Anstaltsseelsorge

Anstaltsseelsorge

I. Kritischer Überblick

Die deutschen großen Kirchen betreiben Seelsorge nicht nur in eigenen Einrichtungen, sondern auch in vielen der öffentlichen Hand. Sie soll Menschen in besonderen Lebenssituationen (insbesondere Sonderstatusverhältnissen mit starken Einschränkungen) die Glaubensausübung ermöglichen. Anstaltsseelsorge wird, ausgenommen die gesondert zu behandelnde Militärseelsorge, im Wesentlichen betrieben in Form von Krankenhaus- und Heimseelsorge, Gefängnisseelsorge und Polizeiseelsorge. Es gibt eine Fülle spezieller Seelsorgeeinrichtungen, etwa für Blinde, Gehörlose, AIDS-Kranke, Circus und Schausteller, die Notfallseelsorge, Flughafenseelsorge, Telefonseelsorge u.a. Besonders bei der Notfallseelsorge fragt man sich, wieso der Staat nicht für alle verunglückten Bürger speziell geschulte Psychologen bereitstellt, sodass die Kirchen keine Hilfemonopole erhalten. Zur Anstaltsseelsorge gibt es eine große Zahl von vertraglichen Vereinbarungen, z. T. auch Regelungen in Bundesgesetzen. Auch die meisten Landesverfassungen garantieren die Anstaltsseelsorge und verweisen dazu entweder auf das GG oder enthalten Modifizierungen. Nach wie vor gilt Art. 141 WRV/140 GG: "Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten besteht, sind die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen, wobei jeder Zwang fernzuhalten ist." Eine öffentliche Aufgabe wird damit nicht begründet. Auch von staatlicher Finanzierung ist in Art. 141 WRV nicht die Rede. Die Einrichtungen sind zu hinterfragen nach den Gesichtspunkten der Einrichtungsträger, Staatskompetenz, staatlichen Finanzierung, Neutralität (Nichtidentifikation), Trennung von Staat und Kirche. Die Einzelgestaltungen sind sehr vielfältig.

Auf vertraglicher Grundlage führen öffentliche Träger im Einvernehmen mit den großen Kirchen Anstaltsseelsorge z. T. auch selbst durch, was wegen der religiösen Inkompetenz des Staats, Art. 141 WRV ("zuzulassen") und des Trennungsgebots (Art. 137 I WRV) unzulässig ist. Art. 141 WRV ermächtigt nicht zu staatlicher Seelsorge. Soweit einvernehmlich Anstaltsseelsorger bestellt werden (teilweise sogar mit Beamtenstatus), widerspricht das dem Art. 137 III 2 WRV, wonach die Besetzung kirchlicher Ämter den Staat nichts angeht. Ebenso rechtswidrig sind Regelungen bezüglich der Kostenübernahme durch den Staat, wenn sie nicht gegenüber anderen Seelsorgeträgern neutral sind. Denn die religionsinterne Betreuung wird ja auch von den Steuergeldern der Andersgläubigen oder der sonst andersdenkenden Bürger finanziert. Die Behauptung, das GG setze nur Mindeststandards und keine Obergrenze, ist eine unbegründete Missachtung der Verfassung.

II. Polizeiseelsorge

Die Polizeiseelsorge gibt es hauptsächlich in den Ländern, aber auch im Bund. Sie ist flächendeckend und betrifft vor allem die kasernierte Polizei und Polizeischulen, aber auch Einzeldienste. Sie ist in Staat-Kirche-Verträgen sowie Verwaltungsvorschriften geregelt. Träger der Polizeiseelsorge sind die evangelischen Landeskirchen und die katholischen Diözesen. Andere Religions- oder Weltanschauungsgesellschaften sind bisher nicht beteiligt. In Bayern finanziert der Staat derzeit vier hauptamtliche von ihm ernannte katholische bzw. evangelische Seelsorger. Die übrigen 16 Seelsorger werden von den Kirchen gestellt. Nordrhein-Westfalen zahlt eine jährliche Gesamtpauschale. In manchen Bundesländern ist der Staat unzulässigerweise vertraglich berechtigt, an der Ernennung der Polizeiseelsorger mitzuwirken.

Zur praktischen Arbeit gehören Gottesdienste, religiöse Vorträge und Arbeitskreise, Reden bei repräsentativen Anlässen, Einzel- und Gruppengespräche, Unterstützung bei Einsätzen, aber auch Angebote von Tagungen, Exerzitien, Rüstzeiten, Wallfahrten, Bergmessen sowie Veranstaltungen mit Freizeitwert wie Familienfreizeiten. So hat die weltanschaulich offene Polizeiseelsorge in Südbayern 2021 eine spirituelle Fahrradtour von Bregenz zum Comer See durchgeführt.

Zum Zweck der Polizeiseelsorge heißt es im Handbuch des Staatskirchenrechts (1995): "Die Polizeiseelsorge dient aus der Sicht des Staates dem Zweck, den Polizisten die Ausübung des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu erleichtern und dem Polizeidienst die Werte einer im religiösen Glauben wurzelnden Berufsauffassung nutzbar zu machen."[1] Das ergibt sich auch aus dem Gegenstand der Polizeiseelsorge im Einzelnen . Die enge Zusammenarbeit von Staat und Kirchen ist in der Neuauflage 2020 des Handbuchs des Staatskirchenrechts (HSKR) näher beschrieben. Dort heißt es u. a.: "Der Staat fördert die kirchliche Arbeit, indem er den Seelsorgern Zugang zum Polizeidienst gewährt, ihnen Räume und andere Sachmittel überlässt, Zugang zu Datennetzen gewährt, sie über dienstliche und private Verhältnisse der Polizisten informiert und umgekehrt diese auf das seelsorgerische Angebot hinweist."[2] Für die Teilnahme an Exerzitien, kirchlichen Tagungen, Rüstzeiten usw. wird bezahlter Sonderurlaub gegeben, und manche Länder geben auch Zuschüsse zu Reise- und Tagungskosten.

Der an den Polizeischulen und Bereitschaftsabteilungen gegebene "Berufsethische Unterricht" ist wie der "Lebenskundliche Unterricht" der Bundeswehr ein staatlicher Pflichtunterricht. Im Webauftritt der bayerischen Polizeiseelsorge heißt es z. B., in diesem Unterricht gehe es "um die Anwendung von Macht und Gewalt, Befehl und Gehorsam, Verantwortung und Gewissen. Die Themen Sterben, Tod, Trauer, Menschenwürde, Gerechtigkeit und Fragen des Selbstverständnisses der Polizei sind Bestandteil des Unterrichts." Das ist sicher nicht zu beanstanden, sondern sehr wichtig. Mehr als fragwürdig ist aber, dass der für angehende Polizisten aller Religionen und Weltanschauungen erteilte Pflichtunterricht in der Regel von kirchlichen Polizeiseelsorgern erteilt wird, deren sich der Staat für seine Zwecke bedient. Das verstößt gegen das Neutralitäts- und das Trennungsgebot.

III. Sonstige Seelsorge

Hierzu erfolgen nur einige Hinweise. Krankenhausseelsorge gibt es heute auch für jüdische und muslimische Patienten. Einen Rechtsanspruch auf Zutritt haben nur Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften oder als solche geltende. Im Rahmen des Strafvollzugs können bei Wahrung des Anstaltszwecks auch religiöse Handlungen vorgenommen werden. Religiöse und weltanschauliche Ansprüche der Gefangenen sind in den Strafvollzugsgesetzen des Bundes und der Länder geregelt. Diese behandeln Seelsorger als eigene Berufsgruppe des Vollzugsdienstes.

IV. Schlussbemerkung

Heute, da sich die Zahl der Nichtreligiösen in Deutschland der 50%-Marke nähert und die der Mitglieder der großen Kirchen selbst formal schon unter die 50%-Marke gesunken ist, stellt sich verstärkt die Frage nach der Berechtigung der Anstaltsseelsorge. Soweit mit ihr staatliche Zwecke verbunden werden, ist das rechtswidrig. Es müsste ein weltanschaulich neutraler staatliche Dienst eingerichtet werden, dessen Kern aus professionellen Therapeuten besteht, die auch bei öffentlichen säkularen Trauerfeiern eingesetzt werden. Eine religiös-weltanschauliche "Seelsorge" ist stets ein zusätzlich garantiertes staatliches Angebot an die diversen Gemeinschaften.

 


  • [1] HdbStKirchR Bd.2, 2. A. 1995 S. 986.
  • [2] HSKR 3. A. 2020, § 55 Polizeiseelsorge, Rn.14, S. 2339.

Ämterhoheit; Militär und Religion; Militärseelsorge; Neutralität; Religionsförderung; Trennungsgebot; Staatskirchenverträge.

Literatur

  • Dreier, Horst (Hg.), GG Bd. III, 3. A. 2018, zu Art. 141 WRV.
  • Handbuch des Staatskirchenrechts (HSKR), 3. A. 2020, (§ 55, Polizeiseelsorge, S. 2329-2341; § 56, Krankenhausseelsorge, Seelsorge im Strafvollzug und anderen Anstalten, S. 2343-2371)

    Anstaltseelsorge

    © Gerhard Czermak / ifw (2017/2023)