Abendland

I. „Abendland“ als Stimmungsmacher
Die Rede vom Abendland oder gar christlichen Abendland ist heute in erster Linie eine vage Floskel. Sie wird gern verbunden mit der Rede vom so notwendigen demokratischen Wertekonsens, der in engem Zusammenhang stehe mit der christlich-abendländischen Tradition. Die dadurch vermittelten Werte seien „Allgemeingut“, heißt es in der umfangreichen Erklärung des Rats der EKD „Christentum und politische Kultur“ von 1997. Sie kann sich in der Tat auf die Schulentscheidungen des BVerfG von 1975 berufen. Meist wird mit solchen Thesen eine Stimmung zu erzeugen versucht, die erwünschte Schlussfolgerungen als plausibel erscheinen lässt. So wird in der genannten EKD-Erklärung im Rahmen der Erläuterung der notwendigen religiösen Neutralität des Staats diese reduziert: der Staat werde durch seine Neutralität „nicht daran gehindert, das vor allem in den Kirchen organisierte Christentum besonders zu würdigen, nachdem er doch dessen prägende Kraft durchaus bejaht“ (a.a.O. 28). Dabei gehe es um „keine grundlose Ungleichbehandlung“, hätten doch die christlichen Kirchen „zum gedeihlichen Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger unvergleichlich viel beigetragen“ (29). „Demokratienähe“ und „Toleranzgehalt des Christentums“ sowie die nachhaltige „Stärkung der Gemeinschaftsfähigkeit“ gehörten dazu. Eine „Pflicht zu blinder Neutralität“ wolle das GG daher nicht. Besonders deutlich war die Interessenvertretung, als konservative Politiker anlässlich des Kruzifix-Beschlusses des BVerfG von 1995 mit gröbster Polemik manchmal nahezu den Untergang des christlichen Abendlandes beschworen. Aber keiner der christlich-abendländischen Wortführer kann oder will deutlich machen, was denn das christliche Abendland und seine Werte konkret zum Inhalt haben sollen. Auch das BVerfG hat keine Definition geliefert, und selbst große Kommentare zum GG und kirchlich orientierte Handbücher befassen sich damit nicht. Schon daran kann man erkennen, dass die (bloße) Rede vom (christlichen) Abendland keinen Erklärungswert hat.

II. Inhaltliche Aspekte
Am meisten ist der Begriff „Abendland“, ein deutsches Spezifikum, assoziiert mit dem (christlichen) Mittelalter, bezieht aber auch die Antike mit ein und kann die gesamte Geschichte Mittel- und Westeuropas umfassen. Er setzt sich sowohl vom byzantinischen Osten wie vom Orient ab. So allgemein gesehen, bedeutet das Abendland im Übrigen die Kultur, die auf der Grundlage der Antike im Rahmen der christlich gewordenen europäischen Völker geschaffen wurde. Der eigentliche Beginn des „Abendlandes“ kann mit dem Aufstieg der Karolinger und gleichzeitig des Papsttums im 8. Jh. benannt werden. Das Bewusstsein der kulturellen Zusammengehörigkeit des A. zeigte sich erstmals mit den nicht erbaulichen Kreuzzügen und wurde durch die islamische Bedrohung verstärkt. Zu seinen Besonderheiten gehört der ständige wechselseitige Kampf der (vielfach miteinander verflochtenen) geistlichen und weltlichen Macht innerhalb der einen mittelalterlichen „res publica christiana“. Zu den    abendländischen Besonderheiten gehört ein spezifischer Rationalismus. Der Nominalismus (Erkennbarkeit nur des Einzelnen; insb. Wilhelm von Aufklärung Ockham, 1. H. des 14. Jh., gegen Platons Ideenlehre) war eine philosophische Grundlage der Entwicklung der Naturwissenschaften. Wichtig für die Rationalisierung waren auch die Universitäten, die scholastische Philosophie und Theologie, das Mönchtum, die Rezeption des römischen Rechts und Ausbildung des Kirchenrechts sowie die Entwicklung eines besonderen Stadtbürgertums. Der okzidentale Individualismus, gefördert durch die persönliche Verantwortung vor Gott, brachte auch eine kritische Intelligenz von – freilich rigoros verfolgten – religiösen Abweichlern hervor. Schließlich entwickelte sich auf dem Boden des Renaissance-Humanismus die Lehre von der individuellen Menschenwürde, die über Naturrecht und kirchenkritische Aufklärung schließlich zu den Menschenrechten im heutigen Sinn führten. Diese wurden freilich bis zum historisch zuletzt möglichen Zeitpunkt bekämpft, von der kath. Kirche mit größter Erbitterung.

III. Christentum
Zwar ist das Abendland weitgehend durch das - in sich bis zum krassen Gegensatz unterschiedliche - "Christentum" geprägt. Unbestritten gibt es typisch europäische Entwicklungen (s.o.) wie die Formulierung und Anerkennung subjektiver Grundrechte als Ergebnis Jahrhunderte dauernder blutiger Auseinandersetzungen, die schwerpunktmäßig religiös bedingt waren. Das alles ist im Guten wie Bösen, Verbindenden wie Trennenden, mit dem "Christentum" verbunden, auch die deistisch-atheistische und naturrechtlich-christliche Aufklärung, die Entwicklung einer sich von der Religion mehr und mehr lösenden Medizin und Naturwissenschaft bis zur breiten philosophischen Entwicklung weg vom persönlichen Gott. Das Kreuz, einst das Symbol des Abendlandes, war regelmäßiges Utensil der Folterkammern, gilt heute aber als Friedens- und Segenszeichen. Die „abendländische“ Geschichte beinhaltete Sklaverei und Schwertmission, Prozesse gegen Tiere (stattdessen heute: ökologische Theologie), eine 2000-jährige Judenfeindschaft bis nach dem Holocaust, heute freilich abgelöst durch eine christlich-jüdische Verständigung und breite, wenn auch gefährdete, gesellschaftliche Akzeptanz. Einst galt den Häretikern mörderische Verfolgung (herausragend: Katharer; Ustascha-Regime und serbische Orthodoxie), heute ist das weltumspannende Religionsgespräch angesagt (Stiftung „Weltethos“). Von der Bergpredigt ging die abendländische Entwicklung bis zur Inquisition, jener "totalen Sonnenfinsternis" des Christentums (Walter Nigg), heute steht aber die Bergpredigt  – zumindest theoretisch – wieder in höchsten Ehren. Dass die Existenz einer spezifisch „christlichen“ Ethik selbst von manchen Theologen mit guten Gründen bezweifelt wird, ist hier nicht näher auszuführen.

IV. Christlich-abendländische Kultur?
Die seit der ersten Regierungserklärung Adenauers im Jahr 1949 bis in die Gegenwart von konservativen Politikern ständig instrumentalisierte und auffallend floskelhafte Rede von der christlich-abendländischen Kultur entbehrt trotz der Besonderheiten der europäischen Geschichte der Grundlage. Der Historiker Rolf Bergmeier kommt nach intensiven Untersuchungen zu folgenden Ergebnissen: „So wird Europa vom griechischen Sockel heruntergestoßen und seines Gedächtnisses und seiner Seele beraubt. So werden Griechen, Römer  und Araber aus dem Prozess europäischer Kulturgenese herausgerechnet und weiten Kreisen das Verständnis für die Triebkräfte der europäischen Aufklärung verbaut, die ja nicht nur ein bestimmendes Element europäischer Geistesgeschichte gewesen ist, sondern vor allem Ankläger der Zeit.“[1]
Zunächst hat das bürgerschaftliche klassische Athen die Vernunft an die Stelle von Orakeln und Wahrsagern gesetzt. Die europäische Kultur hat drei Hauptquellen: die römisch-griechische Antike, die islamisch-arabische mittelalterliche Hochkultur und die Renaissance mit nachfolgender Aufklärung. Freilich hat das ja herrschende Christentum die Geschichte massiv geprägt und auch große Kulturleistungen hervorgebracht. Es hat die kulturelle Entwicklung teilweise gefördert, aber wesentlich stärker behindert. Der endgültige Paradigmenwechsel vom religiös toleranten antiken Polytheismus zum doktrinär-intoleranten Monotheismus (Trinitarismus) erfolgte 380/81 in Konstantinopel. Die staatliche Macht zerfiel aufs Ganze gesehen, die Kirchenmacht übernahm das Kommando. Die Stadtkultur mit vielen und auch großen Bibliotheken und Theatern, philosophischen Akademien, öffentlichen Foren, aber auch Kanalisation und Wasserversorgung brachen zusammen, ebenso das umfangreiche öffentliche Schulwesen und die breite Bildung. Die antike Bildung war der christlichen Führung anrüchig und gefährlich.

Um 500 war Westeuropa beim Analphabetismus angekommen, und das beginnende vielgepriesene Klosterschulwesen stand nur einem kleinen, von Klerikern ausgesuchten Personenkreis zur Verfügung, häufig nur bei Übertragung des Erbteils. Der vielgerühmte Bischof Isidor von Sevilla (560-636), der auch die schreckliche Judenfeindschaft des späteren (vom Arianismus zum Katholizismus gewechselten) Westgotenreichs unterstützte, untersagte das Studium antiker Schriften gänzlich und erklärte Epikur zum „Schweinephilosophen“. Im Gründungjahr des Klosters Monte Cassino, 529, wurde die Athener Akademie, an der Platon und Aristoteles gelehrt hatten, als Brutstätte heidnischer Philosophie geschlossen. Während viele Bibliotheken des 4. Jh. noch einen Bestand von vielen Tausenden Schriftrollen aufwiesen, verfügte die anerkannt große Klosterbibliothek von Reichenau 822 gerade über 450 Bücher, davon nur wenige wissenschaftlich-technische. Schätzungen zufolge haben von den Büchern des 3. Und 4. Jh. nur 1-2 Promille das 6. Und 7. Jh. erreicht.

Die Klosterschulen hatten lediglich das Ziel, Geistliche und Fürstenkinder in engen kirchlichen Bahnen auszubilden. Mit dem Latein als Lehr- und Amtssprache wurde das Volk zusätzlich von jeder Bildungsmöglichkeit ferngehalten. Als William Tyndale die Bibel ins Englische übersetzen wollte, wurde er 1535 verbrannt, was Martin Luther beinahe auch geschehen wäre.

Trotz der historischen Multikausalität beim Untergang der römisch-griechischen Antike ragen zwei Hauptursachen heraus: vorbehaltlich des Ostgotenreichs des Theoderich und einer blühenden Kultur in Gallien waren es die Germaneneinfälle, vor allem aber das Christentum (s. auch E. Gibbon und J. Burckhardt). In ihm galten Weltflucht, Kampf gegen Andersdenkende, angstmachende Höllendrohungen und Selbsterniedrigung. Die fanatische Judenfeindschaft prägte eine ganze Literaturgattung (Adversus Judaeos) und auch innerchristlich gab es fanatische Feindschaften und Verfolgungen. Das Liebesgebot der Bibel hinterließ außerhalb der „katholischen“ (siegreichen) kirchlichen Belange kaum Spuren. Tempel und Skulpturen wurden zerstört, Theater geschlossen. Dem allgemeinen Wüten fiel in Alexandria, einem Zentrum der religiösen Toleranz und Wissenschaft, auch der Serapis-Tempel zum Opfer, sowie auch die größte Bibliothek der Antike mit einem unglaublich großen Bestand an literarischen und wissenschaftlichen Schriftrollen.

Im Vergleich zwischen der islamisch-arabischen und der christlichen Kultur, die sich an den Pyrenäen etwa 500 Jahre lang unmittelbar gegenüber standen, schneidet letztere schlecht ab. Um 640 eroberten die Araber Syrien, Persien und Ägypten und vielfach wurden sie – trotz aller Gewaltanwendung – wie Befreier von der oströmischen Kirchenherrschaft begrüßt. Dier kulturellen Zentren der islamischen Kultur waren 700 Jahre lang Bagdad, Damaskus, Kairo, aber auch (nach der Einnahme Spaniens ab 711) Cordoba (sogar beleuchtete Straßen), Granada und Sevilla. Es gab zahlreiche Badehäuser, Schulen und Akademien. Das maurische mittelalterliche Spanien war unter wesentlicher Mitwirkung der (unter den katholisch-christlichen Westgoten hart verfolgten) Juden eines der wichtigsten Kulturzentren der Welt. Alexander Humboldt schrieb, die Araber hätten die Quellen der griechischen Philosophie wieder erschlossen und der Naturforschung neue Wege gewiesen. Freilich haben christliche Theologen in grober Verdrehung der Tatsachen das Bild einer unterlegenen islamisch-jüdischen Kultur gemalt. Dem widersprechen aber heute Theologen wie der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt, der die herausragende Bedeutung der mittelalterlich-islamischen Zivilisation für die Entstehung der modernen Wissenschaft anerkennt. Leider ging die überlegene islamische Kultur durch die Dominanz gewinnende orthodox-islamische Theologie im Gefolge des Persers Al-Ghazali (1058-1111) fast zugrunde.
Die sogenannten christlichen Werte, insbesondere das Gebot der Nächstenliebe, sind wie alle allgemeinen und als positiv empfundenen Werte (Toleranz, Friedensliebe, Hilfsbereitschaft, Einhaltung der Goldenen Regel usw.) in jeder Weltanschauung und Religion zu finden und prägen auch zumindest indirekt die Strafgesetzbücher. In der historisch-politischen Praxis aber wurden die individuellen Menschenrechte gegen den massiven Widerstand der Kirchen bis weit ins 20. Jh. hinein errungen. Wenn auch Christen insgesamt keine schlechteren Menschen waren und sind als Andersgläubige und –denkende und sie große soziale Leistungen erbracht haben, so kann man doch eine historisch durchgängige scharfe Judenfeindschaft, Kreuzzüge, Inquisition, Hexenverfolgung, Sklaverei, Schwertmission, Kolonialismus, Verstrickung in Nationalsozialismus und faschistische Regime nicht einfach beiseiteschieben, wenn man heute Politik mit dem Schlagwort vom christlichen Abendland macht.

Man muss es begrüßen, dass die Kirchen sich mit der Demokratie ausgesöhnt haben und sie teilweise eine ausgesprochene Stütze darstellen. Aber es lässt sich nicht ermitteln, was eigentlich die Merkmale einer positiv zu verstehenden „christlich-abendländischen Kultur“ sein sollen, wo doch die Kirchen über die Jahrhunderte die einflussreichste Kraft in Europa waren.
 
 
V. Begriffliche Entbehrlichkeit
Die Entwicklung des Abendlandes war, auch in bildender Kunst und Musik, natürlich in hohem Maß vom Christentum geprägt, aber es waren immer viele und gegensätzliche Christentümer. Der moderne demokratische Staat entwickelte sich in Europa notwendig auf dem Boden des ja herrschenden Christentums, war aber ohne die Aufklärung undenkbar. Wenn es auch, wie skizziert, Besonderheiten einer äußerst vielfältigen westlichen Entwicklung gab, so ist es doch nicht sinnvoll, im Zusammenhang mit der heutigen rechtspolitischen und gesellschaftlichen Diskussion pauschal von „den Werten“ (welchen?) „des“ (welchen?) christlichen Abendlandes zu sprechen. Der einschlägige Artikel des Staatslexikons der kath. Görres-Gesellschaft (1985/1995) endet erfreulich nüchtern mit der Feststellung, die vom Pluralismus herausgeforderte Diskussion über die „Grundwerte“ Europas könne sich nicht mehr auf das Abendland berufen. Jegliche Rechtsdiskussion mit dem bloßen Hinweis auf abendländische Werte hat nach allem tendenziell demagogischen Charakter und ist im besten Fall überflüssig.

Aufklärung; Christentum und GG; Christliche Gemeinschaftsschulen; Katholische Kirche und Moderne; Kreuz in Amtsräumen; Kreuz im Klassenzimmer; Menschenrechte; Naturrecht; Neutralität; Toleranz.

Literatur:

  • Angenendt, Arnold: Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert. Münster 2008 und ff. (zum Vergleich geeignetes Werk eines kath. Kirchenhistorikers).
  • Bergmeier, Rolf: Kaiser Konstantin und die wilden Jahre des Christentums. Die Legende vom ersten christlichen Kaiser. Aschaffenburg 2010; ders.: Schatten über Europa. Der Untergang der antiken Kultur. Aschaffenburg 2012; ders.: Christlich-abendländische Kultur. Eine Legende. Aschaffenburg 2014.
  • Czermak, Gerhard: Problemfall Religion. Ein Kompendium der Religions- und Kirchenkritik. Marburg 2014 (kompakt zur Kirchengeschichte).
  • Deschner, Karlheinz: Abermals krähte der Hahn, 1962; Neuausgabe Aschaffenburg 2015.
  • EKD-Texte 63: Christentum und politische Kultur. Über das Verhältnis des demokratischen Rechtsstaates zum Christentum. Eine Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hannover 1997.
  • Köhler, Oskar: Art. Abendland, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft I (1985/1995), Sp 1-6 sowie in der Theologischen Realenzyklopädie Bd. 1, 1977


[1] R. Bergmeier, Christlich-abendländische Kultur, 2014, 206.

Abendland, christliches

© Gerhard Czermak / ifw (2022)