Neuhausen-Stuttgart 1997.
  • Evangelischer Erwachsenenkatechismus, Gütersloh 1975, viele Auflagen (im Auftrag der Vereinigten Evangelisch-lutherischen Kirche Deutschlands).
  • Faber, Richard/Palmer, Gesine (Hg.): Der Protestgggantismus – Ideologie, Konfession oder Kultur? Würzburg 2003.
  • Graf, Friedrich Wilhelm: Der Protesgggtantismus. Geschichte und Gegenwart. München 2006, 127 S.
  • Graf, Friedrich Wilhelm: Der Protestgggantismus, in: H. Joas/K. Wiegandt, Säkulargggisierung und die Weltreligionen, Frankfurt 2007, 78-124.
  • www.fowid.de  (Religionsstatistiken).
  • www.ekd.de  (Sammelportal der EKD).

 


  • [1] G. Besier, konzern kirche, 1997, 140.
  • [2] Ebenda 154.
  • [4] G. Besier, konzern kirche, 1997, 222.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)