Privilegien

I. Säkularer Staat

Mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 wurde der epochale Schritt vom Glaubensstaat zum Staat der Religionsfreiheit getan. Die Bundesrepublik Deutschland ist, auf der Weimarer Tradition aufbauend, weder ein christlicher, noch überhaupt religiöser Staat. Die Bundesrepublik identifiziert sich mit keiner Religion, Weltanschauung oder sonstigen spezifischen Ideologie, sondern nur mit ihren verfassungsrechtlichen Fundamentalprinzipien (s. Grundgesetz, Leitprinzipien). Dazu gehören auch die religiös-weltanschauliche Neutralität und die Garantie eines freien geistigen Prozesses.

Verbal bestreitet das niemand. Die oft kritisierten Kirchenprivilegien seien aber bei Licht betrachtet gar keine. Gleichzeitig ist aber nicht ohne Grund die Überzeugung verbreitet, es herrschten innige Beziehungen zwischen Staat und Kirche. Schon 1965 hat der ehemalige Richter des BVerfG Konrad Hesse in einer vielzitierten Abhandlung darauf hingewiesen, die Kirchen suchten trotz oder wegen ihrer inneren Krise "das, was sie an unmittelbarem Einfluss auf die moderne Gesellschaft verloren haben, mittelbar durch staatskirchenrechtliche Institutionalisierung zurückzugewinnen".[1] Daher überrascht es nicht, dass ein Kirchenjurist 1968 eine (nicht vollständige) Liste von institutionalisierten Mitwirkungsrechten der Kirchen im staatlichen Bereich in 44 Punkten kurz beschrieben und nachgewiesen hat.[2]

II. Rechtliche und tatsächliche Inkonsequenzen

Wie das auch noch heute, bei dramatisch zurückgegangenem kirchlichen Leben (s. Kirchen- und Religionsstatistik), in der Praxis und unter kräftiger Mitwirkung staatlicher Organe aussieht, zeigt ohne Anspruch auf Vollständigkeit die folgende Auflistung. Sie will wesentliche Aspekte der tatsächlichen Förderung der christlichen Großkirchen aufzeigen, von denen wohl die meisten verfassungsrechtlich fragwürdig, wenn nicht eindeutig verfassungswidrig sind. Manche Tatbestände sind mit dem GG vereinbar oder doch rechtlich vertretbar. Auch sie erweisen jedoch den gewaltigen Umfang kirchlicher Macht und kirchlicher Bevorzugung. Wegen der Einzelheiten der Rechts- und Verfassungswirklichkeit sowie verfassungsrechtlichen Problematik wird auf die einschlägigen Artikel verwiesen.

III. Fallgruppen und Einzelbeispiele

1. Förderung innerkirchlicher Anliegen

Die öffentliche Hand darf nach allgemeiner Rechtsauffassung zumindest im Grundsatz auch "Religionsförderung" betreiben, nämlich wenn vergleichbare weltliche Aktivitäten (in Musik, Kunst, Kultur, Bildung, Sport) anderer Institutionen bzw. Gruppierungen auch entsprechend gefördert werden (s. Religionsförderung). Dass der Staat auf Förderung auch verzichten kann, ist ebenfalls anerkannt. Wenn er aber fördert, muss er dabei den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) beachten.

Der angeblich religiös-weltanschaulich neutrale Staat fördert aber einseitig sogar rein innerkirchliche Angelegenheiten. Dazu gehören auch Kirchentage (s. dort) und selbst Priesterseminare wurden auch bei knappen öffentlichen Kassen mit allgemeinen Steuermitteln z.T. sehr großzügig gefördert. Der Staat besoldet mit Steuergeldern auch Andersgläubiger und Konfessionsfreier einseitig Bischöfe, Domherren und andere Geistliche. Selbst vor der Mitfinanzierung der Auslandsmission scheut der Staat nicht zurück.[3]

Er zieht die internen Mitgliedsbeiträge der Kirchen trotz grundsätzlich verfügter institutioneller Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften und ohne Anhaltspunkt im Verfassungstext als Kirchensteuer mit Mitteln der staatlichen Finanzverwaltung ein. Bei der Kirchensteuerverwaltung wendet er auch sonst fragwürdige Methoden an (Details unter Kirchensteuerrecht, Kirchenlohnsteuer, Besonderes Kirchgeld; vieles sehr umstritten).

Der Staat unterhält zahlreiche christliche Theologische Fakultäten als Ausbildungsstätten nicht nur für Religionslehrer, sondern auch für Priester. Er finanziert sie mit Steuergeldern aller Bürger und stattet sie so üppig aus, dass der Bayerische Oberste Rechnungshof das 1998 und 2000 wegen der zahlreichen katholischen Fakultäten und Lehrstühle in Bayern und der weiter abnehmenden minimalen Studentenzahlen – mit einem kleinen Teilerfolg – beanstandete. Auch der Rechnungshof von Baden-Württemberg sparte nicht mit Kritik. Außerhalb theologischer Fakultäten gibt es nur teilweise Lehrstühle zur Religionswissenschaft, zum säkularen Humanismus keinen einzigen. Der Islam hingegen wird im Schul- und Hochschulbereich heute fast hofiert.

2. Religion und Schule

Der Staat richtet aufgrund der verfassungsrechtlichen Sonderregelung in Art. 7 GG auf seine Kosten an den öffentlichen Schulen (zulässigerweise) Religionsunterricht ein. Zudem sorgt er in fast allen Bundesländern auch dafür, dass die zunehmenden Abmeldungen vom Religionsunterricht durch Einrichtung eines speziellen Ersatzunterrichts oder Alternativunterrichts (Ethik-, Philosophieunterricht, Werte und Normen oder ähnlich) möglichst erschwert werden. Das ist vor allem für nichtreligiöse Schüler von Bedeutung. Dabei garantieren die Art. 7 II und 4 I GG die freie Entscheidung über die Teilnahme am Religionsunterricht (s. Ethikunterricht).

Ein umfangreiches Kapitel ist die offizielle dezidiert-christliche Schulpolitik insb. in Bayern und eine einseitige Bevorzugung der christlichen Religionsgemeinschaften auch in einigen anderen Bundesländern. Eine Merkwürdigkeit sind die im Wesentlichen in Bayern etablierten sogenannten Konkordatslehrstühle, auf die die bayerischen Bischöfe 2013 vorläufig für die Zukunft verzichtet haben (s. konfessionsgebundene Staatsämter). Sie sollen insbesondere der christlichen Beeinflussung der Studenten an den Erziehungswissenschaftlichen Fakultäten dienen. Dabei dürfen die Volksschulen (Grund- und Mittelschulen) laut BVerfG (1975) trotz ihrer irreführenden Bezeichnung "Christliche Gemeinschaftsschulen" gerade nicht glaubenschristlich geprägt sein. Vielmehr müssen sie religiös-weltanschaulich neutral sein und dürfen allenfalls eine kulturchristliche Akzentuierung aufweisen. Bayern scheut sich auch nicht, den Studenten der Fachakademien für Sozialpädagogik eine Abmeldung vom konfessionell getrennten Prüfungsfach Religionspädagogik zu versagen. Schulgebete initiieren nicht Schüler, sondern Lehrer (s. Schulgebete).

3. Religionsprivilegierung in sonstigen öffentlichen Institutionen und bei Amtsakten

a)  Mit dem Kreuzsymbol werden nicht nur Schulen und Krankenzimmer und somit Bereiche gesellschaftlich-öffentlicher Bedeutung, sondern sogar Gerichtssäle und Ratssäle, d.h. Orte der ausschließlich säkularen öffentlichen Gewalt ausgestattet (Kreuz im Klassenzimmer; Kreuz in Amtsräumen).

b)  Staat und Gemeinden ziehen kirchliche Sozialeinrichtungen auf Grund eines falsch verstandenen Subsidiaritätsprinzips (s. dort) den entsprechenden weltanschaulich neutralen öffentlichen Einrichtungen vor mit erheblichen Auswirkungen auf Gesellschaft und Beschäftigte. Das wird ergänzt durch eine europaweit außergewöhnliche Ermöglichung eines umfangreichen arbeitsrechtlichen Sonderrechts mit erheblichen Nachteilen für die Beschäftigten (Arbeitsrecht, Kündigungsschutz).

c)  Noch heute leisten in manchen Bundesländern katholische Bischöfe einen staatlichen Treueid, obwohl das GG ausdrücklich die Ämterhoheit der Religionsgemeinschaften ohne staatliche Mitwirkung garantiert (Art. 137 III 2 WRV/140 GG). Teilweise haben Staat und Kirchen vertraglich vereinbart, die Ernennung von Geistlichen von der Einhaltung bestimmter Voraussetzungen abhängig zu machen und so ihre spezielle enge Verbundenheit demonstriert.

d)  Der Staat finanziert ohne verfassungsrechtlich-textliche Grundlage die gesamte Militärseelsorge sowie Gefängnis- und Polizeiseelsorge, obwohl es sich dabei um verfassungsrechtlich nicht erkennbar legitimierte institutionelle Verbindungen handelt. Die Militärseelsorge wird noch ergänzt durch die bemerkenswerte Besonderheit des Lebenskundlichen Unterrichts, der von Militärpfarrern auf der Basis des christlichen Glaubens von Staats wegen erteilt wird. Nach dem Gleichheitsprinzip sehr problematisch ist auch das sog. Geistlichenprivileg im Wehr- und Zivildienstrecht.

e)  Fragwürdige Privilegierungen stellen auch die beamtenrechtlichen Regelungen über Sonderurlaub für speziell kirchliche Veranstaltungen dar (s. Beamtenrecht und Religion).

f)  Öffentliche Gebäude und Straßen werden anlässlich offizieller Akte vielerorts automatisch kirchlich eingesegnet. Diese Privilegierung ist nicht unbedingt unzulässig, wirft aber doch Fragen der Parität auf. Bei wichtigen Eröffnungen wird auch das spezielle staatlich-kirchliche Einvernehmen betont.

g)  Automatisch ist der päpstliche Nuntius nach wie vor auch in der Bundesrepublik Doyen des Diplomatischen Corps. Das hat seinen Ursprung im Reichskonkordat (Schlussprotokoll zu Art. 3).

4. Allgemeine finanzielle Religionsförderung

a)  Die Fülle der direkten und indirekten finanziellen Förderung speziell kirchlicher Anliegen durch die öffentliche Hand ist enorm. Ein erkennbar kirchengeneigter Autor hat dazu 2015 Folgendes geschrieben: "Schon ein Überblick über die einfachen, nicht historisch begründeten Leistungen erscheint – heute mehr denn je – fast unmöglich."[4] Sehr groß ist die Zahl der Steuer- und Gebührenvergünstigungen (s. dort).

b)  Eine für Gemeinden mitunter erhebliche Bedeutung haben staatliche und gemeindliche Kirchenbaulasten, obwohl sie z.T. schon seit Jahrhunderten bestehen. Die naheliegende Frage des Erlöschens derartiger historischer Lasten, insbesondere infolge Wegfalls der Geschäftsgrundlage und Leistungsabgeltung, spielt in Rechtsprechung und Literatur kaum eine Rolle. Der Staat ist seiner nach wie vor - an sich unstreitig - bestehenden verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Ablösung aller 1919 bestehenden Staatsleistungen (Art. 138 I WRV/140 GG) nicht nachgekommen. Darüber hinaus sind die Länder einschließlich der neuen Bundesländer vertragsrechtlich eine Fülle finanzträchtiger Verpflichtungen trotz Art. 138 WRV neu eingegangen (s. Staatsleistungen und Kirchengutsgarantie).

5.  Institutionelle Gleichheitswidrigkeiten

a) Zahlreich sind die Probleme der formellen Statusgleichheit aller religiös-weltanschaulichen Vereinigungen mit ihren Verfassungsverstößen (s. Körperschaftsstatus). Das Rundfunkrecht (s. Medien und Religion) z.B. enthält eindeutige normative Vergünstigungen für die etablierten Religionsgemeinschaften, teilweise auch die jüdische, während Muslime kaum und säkulare Humanisten bisher trotz ihrer Bedeutung nie berücksichtigt werden. Auch im 2015/16 umstrukturierten 77-köpfigen ZDF-Fernsehrat ist der weltliche Humanismus trotz vorhandener organisatorischer Anknüpfungsmöglichkeiten nicht vertreten, während der Kirchenanteil sogar noch vergrößert wurde. Die durch Art. 5 I GG und eine umfangreiche RSpr. des BVerfG gebotene Meinungsvielfalt wird ignoriert.

Unter den 25 Mitgliedern des 2001 etablierten Nationalen Ethikrats (Berufung durch den Bundeskanzler) befanden sich sicher viele "unabhängige" Persönlichkeiten, aber niemand, der als Repräsentant des säkularen Humanismus angesehen werden könnte. Groß war jedoch die Zahl der christlichen und kirchlichen Mitglieder. Beim 26-köpfigen Deutschen Ethikrat, der an seine Stelle getreten ist und 2008 seine Arbeit aufgenommen hat (Berufungen durch Bundestag und Bundesregierung), ist das nicht anders.

b) Viele religiöse Minderheiten wurden trotz ihrer Unterschiede und im Widerspruch zu wissenschaftlichen Erkenntnissen auf breiter gesellschaftlicher Ebene gern pauschal als "Sekten" diffamiert, durch staatliche Organe angeprangert und ihre Rechte wurden auch durch unterschiedliche Anwendung juristischer Methoden beschnitten (s. "Sekten"problematik). Auffallenderweise hat der Endbericht der einschlägigen Enquête-Kommission des Bundestags (1998) kirchlichen Sonderbewegungen wie dem Opus Dei, dessen totalitärer Charakter und großer Einfluss bestens erforscht ist, keine Aufmerksamkeit geschenkt. Generell wurde und wird es religiösen Minderheiten und erst recht weltanschaulichen Vereinigungen i.S. des Art. 137 VII WRV oder schlicht Konfessionsfreien durch Politik, Verwaltung und Gerichte schwer gemacht, ihre verfassungsmäßigen Rechte, insbesondere das auf Gleichbehandlung, durchzusetzen. Ihnen wird meist der teure, aber oft langwierige und nicht immer erfolgreiche Rechtsweg aufgezwungen. Aus plausiblen Gründen wird er oft gar nicht erst beschritten.

c)  Besonders auffällig und weltweit einzigartig ist in Deutschland das nahezu lückenlose Netz von Staat-Kirche-Verträgen, das für die großen Kirchen und vereinzelt auch Religionsgemeinschaften äußerst vorteilhaft ist (Verträge).

d)  Am gewichtigsten ist wahrscheinlich der kirchliche Lobbyismus (s. dort), dessen gigantisches Ausmaß erst jetzt durch die Forschungen von Carsten Frerk bekanntgeworden ist. Staatlich institutionalisiert ist dabei das Ausmaß der insgeheimen Beteiligung der Kirchen an der Gesetzgebung schon im Vorfeld mit allgemeinem Zugang der Lobbyisten zu Ministerien und Bundestag in großem Umfang.

Die Beispiele ließen sich vermehren, und ständig kommen neue hinzu. Sie erweisen, wie wenig doch die Bundesrepublik bei genauerer Betrachtung in religiös-weltanschaulich Hinsicht als "Heimstatt aller Bürger" (BVerfG) angesehen werden kann.

>> Ämterhoheit; Anstaltsseelsorge; Arbeitsrecht; Besonderes Kirchgeld; Besoldung von Geistlichen; Christliche Schulpolitik; Ethikunterricht; finanzielle Vergünstigungen; Gebete; Leitprinzipien des Grundgesetzes; Kirchensteuerrecht; Kirchengut; Kirchenlohnsteuer; Staatsämter; Kreuz im Klassenzimmer; Kreuz in Amtsräumen; Kündigungsschutz; Militärseelsorge; NeutralitätReligionsförderung; Sekten; Sozialeinrichtungen; Staatsleistungen; Staatskirchenverträge; Subsidiaritätsprinzip; Theologische Fakultäten.

Literatur:

  • Czermak, Gerhard: Das Religionsverfassungsrecht im Spiegel der Tatsachen. Kritische Hinweise zum Verhältnis von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit. ZRP 2001,565-570.
  • Frerk, Carsten: Kirchenrepublik Deutschland. Christlicher Lobbyismus. Aschaffenburg 2015.
  • Frerk, Carsten: Violettbuch Kirchenfinanzen. Wie der Staat die Kirchen finanziert. Aschaffenburg 2010.
  • Haupt, Johann-Albrecht: Die Privilegien der Kirchen. In: Rosemarie Will, Die Privilegien der Kirchen und das Grundgesetz. Berlin 2011, 103 ff.
  • Neumann, Johannes: Streitfragen im Staat-Kirche-Verhältnis. "Es besteht keine Staatskirche" – oder: Papier ist geduldig. In: humanismus aktuell H. 6/ 2000,45-60.
  • Renck, Ludwig: Die unvollkommene Parität, DÖV 2002,56-67.
  • Renck, Ludwig: Zum Stand des Bekenntnisverfassungsrechts in der Bundesrepublik, BayVBl 1999,70-77 (Gegenposition: v. Campenhausen, BayVBl 1999, 65 ff.).
 


  • [1] K. Hesse, Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen, ZevKR 11 (1964/65), 337/346.
  • [2] P. v. Tiling, Die Kirche in der pluralistischen Gesellschaft, ZevKR 14 (1968/69),259-277.
  • [3] C. Frerk, Violettbuch Kirchenfinanzen, 2010, 178 ff.
  • [4] J.-B. Schrooten, Gleichheitssatz und Religionsgemeinschaften, Tübingen 2015,265 unter Hinweis auf die Bestandsaufnahme von M. Droege, Staatsleistungen an Religionsgemeinschaften im säkularen Kultur- und Sozialstaat, Berlin 2004, 30 ff.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)