Staatskirchenverträge

I. Deutsche Besonderheit

Derartige oft umfangreiche Verträge haben in der Bundesrepublik schon wegen ihrer großen Zahl rechtspolitisch eine herausgehobene Bedeutung. Mit keinen anderen wichtigen gesellschaftlichen Organisationen trifft der Staat solche Vereinbarungen, oft in feierlicher Form, und weit überwiegend mit den großen christlichen Kirchen. Auch mit den Israelitischen Kultusgemeinden wurde mittlerweile eine Serie von Verträgen geschlossen, und neuestens sind Verträge mit islamischen Verbänden hinzugetreten. Alexander Hollerbach, einer der Meinungsführer des überkommenen "Staatskirchenrechts" (s. zur Begriffskritik unter Weltanschauungsfreiheit) hat die im Grundsatz noch heute faktisch unveränderte Situation wie folgt beschrieben: "Das staatskirchenrechtliche System des Grundgesetzes ist ein den Vertrag als Gestaltungsmittel bevorzugendes System sachlich begrenzter Kooperation..."[1].

Dieses System weist eine weltweit einzigartige Dichte auf, wurde rasch auf die neuen Bundesländer erstreckt und sogar die allerletzten Lücken in den staatlicherseits hauptsächlich zuständigen 16 Bundesländern wurden nunmehr so gut wie vollständig geschlossen. Aus der Fülle der Regelungsgegenstände seien beispielhaft genannt: Anstaltsseelsorge; Militärseelsorge; Theologische Fakultäten; Besoldung von Geistlichen; Religionsunterricht; Kirchensteuer; Treueid; Staatsleistungen; Religionsförderung; Soziale Einrichtungen; Denkmalschutz; Rundfunk. Es geht aber auch um die Ausbildung und Bestellung von Geistlichen, die Neubildung und Grenzziehung von Diözesen, Landeskirchen und Kirchengemeinden, um die Ernennung kirchlicher Beauftragter, die Dotation von Bischöfen und anderen Würdenträgern, kirchliche Privatschulen, kirchliche Friedhöfe, Meldewesen, Gebührenbefreiungen usw. usf.

II. Terminologie und Vertragspartner

Zusammenfassend spricht man bisher gern von "Vertragsstaatskirchenrecht". Ansonsten wird unterschieden zwischen Vertragswerken mit dem "Heiligen Stuhl", die bei größerem Umfang Konkordate genannt werden, und auf evangelischer Seite spricht man von Kirchenverträgen oder evangelischen Kirchenverträgen. Neuerdings werden Konkordate z. T. auch als katholische Kirchenverträge bezeichnet. Verträge mit kleinerer Regelungsmaterie, etwa mit Bistümern, und Abmachungen ohne parlamentarische Beteiligung tragen verschiedene Bezeichnungen. So gibt es Vereinbarungen, Gestellungsverträge, einvernehmliche Interpretationen, gemeinsame Erklärungen. Vertragspartner sind in der Regel einerseits die Länder (ausnahmsweise der Bund), andererseits der Heilige Stuhl bzw. die Diözesen und die evangelischen Landeskirchen, ausnahmsweise die EKD. Die wichtigeren (und feierlich abgeschlossenen) Verträge (Konkordate regelmäßig ohne Kündigungsklausel) werden anschließend durch Parlamentsbeschluss als staatliches Gesetzesrecht übernommen ("transformiert"). Die anderen Vereinbarungen werden auf Verwaltungsebene geschlossen.

III. Historische Hinweise

Verträge zwischen Staat und katholischer Kirche haben eine lange Tradition. Erster historisch gewichtiger Vertrag war das Wormser Konkordat von 1122, mit dem der Investiturstreit über die Frage der Bischofsernennungen beendet wurde. Im 19. Jh. war einziges deutsches Konkordat das bayerische von 1817, das die katholische Kirche massiv privilegierte (z. B. gesetzlicher Vorrang des Konkordatsrechts, subsidiäre Geltung des Kirchenrechts). Es stand freilich im Widerspruch zum Religionsedikt von 1818, so dass es in seiner Wirkung reichlich unklar blieb. Nach dem Ende der Monarchie 1918 ergab sich erstmals auch für die evangelischen Landeskirchen die Möglichkeit von Vertragsschlüssen. Modellcharakter hatte das von Nuntius Pacelli energisch angestrebte Bayernkonkordat von 1924, das als damals einziges auch Schulfragen regelte.[2] Es stellte laut dem bekannten Kirchenhistoriker Klaus Scholder "das günstigste Ergebnis dar, das zwischen der katholischen Kirche und einem modernen liberalen Staat je ausgehandelt wurde". Ihm und den weiteren Konkordaten mit Preußen (1929) und Baden (1932) folgten dort aus Paritätsgründen 1924, 1931 und 1932 jeweils evangelische Kirchenverträge. Erhebliche Bedeutung erhielten die Lateranverträge von 1929 mit dem faschistischen Italien und auch für die Zeit nach 1949 das Reichskonkordat von 1933 (s. zur Konkordatsfrage allgemein unter Konkordate).

IV. Nachkriegsentwicklung

Bahnbrechend und modellhaft für die deutsche, ohnehin kirchenorientierte, Entwicklung ab 1949 war der umfassende Loccumer Vertrag von 1955 zwischen dem Land Niedersachsen und den dortigen evangelischen Landeskirchen.[3] Er war in dieser Form nur im geistigen Umfeld des Adenauer-Staats möglich (s. Klerikalismus) und steht in einem erheblichen Spannungsverhältnis zur Neutralität und zur Trennung von Staat und Religion. Seit dieser Zeit wurde in den Verträgen die gemeinsame Verantwortung von Kirche und Staat und das spezielle freundschaftliche Verhältnis beider beschworen. Noch nie wurden die zahllosen kirchengünstigen Einzelheiten der Vertragssysteme[4] im Detail kritisch untersucht. Aber Hermann Weber, bekannter Religionsverfassungsrechtler, schrieb schon 1970: "Jedenfalls finden sich kaum irgendwo anders so viele verfassungsrechtlich anfechtbare Bestimmungen wie in den Kirchenverträgen."[5]

V. Epoche nach 1990

Eine ungeahnte neue Epoche des Vertragsrechts war Folge der Wiedervereinigung. Dabei stieß die Nähe zwischen Staat und Kirche in den stark entchristlichten neuen Bundesländern kirchlicherseits zunächst auf großen Widerstand. Aber die westliche Sicht konnte sich durchsetzen, zumal die ersten freien Wahlen vier konservative Landesregierungen hervorbrachten. Trotz der enormen Probleme dieser Länder waren schon 1994 in diesen vier Ländern mit Hilfe westlicher juristischer Berater umfangreiche evangelische Kirchenverträge nach überwiegend westlichem Muster geschlossen. Mittlerweile gibt es in allen neuen Bundesländern ein lückenloses Netz vertraglicher Regelungen, und zwar trotz der teilweise extremen katholischen Minderheitensituation auch mit dem sog. Heiligen Stuhl. Auch die letzten westlichen Länder (Hamburg, Baden-Württemberg) schlossen, trotz substantieller Kritik, die Verztragslücken.

VI. Rechtsnatur der Verträge und Verfahren

Zu diesem rechtspolitisch wichtigen Kapitel werden die unterschiedlichsten juristischen Ansichten vertreten. Verträgen mit dem sog. Heiligen Stuhl (obwohl kein Staat, sondern oberstes kirchliches Leitungsamt) wird auf Grund einer völkerrechtlichen Anomalie vielfach der Charakter von Völkerrecht oder Quasi-Völkerrecht zugesprochen. Die anderen Verträge sollen weder dem staatlichen, noch dem Völkerrecht oder supranationalen Recht (Beispiel: Europarecht) angehören, sondern einer sonst nicht existierenden neuartigen Rechtsebene, weshalb auch von Verträgen "sui generis" (eigener Art) gesprochen wird. Sinn der Konstruktionen ist es, den Verträgen eine besonders hohe Bestandsfestigkeit zu Gunsten der Kirchen zu garantieren.

Die Verträge werden i. d. R. von den staatlichen und kirchlichen Verwaltungen geheim ausgehandelt und textlich festgelegt. Anschließend werden sie regelmäßig ohne Möglichkeit der Veränderung dem jeweiligen Landesparlament vorgelegt, das dann ohne Diskussion durch förmliches Gesetz den Vertrag als Landesgesetz übernimmt, d. h ihn in Landesrecht "transformiert". Landesgesetze müssen zwar (theoretisch) in jedem Punkt der Landesverfassung und vorrangig dem GG entsprechen, aber Verstöße dagegen können vom einzelnen Bürger mangels persönlicher unmittelbarer Betroffenheit nicht erfolgreich bei Gericht durchgesetzt werden (s. Rechtsschutz). Auf die zahlreichen Verstöße gegen die Trennung von Staat und Religion und gegen die religiös-weltanschauliche Neutralität kann hier nicht eingegangen werden; siehe dazu aber die Hinweise bei den Stichworten zu den jeweiligen Materien. Die Doppelnatur der Verträge (Vertragsebene und staatliche Ebene) ist ein erhebliches rechtspolitisches Druckmittel, denn der Gesetzgeber kann zwar das Vertragsgesetz jederzeit ändern, setzt sich dann aber dem Vorwurf der Vertragsbrüchigkeit aus. Zur Rechtsnatur der Verträge selbst habe ich mich an anderer Stelle eingehend geäußert. Nach zutreffender Ansicht handelt es sich um nichts Anderes als normale verwaltungsrechtliche Verträge, wie sie in den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder und des Bundes detailliert geregelt sind (s. Literaturhinweise).

VII. Unnötigkeit der Verträge

Trotz der vielfältigen Berührungspunkte von staatlichem und kirchlichem Handeln sind Kirchenverträge und Konkordate weitgehend unnötig, da die meisten Belange aller religiös-weltanschaulichen Gemeinschaften auch durch Gesetze gewahrt werden können, die im normalen und kontroversen parlamentarischen Verfahren zustande kommen. Soweit Staat-Kirche Vereinbarungen unumgänglich sind wie beim Religionsunterricht und der Militär- und Anstaltsseelsorge, kann das auch in Form ganz normaler öffentlich-rechtlicher Verträge staatlichen Rechts erfolgen, die nicht vom Grundsatz "im Zweifel für die Kirche" getragen, sondern strikt am GG orientiert sind. Die einschlägigen Vorschriften der Verwaltungsverfahrensgesetze[6] erfordern dabei eine genauere Prüfung und sind im Übrigen ggf. kündbar. Das bisherige System mit seiner Außensteuerung der Parlamente und der beabsichtigten langfristigen Bindung verstößt gegen den parlamentarischen Geist und privilegiert die großen Kirchen zusätzlich. Die gegen das System (angeblich) überstaatlicher Verträge vorgetragene Fundamentalkritik wird bisher in Recht und Politik wohlweislich fast durchwegs ignoriert.

>> Ämterhoheit; Anstaltsseelsorge; Besoldung von Geistlichen; Kirchensteuerrecht; Klerikalismus; Konkordate; Medien; Militärseelsorge; Neutralität; Religionsförderung; Weltanschauungsfreiheit; Religionsunterricht; Staatsleistungen; Sozialeinrichtungen; Theologische Fakultäten; Trennungsgebot; Vatikan.

Literatur:

  • Czermak, Gerhard: Rechtsnatur und Legitimation der Verträge zwischen Staat und Religionsg.emeinschaften, Der Staat 2000, 69-85 (juristische und rechtspolitische Grundsatzkritik) = yumpu.com/vertraege
  • Czermak, Gerhard: Religions- und Weltanschauungs.recht, 2. A. 2017, § 14
  • Ehlers, Dirk: Problemstellungen des Vertragsstaatskirchenrechts, ZevKR 2001, 286 ff.
  • Jeand’Heur/ Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, 2000, S. 189-199.
  • Listl, Joseph: Die Kon.kordate und Kirch.enverträge in der Bundesrepublik Deutschland, 2 Bde., Berlin 1987 (Textausgabe).
  • Pirson, Dietrich: EvStL, 3. A. 1987, Sp.3814-3827, Art. "Vertragsstaatskirchenrecht" (solide Einführung).
  • Renck, Ludwig: Der sogenannte Rang der Kirchen.verträge, DÖV 1997, 929-938 (jurist. Fundamentalkritik).
  • Wengenroth, David: Die Rechtsnatur der Staatskirchen.verträge und ihr Rang im staatlichen Recht. Berlin 2001, 325 S.

  • [1] A. Hollerbach, HStR Bd. 6, 1989, § 138 Rn 138.
  • [4] Nach dem Stand von 1987 waren es für die alten Bundesländer in der Textdokumentation von Joseph Listl über 1500 Seiten.
  • [5] H. Weber, Grundprobleme des Staatskirchenrechts, Bad Homburg 1970, 47 ff./51.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)