Kirchenrecht

Das Kirchenrecht ist rein innerkirchliches Recht. Inwieweit es Auswirkungen auf das staatliche Recht haben kann, bestimmt allein das staatliche Recht. Die grundgesetzliche Bestimmung über das Selbstverwaltungsrecht der Religionsgemeinschaften (Art. 137 III WRV/140 GG) belässt diesen ihr Recht im internen Bereich, setzt ihm aber Grenzen durch die allgemeinen staatlichen Gesetze (Art. 137 III 1 WRV). Näheres siehe unten III.

wobei kirchliches Recht und staatliches Recht bezüglich der Schranken in Wechselwirkung stehen. Die vom Staat vorzunehmende Güterabwägung ist seit je äußerst umstritten, wobei die Rechtspraxis das verfassungsrechtliche Recht, die eigenen Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten, zugunsten der Kirchen sehr extensiv zu einem "Selbstbestimmungsrecht" der Kirchen gedehnt hat.

I. Evangelisches Kirchenrecht

1. Entwicklung

Aus evangelischer Sicht ist Kirche nicht, wie aus katholischer, wesensgemäß Rechtskirche. Aber ohne vom staatlichen Recht getrennte interne rechtliche Organisation kommt auch keine evangelische Kirche aus. Seinen Sitz hat das evangelische Kirchenrecht (EKR) im Wesentlichen in den einzelnen Landeskirchen. Demgegenüber ist das katholische Kirchenrecht zentral in zwei Rechtsordnungen zusammengefasst (siehe unten). Martin Luther hat zwar 1520 die seinerzeitige katholische Kirchenrechtssammlung den Flammen überantwortet, aber keineswegs auf eine rechtliche Ordnung des Kirchenwesens verzichten wollen. Die "Kirchenordnungen" der Reformationszeit galten als Notrecht des landesherrlichen Kirchenregiments und wurden häufig von Theologen verfasst. Sie führten aber dazu, dass die Kirchen zu staatlichen Einrichtungen bzw. Anstalten im Staat wurden. Das Recht wurde weniger vom Gottesdienst als vielmehr aus Sicht der obrigkeitlichen Leitung konzipiert. Das führte zur Unterscheidung von der geistlichen Kirche (ohne weltliches Recht) und der sichtbar-weltlichen, rechtlich verfassten Kirche. Das Ende der landesherrlichen Kirchenhoheit 1918/19 führte schließlich mit der III. These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 zu einer Neuorientierung mit Betonung der Gemeinschaft der Gläubigen. Seitdem bemüht man sich, das EKR auch theologisch zu begründen. Für das interne Verhältnis zwischen Theologie und Recht hat sich der Begriff "Rechtstheologie" durchgesetzt. Das Kirchenrecht soll dem geistlichen Wesen der Kirche entsprechen.

Ein Lehramt kennen die evangelischen Kirchen nicht (s. Theologische Fakultäten IV ).

2. Kirchenrechtliche Materien

Die einzelnen evangelischen Kirchen haben umfangreiche Gesetzeswerke entwickelt. Dazu gehören das Kirchenverfassungsrecht (Bestellung und Funktion der leitenden Organe, Synoden usw., die Beziehung zu anderen Kirchen, innerkirchlicher Rechtsschutz) sowie das Pfarrerdienstrecht, Sakramentsrecht, das Recht der Kirchenmitgliedschaft, des Diakonisches Werk usw., aber auch das Finanz- und Vermögensrecht einschließlich der Kirchensteuer. Vielfach werden auch staatliche Regelungen übernommen (Dienstrecht) bzw. modifiziert. Natürlich gibt es auch Recht der EKD und anderer landeskirchlicher Zusammenschlüsse. Im Gegensatz zum streng hierarchischen Recht der katholischen Kirche, in dem die seit 1983 eingeführten demokratischen Aspekte letztlich immer der Hierarchie untergeordnet sind, spielt die Demokratie mit Wahl von Amtsträgern in der evangelischen Kirchenverfassung generell eine große Rolle.

II. Katholisches Kirchenrecht

1. Einleitung

Das kath. Kirchenrecht (KKR) ist hauptsächlich im Codex Iuris Canonici (CIC), dem Kirchlichen Gesetzbuch von 1983, verankert. Es gilt jedoch nur für die römische (lateinische) Kirche. Für die orientalisch-katholischen Kirchen gilt ein eigenes, teilweise stark abweichendes, Gesetzbuch, der Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium (CCEO) von 1990 (s. unten 7). Der CIC lässt Aussagen über das Wesen der kath. Kirche zu. Der Codex hat aber weder im Bewusstsein der kirchlichen Alltagspraxis, noch im Theologiestudium einen besonderen Stellenwert. Bei ernsten Konflikten von Geistlichen, aber auch Laien gibt es daher leicht ein böses Erwachen, wenn die kodifizierte Macht ausgeübt wird. Einfache Gläubige interessieren sich für das Kirchenrecht nur selten.

2. Historische Entwicklung

Das KKR ist geleitet von der Ansicht, die Kirche sei durch den auferstandenen Jesus Christus gestiftet und werde vom Hl. Geist, der dritten göttlichen Person, durch die Zeiten geführt. Nach vielfältiger frühchristlicher Rechtsbildung (die neutestamentlichen Schriften befassen sich kaum mit institutionellen Strukturen und definieren keine verschiedenen Ämter) kam es seit dem 4. Jh. hauptsächlich infolge von Synoden und Konzilien zu einzelnen Rechtssammlungen im Rahmen der Theologie.[1] Ein kirchlicher Rechtssatz wurde als Kanon (Richtschnur, Regel) bezeichnet, daher auch die Bezeichnung "Kanonisches Recht" für das KKR, im Gegensatz zum weltlichen Gesetz und Recht (lex, nomos).

Die klassische Periode des Kirchenrechts mit Entwicklung einer eigenständigen, sich von der Theologie zunehmend lösenden Disziplin beginnt mit einem um 1140 in Bologna erstellten Rechtssammlung. Dieses Decretum Gratiani versuchte, die Fülle ungeordneter und voneinander abweichender Rechtsquellen eines Jahrtausends zu einem System zu fügen. Daraus entwickelte sich eine dem weltlichen, römischen Recht ebenbürtige kirchliche Rechtswissenschaft. Zusammen mit fünf weiteren Rechtssammlungen, z. T. privater Art, entwickelte sich daraus das sog. Corpus Iuris Canonici, eine riesige Sammlung heterogener Schriften, die erstmals 1582, nach dem bedeutenden Tridentinischen Konzil, amtlich herausgegeben wurde. Schon lange vorher war das kanonische Recht ein Instrument kirchlicher Macht gegenüber den Gläubigen und weltlichen Herrschern. Die Situation vor der Reformation skizziert der kritische Kirchenrechtler Johannes Neumann wie folgt: "Das Dispensen- und Privilegienwesen sowie die Exemtion, d. h. die Befreiung von der bischöflichen Gewalt, zusammen mit einem wuchernden Taxen- und Steuerunwesen, nahmen schier unvorstellbare Formen an. Die Vielfalt der verschiedenen Gesetze und ihr Verstreutsein über vielerlei Sammlungen ermöglichte es jedem, der sich auskannte, einen legitimen Grund zu finden, der ihn von der Befolgung eines ihm unangenehmen Gesetzes befreite ... Spitzfindige Anwendung und selbstsüchtige Auslegung ... führten neben anderen Gründen zu jenem innerkirchlichen Chaos, das für den zündenden Funken der Reformation den idealen Sprengstoff bildete."[2] Seit dem Konzil von Trient (1545-1563) lag die Weiterentwicklung des Kirchenrechts ganz in päpstlicher Hand, ohne dass es zu einer amtlichen Sammlung kam.

3. Insbesondere: Der Codex von 1917

Das 1. Vatikan. Konzil von 1869/70 verabschiedete die beiden Dogmen vom Papst als oberstem, absolutem Gesetzgeber und Richter (Jurisdiktionsgewalt) und – völlig revolutionär und irregulär – unfehlbarem Souverän in förmlich herausgehobenen Glaubens- und Sittenfragen (Unfehlbarkeitsdogma). Jetzt erst ging Pius X. 1904 historisch erstmals an die Aufgabe einer Gesamtkodifikation des Rechts der lateinischen Kirche. Weisungsgemäß durfte dieses in der Sache nicht viel Neues bringen. 1917 wurde der bis 1983 geltende erste Codex Iuris Canonici mit 2214 Canones von Benedikt XV. verabschiedet ("promulgiert"). Der Codex beanspruchte nach der These von der einzig wahren Kirche Geltung für alle Getauften, auch die Protestanten.

Der Codex von 1917 ist ein Werk des gesteigerten Absolutismus. Seine authentische Auslegung wurde durch eine Kardinalskommission obrigkeitlich gesteuert. In der Folge ergänzten zahlreiche weitere Kirchengesetze den Codex und setzten ihn manchmal auch außer Kraft. Der CIC 1917 kennt naturgemäß keine demokratische Legitimation, da das dem katholischen System vor und nach dem Konzil von Trient zutiefst widerspräche. Daher wurzelt der nach dem 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965) mit seinen Aufbrüchen vielfach erhobene Ruf nach einer Demokratisierung der Kirche wohl in illusionären Vorstellungen. Hellsichtige Theologen erkannten das auch angesichts einer bald einsetzenden starken Bürokratisierung und der nach kirchlicher Auffassung im "göttlichen Recht" wurzelnden strengen Unterscheidung von Klerus und Laien. Auch das 2. Vatikanum brachte, wie sogleich ausgeführt wird, trotz neuartiger Beteiligung von Laien am Kirchenleben keine grundlegende Änderung der Kirchenverfassung.

4. Kirchliches Gesetzbuch von 1983

a) Den Anstoß zur Revision des CIC 1917 gab Johannes XXIII., der mit einem neuen Codex das 1959 unerwartet angekündigte Reformkonzil krönen wollte. In einer Ansprache vor der neuinstallierten Codex-Kommission zeichnete sein Nachfolger Papst Paul VI. (ab 1963) die Kirche als von Gott errichtete Gesellschaft. Die Jurisdiktionsgewalt habe Christus der Hierarchie zugeteilt. Zum unabänderlichen göttlichen Recht seien zu zählen: der Primat des Papstes, das Bischofsamt, Amt des Priesters und des Diakons. Ebenfalls nach göttlichem Recht seien die Laien der Hierarchie unterstellt und im Gewissen verpflichtet, den Gesetzen zu gehorchen. Nur bezüglich der Erlangung des ewigen Heils seien alle gleich. Diesen Vorgaben entspricht der von Joh. Paul II. 1983 in Kraft gesetzte neue Codex vollständig.

b) Über das Papstamt sagt der CIC 1983 folgendes (Hervorh. Cz):

Can. 331 — Der Bischof der Kirche von Rom, in dem das vom Herrn einzig dem Petrus, dem Ersten der Apostel, übertragene und seinen Nachfolgern zu vermittelnde Amt fortdauert, ist Haupt des Bischofskollegiums, Stellvertreter Christi und Hirte der Gesamtkirche hier auf Erden; deshalb verfügt er kraft seines Amtes in der Kirche über höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt, die er immer frei ausüben kann.

Can. 333 — § 2. Der Papst steht bei Ausübung seines Amtes als oberster Hirte der Kirche stets in Gemeinschaft mit den übrigen Bischöfen, ja sogar mit der ganzen Kirche; er hat aber das Recht, entsprechend den Erfordernissen der Kirche darüber zu bestimmen, ob er dieses Amt persönlich oder im kollegialen Verbund ausübt. § 3. Gegen ein Urteil oder ein Dekret des Papstes gibt es weder Berufung noch Beschwerde.

Can. 749 — § l. Unfehlbarkeit im Lehramt besitzt kraft seines Amtes der Papst, wann immer er als oberster Hirt und Lehrer aller Gläubigen, dessen Aufgabe es ist, seine Brüder im Glauben zu stärken, eine Glaubens- oder Sittenlehre definitiv als verpflichtend verkündet... § 3. Als unfehlbar definiert ist eine Lehre nur anzusehen, wenn dies offensichtlich feststeht.

c) Der Papst hat somit absolute diktatorische Vollmachten und ist letztlich nicht an Gesetze und Gremien (etwa Organe der Kurie) gebunden. Zu keinem historischen Zeitpunkt vor dem völlig revolutionären und irregulär verlaufenen l. Vat. Konzil[3] war der Papst mit einer solchen universalen Machtfülle und Durchsetzungskraft ausgestattet wie seit spätestens 1917. Der CIC 1983 hat 1752 Canones und wird ebenfalls ergänzt durch eine Fülle weiterer Kirchengesetze, etwa zum Heiligsprechungsverfahren.

d) Es folgen einige weitere Beispiele aus dem CIC 1983: Gem. can. 212 § l müssen die Gläubigen "in christlichem Gehorsam" befolgen, "was die geistlichen Hirten in Stellvertretung Christi als Lehrer des Glaubens erklären oder als Leiter der Kirche bestimmen". Sie sind gem. § 3 berechtigt, in "Ehrfurcht gegenüber den Hirten" ihre Meinung über das Wohl der Kirche kundzutun. Die Jünger der theologischen Wissenschaften besitzen gem. can. 218 "die gebührende Freiheit der Forschung und der klugen Meinungsäußerung", zu wahren ist dabei aber "der schuldige Gehorsam gegenüber dem Lehramt der Kirche". Bei der Wahrnehmung staatlich-bürgerlicher Rechte müssen sich die Laien gem. can. 227 "nach der vom Lehramt der Kirche vorgelegten Lehre" richten. Angehende Priester sind nach can. 245 § 2 "so zu bilden, dass sie, von der Liebe zur Kirche Christi erfüllt, dem Papst als Nachfolger Petri in demütiger und kindlicher Liebe ergeben sind und dem eigenen Bischof als dessen treue Mitarbeiter anhangen...". Interessant ist can. 282 § l, der alle Kleriker verpflichtet, "ein einfaches Leben zu führen und sich aller Dinge zu enthalten, die nach Eitelkeit aussehen". Unvorstellbar genau geregelt sind in can. 840-1165 alle mit den sieben katholischen Sakramenten, die gem. can. 840 sämtlich von Christus eingesetzt sind, verbundenen Fragen. Die Eucharistie formuliert can. 899 § l wie folgt: "Die Feier der Eucharistie ist eine Handlung Christi selbst und der Kirche; in ihr bringt Christus der Herr durch den Dienst des Priesters sich selbst, unter den Gestalten von Brot und Wein wesenhaft gegenwärtig, Gott dem Vater dar und gibt sich den Gläubigen, die in seinem Opfer vereint sind, als geistliche Speise." Dank einer Initiative Joh. Pauls II. gibt es wieder eine Bestimmung, wonach bei Todesgefahr auch ein Kind nichtkatholischer Eltern gegen deren Willen erlaubt getauft wird, can. 868 § 2. Eine besonders delikate Sache sind die zahlreichen kanonischen Gründe für eine Nichtigerklärung kirchlich geschlossener Ehen, vgl. can. 1095-1107 (s. näher Ehe).

5. Innerkirchliche Kritik und abweichende Praxis

Der bekannte Kirchenrechtler Werner Böckenförde begründete (wie andere auch) eingehend seine These, trotz zum Teil bedeutender Neuerungen gegenüber dem CIC 1917 sei im Kern der Geist des neuen CIC identisch mit dem Geist des alten. Die hierarchische Leitungsstruktur ist unverändert, wenn man die verschiedenen Beteiligungen von Laien als schmückendes und nicht rechtlich entscheidungsfähiges Beiwerk erkennt. Auf die umfangreichen Regelungen des CIC etwa zu den verschiedenen Gruppen von Amtsträgem, Teilkirchen (Diözesanordnung) und religiösen Orden, zum Kirchenvermögen, zu den Kirchenstraftaten und Kirchenprozessen kann hier nicht eingegangen werden.

Zu den Lehrbeanstandungen gegenüber "kritischen" Theologen wurde zwar 1997 eine neue Verfahrensordnung der Glaubenskongregation erlassen, die die Rechtsstellung der Betroffenen deutlich verbessern soll. Innerkirchliche Kritiker weisen aber auf weiter bestehende gravierende Mängel hin: die zu starke Kompetenz der Glaubenskongregation, späte Information der Ortsbischöfe, zu späte Einbeziehung des Betroffenen, das Fehlen angemessener Verteidigungsmöglichkeit, das Fehlen effektiver Rechtsmittel und die Anonymität der Untersuchungsführer. Solche Verfahren widersprechen – so die Kritiker - den Anforderungen heutiger Rechtskultur, ja überhaupt der Gerechtigkeit und heute üblichen Sicht von Menschenwürde. Erwähnt sei noch, dass das von Johannes Paul II. besonders favorisierte Opus Dei als einziger Orden mit der Schaffung des extraterritorialen Status einer "Personalprälatur" im CIC eine außergewöhnliche Sonderregelung erhalten hat (can. 294-297).

In der Praxis besteht, wie u. a. auch die weltweit publik gewordenen massenhaften priesterlichen Verfehlungen im Sexualbereich zeigen, eine erhebliche Divergenz zwischen den rechtlichen Vorschriften und ihrer häufigen Missachtung. Das betrifft etwa die ökumenische Praxis, auch bezüglich der Eucharistie, den Ausschluss wiederverheirateter Geschiedener von der Eucharistie, die teilweise Großzügigkeit bei der eigentlich gebotenen Kündigung kirchlicher Arbeitnehmer, die päpstliche Lehre über Geburtenregelung und die Sexualität überhaupt.

6. Staat-Kirche-Verhältnis

Hierzu gibt es im CIC 1983 keine ausdrücklichen Regelungen. Allerdings enthält er in vielerlei Hinsicht (Schulen, Universitäten, Eigentum u. a.) Forderungen zur Absicherung einer sehr weit gehenden kirchlichen Eigenständigkeit. Sie sind aber für Deutschland ohne Interesse, weil das GG all diese Garantien ohnehin enthält (Selbstverwaltungsrecht). Wichtig war die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit (Dignitatis humanae) von 1965, die wirklich revolutionär mit der bisherigen Theorie und Staatenpraxis aufräumte und – theoretisch – das eigensüchtige Privilegiendenken über Bord warf. Die Erklärung ging davon aus, dass der Staat kein konfessioneller Staat mehr sein kann, und forderte allgemein volle Religionsfreiheit. Wegen der Würde der menschlichen Person dürfe niemand auch nur indirekt wegen seiner Religion diskriminiert werden.

Besonders interessant ist Art. 76 der Pastoralkonstitution des 2. Vat. Konzils über das Staat-Kirche-Verhältnis, in dem es heißt: Die Kirche setzt "ihre Hoffnung nicht auf Privilegien, die ihr von der staatlichen Autorität angeboten werden. Sie wird sogar auf die Ausübung von legitim erworbenen Rechten verzichten, wenn feststeht, dass durch deren Inanspruchnahme die Lauterkeit ihres Zeugnisses in Frage gestellt ist, oder wenn veränderte Lebensverhältnisse eine andere Regelung fordern." Dabei scheut die kath. Kirche gerade in Deutschland nichts mehr als den Verzicht auf Privilegien, wie ihre Vorgehensweise auch in den neuen Bundesländern beweist (s. auch den Art. Staatskirchenverträge). Das obige Zitat ist allerdings kein Satz des Kirchenrechts. Sein Inhalt wird konterkariert durch den speziell auf Deutschland gemünzten can. 3 CIC 1983, wonach die konkordatären Vereinbarungen stets Vorrang vor dem CIC haben. Die aktuelle Praxis geht noch darüber hinaus, indem durch neue Verträge weitere – und sei es staatsrechtswidrige – Privilegien gesichert werden.

7. Gesetzbuch für die Ostkirchen, CCEO

Erstmals 1991 trat ein Gesetzbuch für die 21 Ostkirchen mit ca. 15 Millionen Christen (vor den Flüchtlingsbewegungen des 21. Jh.) in Kraft, die zur Papstkirche gehören (CCEO; s. eingangs). Es zeigt, dass auch der CIC deutlich anders aussehen könnte. Der Papst hat den Ostkirchen fünf orientalische Riten zugebilligt. Wichtigste sonstige Besonderheiten sind: Die Ostkirchen sind Kirchen eigenen Rechts. Ihre Leiter (Patriarchen bzw. Großerzbischöfe) haben umfassende, vielfach papstähnliche Befugnisse. Die Bischofssynoden haben u. a. das Recht, den Patriarchen und die Bischöfe zu wählen. Freilich gibt es Vorbehalte zu Gunsten des Papstes, insb. bei der Kandidatenliste für die Bischofswahl. Und schließlich: Der CCEO kennt keinen Pflichtzölibat für Kleriker. Dabei sind doch die römisch-katholischen Kleriker gem. can. 277 § l gehalten, "vollkommene und immerwährende Enthaltsamkeit um des Himmelreiches willen zu wahren; deshalb sind sie zum Zölibat verpflichtet, der eine besondere Gabe Gottes ist, durch welche die geistlichen Amtsträger leichter mit ungeteiltem Herzen Christus anhangen und sich freier dem Dienst an Gott und den Menschen widmen können." Anscheinend treffen diese Gründe auf orientalische Kleriker nicht zu. S. näher zum CCEO das Handbuch des katholischen Kirchenrechts.

III. Kirchliches Dienst- und Ordensrecht

1. Kirchliches Selbstverwaltungsrecht (Selbstbestimmungsrecht)

Gemäß Art. 137 III WRV/140 GG haben die Religionsgemeinschaften das Recht, ihre internen Verhältnisse, insbesondere die Rechte und Pflichten ihrer Mitglieder, durch ein eigenes Rechtssystem zu regeln. Das kann geschehen im Rahmen einer religionsrechtlichen Körperschaft i. S. des Art. 137 V WRV/140 GG mit gewissen Vorrechten, aber auch im Rahmen des Zivilrechts, nämlich eines eingetragenen oder nichteingetragenen Vereins. Auch bei Wahl der zivilrechtlichen Organisation gilt das Selbstverwaltungsrecht des Art. 137 III WRV, was wegen Art. 4 I, II zu erheblichen Abweichungen führen kann. Die großen Kirchen sind als Körperschaften (Art. 137 V WRV) organisiert, die nicht unter Staatsaufsicht stehen. Sie können Rechtsverhältnisse mit Mitgliedern wahlweise im Rahmen des staatlichen Arbeitsrechts eingehen, was bei sozialen Einrichtungen in großem Umfang (mit höchst umstrittenen Besonderheiten) geschieht. Da die Kirchen den speziellen Körperschaftsstatus innehaben, haben sie wahlweise auch das spezielle Recht, öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse zu begründen, die weder dem Arbeitsrecht, noch dem Sozialversicherungsrecht unterliegen. Von dieser "Dienstherrenfähigkeit" machen die Kirchen der EKD Gebrauch (Kirchenbeamte, Pfarrergesetze). Sie können die staatlichen Beamtengesetze für sich übernehmen, ein eigenes Dienstrecht schaffen oder kombinierte Systeme verwenden. Entsprechendes gilt für die katholische Kirche mit Ihrem kirchlichen Gesetzbuch (CIC).

2. Das Problem staatlichen Rechtsschutzes

Beim innerkirchlichen Dienstrecht stellt sich häufig das seit Jahrzehnten äußerst umstrittene Problem, ob bzw. inwieweit Inhaber kirchlicher Ämter gegenüber kirchlichen Entscheidungen den Rechtsschutz staatlicher Gerichte in Anspruch nehmen können. Denn auch "Kirchendiener" sind Staatsbürger, die wie alle anderen, so sollte man meinen, von ihrem kirchlichen Dienstgeber zumindest die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards durch staatliche Gerichte erzwingen können (sog. Justizgewährungsanspruch). Auch das Selbstverwaltungsrecht darf ja nach dem GG nur "innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes" ausgeübt werden. Die innerkirchlichen Gerichte gewähren Rechtsschutz aber in unterschiedlichem Ausmaß. Die Rspr. des BVerfG und BVerwG war und ist bisher äußerst restriktiv bei der Anerkennung eines staatlichen Prüfungsrechts nach dem Motto (überspitzt): wer sich beruflich mit Kirche einlässt, bleibt ihr ausgeliefert. Die staatliche Rspr. hat sich für die kirchlich-dienstrechtlichen Streitigkeiten im Wesentlichen für unzuständig erklärt, ausgenommen ein Teil der vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Höchstrichterliche Ansätze der letzten Jahre, die staatliche Überprüfbarkeit kirchlicher Dienstverhältnisse auszuweiten, haben sich nicht durchgesetzt. Das BVerwG hat 2002 die Revision eines Pfarrers wegen Ruhestandsversetzung zurückgewiesen mit der erstaunlichen Begründung, der Ausschluss der staatlichen Gerichtsbarkeit beziehe sich "auch auf die Einhaltung der ‚fundamentalen Grundsätze der staatlichen Rechtsordnung’ durch die kirchlichen Stellen". Eine solche Verweigerung staatlichen Rechtsschutzes zugunsten der kirchlichen Hierarchie ist eines Rechtsstaats unwürdig, und das ist auch die geschlossene Meinung der Rechtsliteratur.

Eine grundsätzliche Wende der Gesamtsituation trat 2014 ein. Das BVerwG hat in einer Grundsatzentscheidung in Abkehr von seiner bisherigen Rspr. die Ansicht vertreten, der sich u. a. aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende allgemeine Justizgewähranspruch könne unter bestimmten Voraussetzungen auch in kirchlich-dienstrechtlichen Streitigkeiten den staatlichen Rechtsweg eröffnen. Gegenüber jedem innerkirchlichen Akt könne bei staatlichen Gerichten geltend gemacht werden, er verletze die elementaren Grundprinzipien des staatlichen Rechts. Damit ist die Rechtslage etwas entschärft.

3. Katholisches Ordensrecht

Eine noch weitaus stärkere Einschränkung der persönlichen Verhältnisse ergibt sich aus dem Ordensrecht der kath. Kirche. Im Codex Iuris Canonici (can. 607-709) und in den jeweiligen Ordensstatuten sind auch die Rechte und vor allem umfassenden Pflichten der Ordensangehörigen eingehend geregelt. Mindestalter für die Zulassung zum Noviziat (einer Probezeit mit Ausbildungsordnung) ist gem. can. 643 § 1 CIC die Vollendung des 17. Lebensjahrs. Zur Noviziatsausbildung gehört auch Selbstverleugnung. Mit Ablegung des Professgelübdes, frühestens mit 18 Jahren, wird die Pflicht zur Einhaltung von Keuschheit, Armut und Gehorsam (die sog. evangelischen Räte) übernommen, und zwar zunächst auf Zeit von 3 bis maximal 9 Jahren. Danach scheidet der Betreffende aus oder legt mit frühestens 21 Jahren die "ewige Profess" ab. Tägliche Gewissenserforschung und Empfang des Eucharistiesakraments ist anzustreben, tägliche Schriftlesung und Gebet sind selbstverständlich. Die Gottesmutter ist besonders zu verehren. Die Entfernung aus der Niederlassung bedarf der Erlaubnis.

Zum persönlichen Vermögen regelt der CIC Folgendes: Vor dem ersten Gelübde muss der Kandidat die Verwaltung seines Vermögens an eine Person seiner Wahl abtreten. Vor der ewigen Profess muss ein weltlich gültiges Testament errichtet werden. Änderungen sind erlaubnispflichtig. Je nach den Ordensstatuten muss man vor der ewigen Profess rechtswirksam auf sein gesamtes Vermögen verzichten. Mit der Profess verliert der Betreffende dann die Erwerbsfähigkeit. Jeder Erwerb erfolgt für den Orden, der seinerseits für die Angehörigen sorgen muss. Den zuständigen Bischöfen müssen die Ordensleute "in treu ergebenem Gehorsam und mit Ehrerbietung" begegnen. Bereits der Versuch eines Eheschlusses ist automatischer Entlassungsgrund. Weltgeistliche, die in einem eheähnlichen Verhältnis leben oder anderweitig beharrlich gegen das sechste Gebot verstoßen, sollen hingegen zunächst nur mit Suspension bestraft werden, aber auch das nur, wenn "dadurch Ärgernis erregt" wird (can. 1395 § 1).

Man kann einen Orden jederzeit verlassen, sollte aber wissen, dass man dann wie auch bei einer rechtmäßigen Entlassung "für jegliche in ihm geleistete Arbeit von demselben nichts verlangen" kann. Freilich soll das Institut "Billigkeit und evangelische Liebe gegenüber dem ausgeschiedenen Mitglied walten lassen" (can. 702 §§ 1 und 2). Praktisch stehen ehemalige Ordensangehörige aber mittellos da, wenn sie mit der Profess auf ihr Vermögen verzichtet haben. Sie haben auch keine angemessene Altersversorgung, da sie für eine berufliche Tätigkeit im Auftrag des Ordens diesem zwar ggf. lange zu erheblichen Einnahmen verholfen haben (z. B. als Leiter eines staatlich finanzierten Gymnasiums), selber aber dafür nur zum gesetzlichen Mindestbeitrag nachversichert werden. Die sich daraus ergebenden Beträge entsprechen auch bei gut honorierter Tätigkeit oft nur etwa dem Hartz IV- Niveau.

>> Kündigungsschutz; Ehe; Kirchenorganisation; Körperschaftsstatus ; Privilegien; Theologie; Selbstverwaltungsrecht; Staatskirchenverträge.

Literatur:

  • BVerwGE 149, 139 =  NVwZ 2014, 1101, U. v. 27. 2. 2014 – 2 C 19.12 (Neuausrichtung zum Justizgewähranspruch).
  • Codex Iuris Canonici - Codex des kanonischen Rechtes. Lateinisch-deutsche Ausgabe. Kevelaer 1984 (und später: mehr. Aufl.; über 900 S.; mit Konstitution über Kanonisationsverfahren).
  • Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Konzilserklärung über die Religgggionsfreiheit (1967), in: ders., Kirchlicher Auftrag und politische Entscheidung, Freiburg i. Br. 1973, 191 ff.
  • Böckenförde, Werner: Die Verfahrensordnung zur Überprüfung von Lehrfragen durch die Kongregation für die Glaubenslehre von 1997, NVwZ 1998, 810-814.
  • Böckenförde, Werner: Neuere Tendenzen im katholischen Kircggghenrecht. Divergenz zwischen normativem Geltungsanspruch und faktischer Geltung. In: Theologia Practica 1992, 110-130.
  • Böckenförde, Werner: Der neue Codex Iuris Canonici, NJW 1983, 2532-2540;
  • Czermak, Gerhard: Staatlicher Rechtsgggschutz im kirchlichen Bereich, in: ders., Religions- und Weltggganschauungsrecht, 2. A. 2017, § 11 VII
  • Evangelisches Kirchenlexikon (EKL), 3. A., 5. Bde., 1986-1997.
  • Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart 2006
  • Lexikon für Kirchen- und Staatskircggghenrecht, Paderborn, 3 Bde., 2000 ff. (ökumenisch)
  • Haering, Stephan/Rees, Wilhelm/Schmitz, Heribert (Hg.): Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 3. A. Regensburg 2015.
  • Hasler, August Bernhard: Pius IX. (1846-1878), Päpstliche Unfehlbarkeit und 1. Vatikanisches Konzil. Dogmatisierung und Durchsetzung einer Ideologie. 2 Bde, Stuttgart 1977 (Fundamentalkritik).
  • Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 13. A. 2014, Anm. 15 ff. zu Art. 137 WRV.
  • Munsonius, Hendrik: Evangelisches Kirchgggenrecht, Tübingen 2014.
  • Neumann, Johannes: Grundriß des katholischen Kirchenrechts, Darmstadt 1981 (kritisch).
  • Örsy, Ladislas SJ: Gerechtigkeit in der Kirche und die Rechtskultur unserer Zeit, Stimmen der Zeit 216 (1998), 363-374 (krit. zur neuen Verfahrensordnung der Glaubenskongregation).
  • Rhode, Ulrich: Kirchegggnrecht, Stuttgart 2015 (katholisch).
  • de Wall, Heinrich/Muckel, Stefan: Kircggghenrecht, 4. A. München 2014.
 


  • [1] S. zu den Anfängen des Christentums kompakt, aber detailliert G. Czermak, Problemfall Religion,2014, 106 ff. Zur Entwicklung des Kirchenrechts J. Neumann, Grundriß 1981, 35 ff.
  • [2] J. Neumann a.a.O. 40 f.
  • [3] s. die Forschungsergebnisse von August Bernhard Hasler, 1977.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)