Christliche Gemeinschaftsschulen

I. Traditionell christliche Schulprägung
In der alten Bundesrepublik waren die Volksschulen (Grund- und Hauptschulen/Mittelschulen) traditionell christlich ausgerichtet, und zwar überwiegend nach Bekenntnissen. (Siehe näher zur allgemeinen historischen Entwicklung „Schule und Religion“). Zusammenfassend kann man für die Bundesrepublik der Nachkriegszeit bis zu den Landschulreformen Mitte der 1960 er Jahre sagen: Die Rechtsordnung war insgesamt stark gekennzeichnet durch christlich geprägte Normen in verschiedenen Rechtsgebieten (z. B. Strafrecht, Familienrecht, auch Verwaltungsrecht; s. Klerikalismus), besonders deutlich aber im Schulwesen. Der Gedanke der religiös-weltanschaulichen Neutralität im Sinn der Gleichberechtigung der verschiedenen Religionen und nichtreligiöser Weltanschauung war trotz Art. 3 III, 4 I, 33 III GG sowie Art. 136 und 137 VII WRV i.V.m. Art. 140 GG der Rechtspraxis und Gesellschaft weitgehend fremd – und in abgemildertem Umfang ist das heute noch so.

II. Etablierung der „Christlichen Gemeinschaftsschulen“
Mitte der 1960 er Jahre war die Konfessionsschule als Regel-Volksschule (s. Regelschulproblematik) rechtlich und politisch unhaltbar geworden. In Bayern einigten sich die Landtagsfraktionen nach langwierigen Verhandlungen, insbesondere mit der katholischen Kirche und nach dem Umschwenken der SPD, auf ein gemeinsames Volksbegehren. 1968 wurde durch Volksentscheid die Verfassung geändert. Seither gibt es nur noch Volksschulen für alle Kinder. „In ihnen werden“, so heißt es in Art. 135 S. 2 BayVerf (neu) noch heute, „die Schüler nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen.“ Das war nach Entstehungsgeschichte und Text eine eindeutig auch inhaltlich christlich geprägte Gemeinschaftsschule, was es in dieser klaren Ausrichtung damals als Regelschule wohl nur noch in Rheinland-Pfalz gab. Der Vorwurf, es handele sich dabei nur um eine abgemilderte Form der Konfessionsschule, nämlich das Unding einer interkonfessionellen Konfessionsschule (für deren Ausgestaltung der Staat ja wegen seiner Neutralität keinerlei Kompetenz hat), konnte nicht ausbleiben. Die Gemeinschaftsschule, welcher Ausprägung im Detail auch immer (ungeachtet der schulrechtlichen Besonderheiten in NRW und Niedersachsen), setzte sich nahezu in ganz Westdeutschland durch, in einigen Ländern mit der nicht weiter definierten (Ausnahme: Bayern) Kennzeichnung als „christlich“. Auf die verfassungsrechtliche Besonderheit in Bremen und Berlin (umstritten für die neuen Bundesländer) sei hier nur hingewiesen.

III. Verbot christlich geprägter Regelschulen
1. Es dauerte bis Ende 1975, bis das BVerfG Verfassungsbeschwerden aus den Jahren 1968 und 1969 gegen christliche Schulen zwar formal ablehnte, dabei aber den Begriff der Christlichen Gemeinschaftsschule wegen Art. 4 GG verfassungskonform verstand. Im Gegensatz zu der Baden-Württemberg betreffenden Entscheidung war Art. 135 der Bayerischen Verfassung wegen seiner Eindeutigkeit eigentlich nicht mehr auslegbar. Daher hielt etwa Klaus Obermayer die verbale Aufrechterhaltung des Art. 135 BayVerf (1968) angesichts der Entscheidungsbegründung für erstaunlich hielt. Sie war ja nur ein „täuschendes Etikett“.[1] Das BVerfG verstand nämlich – trotz irritierender einzelner Formulierungen – das Christentum in der Christlichen Gemeinschaftsschule hauptsächlich als Bestandteil unserer Kultur und Tradition und als Unterrichtsgegenstand, nicht jedoch als Glaubensgut. Andernfalls werde gegen das GG verstoßen. Den beiden Entscheidungen ist zusammengefasst zu entnehmen, dass der Landesgesetzgeber Art. 4 und Art. 6 II GG (Religionsfreiheit und Elternrecht) ausnahmslos beachten muss. Es gehe dabei um die Werte und Normen, die, vom Christentum maßgeblich geprägt, auch weitgehend zum Gemeingut des abendländischen Kulturkreises geworden sind. Der religiös-weltanschaulich neutrale Staat dürfe nichtchristliche Minderheiten nicht diskriminieren, zumal es „um das Bestreben nach Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit“ im religiös-weltanschaulichen Bereich gehe. Daher dürften bekenntnismäßig nicht gebundene Lehrer auch bei der Stellenbesetzung nicht benachteiligt werden.

2. Diese Entscheidungen brachten an der gesellschaftlich-juristischen Oberfläche eine auffällige Ruhe zustande, obwohl doch die politisch weitgehend gewollte dezidiert christliche Prägung der Schule damit ausdrücklich untersagt war. Eine Schule, die zwar formal christlich genannt werden, aber christliches Glaubensgut außerhalb des Religionsunterrichts allenfalls darlegen, nicht jedoch propagieren durfte, war ein Etikettenschwindel.[2] Er erleichterte es insbesondere der bayerischen Schulverwaltung, unter bewusstem Verstoß gegen die bindende Entscheidung des BVerfG eine dezidiert christliche Schule zu perpetuieren (s. christliche Schulpolitik). Denn der bei normalem Verständnis völlig gegenteilige Text der Landesverfassung (Art. 135 BayVerf 1968, s. o.) blieb ja rein formal bestehen. Die Befürworter einer „neutralen“ Schule konnten sich zwar als eigentliche Sieger fühlen. Eine (im Hinblick auf die Kruzifix-Entscheidung von 1995 erneute) genaue Lektüre beider Entscheidungen zeigt aber, dass sie – zusammengelesen – doch auch Formulierungen enthalten, die auf unzureichende juristische Durchdringung schließen lassen. Während die Bayern-Entscheidung nur auf die Zulässigkeit von Kulturchristentum abstellt, spricht die Entscheidung zur baden-württembergischen Christlichen Gemeinschaftsschule von einer christlichen Orientierungsbasis und von einer nicht näher erläuterten Reduzierung von Zwangselementen auf ein bloßes Minimum. Statt von Neutralität ist von Toleranz die Rede, was allerdings einen eigenen (welchen?) Standpunkt als Basis voraussetzt. Das Christentum sei in den Profanfächern nur „in erster Linie“ in Form der Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors zu bejahen. Auch wird gesprochen von der Möglichkeit eines Ausweichens als Minderheitenschutz, nicht aber von Neutralität, die an anderer Stelle zwar gefordert wird, aber nebulös bleibt. Auch die naheliegende Problematik des Schulkreuzes bleibt unerwähnt, obwohl das Gericht einmal die Entscheidung zum Kreuz im Gerichtssaal (s. Kreuz in Amtsräumen) zitiert, in der sich das Gericht ebenfalls um Grundsatzfragen der religiös-weltanschaulichen Neutralität herumgedrückt hatte. An anderer Stelle ist dogmatisch unzutreffend von kollidierenden Grundrechten Andersdenkender (s. zu Grundrechtskollisionen unter „Grundrechtsausübung“) und von einem für alle zumutbaren Kompromiss die Rede. All das wirft die Frage auf, ob und inwieweit das BVerfG nicht doch gewisse materiell-christliche Elemente hinzunehmen bereit war. Diese entscheidende Schwäche der Entscheidungen sollte sich 1995 anlässlich des berühmten Kruzifix-Beschlusses des BVerfG rächen. Die Tendenz der Rspr. geht aber heute deutlich in Richtung strikte Neutralität. Ob und welche bleibenden Auswirkungen die insoweit abschwächende Wirkung des 2. Kopftuchurteils von 2015 hat, bleibt abzuwarten. Sie stellt sich derzeit als „Ausrutscher“ in der Absicht der Integrationsförderung dar.

IV. Unbewältigte Folgeprobleme
Die sog. Christlichen Gemeinschaftsschulen und die zugehörige Rspr. des BVerfG warfen eine Reihe von Folgeproblemen auf, die bis heute noch nicht befriedigend geklärt sind. Es geht allgemein um Fragen unzulässiger christlicher Schulpolitik sowie die in der allgemeinen Übersicht unter „Schule und Religion“ am Ende aufgezählten Einzelstichwörter. Von besonderer praktischer Bedeutung sind die Themen Beamtenrecht und Religion, Erziehungsziele, Ethikunterricht, Islamisches Kopftuch, Kreuz im Klassenzimmer.

Beamtenrecht; Bekenntnisschulen; christliche Schulpolitik; Erziehungsziele; Ethikunterricht; Grundrechtsausübung; Kopftuch; Klerikalismus; Kreuz im Klassenzimmer; Kreuz in Amtsräumen; Neutralität; Regelschulproblematik; Schule und Religion.

Literatur:

  • BVerfGE 41, 29 = NJW 1976, 947 (Christl. Gemeinschaftsschule Ba-Wü). BVerfGE 41, 65 = NJW 1976, 950 (Christl. Gemeinschaftsschule Bayern).
  • Czermak, Gerhard: Öffentliche Schule, Religion und Weltanschauung in Geschichte und Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland. Eine Rückschau unter dem Aspekt der individuellen Religionsfrgggeiheit und Neugggtralität. In: Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat. FS für Wolfgang Rüfner zum 70. Geb. (Hrsg. Stefan Muckel). Duncker & Humblot, Berlin 2003, 79-109.
  • Czermak, Gerhard: Verfassungsbruch als Erziehungsmittel? Zur schulischen Zwangsmission in Bayern. KJ 1992, 46-63 = www.kj.nomos.de/.../Czermak_S_46.pdf .
  • Huber, Herbert: Kann man ohne Religion sittlich bilden? In: Politische Studien 335 (1994), 61-75 (ein bayerisch-konservatives Gegenprogramm: Lehrer müssten den christlich-abendländischen Ideen zum Durchbruch verhelfen).
  • Loschelder, Wolfgang: Grenzen staatlicher Wertevermittlung in der Schule, in: Dem Staate, was des Staates - der Kirche was der Kirche ist. FS für Joseph Listl zum 70 Geb., Berlin 1999, 349-366 = ZBR 2001, 6-14. Dazu Info www.fachportal-paedagogik.de/.../FId=575115
  • Obermayer, Klaus: Staat und Religion, Berlin 1977, 15 f.
  • Renck, Ludwig: Kirchliche Präsenz in der christlichen Gemeinschaftsschule, BayVBl 2008, 257-260.
  • Pirson, Dietrich: Christliche Traditionen in der staatlichen Schule, BayVBl 2006, 745 ff.
  • Renck, Ludwig: Schule und religiöse Erziehungshilfe, BayVBl 2003, 134-139.
  • Renck, Ludwig: Aktuelle Probleme der christlichen Gemeinschaftsschule - dargestellt am Beispiel des bayerischen Schulrechts, KJ 1994, 488-500.
  • Renck, Ludwig: Verfassungsprobleme der christlichen Gemeinschaftsschule, NVwZ 1991, 116-120.
  • Renck, Ludwig: Staatliche Religionsneutralität und Tolerggganz – BVerfGE 35, 366 und 52, 233, in JuS 1989, 451-455.
  • Weber, Hermann: Schule, Staat und Religion, Der Staat 8 (1969), 493 ff., insb. 506 f.

  • [1] So auch L. Renck, KJ 1994, S. 492.
  • [2] So H. Weber, a.a.O. 1969.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)