Missbrauchsskandal: Weitere Strafanzeige bei der katholischen Kirche in Rottenburg-Stuttgart

Bei der Staatsanwaltschaft Tübingen haben am 5. Dezember 2018 die Strafrechtsprofessoren Dieter RössnerRolf Dietrich HerzbergEric HilgendorfReinhard MerkelUlfrid Neumann und Holm Putzke mit dem Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) ihre Strafanzeige vom 26. Oktober 2018 (Az.: 47 UJs 3454/18) ergänzt. Es waren neue Tatverdachtsgründe durch eigene Angaben von Bischof Fürst und Weihbischof Karrer von der Diözese Rottenburg-Stuttgart im Schwäbischen Tagblatt und im SWR-Fernsehen aufgekommen. Am 7. Dezember 2018 wurde die ergänzte Strafanzeige auf der ifw-Webseite veröffentlicht.

Die sechs Strafrechtsprofessoren und das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) sahen sich zu dieser weiteren Anzeige veranlasst, da die Staatsanwaltschaft auf eine frühere Presseanfrage laut SWR erklärt hatte, dass die MHG-Studie ("Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz" vom 24. September 2018) nicht ausreichend sei, um Ermittlungen einzuleiten.

Zudem hatte Bischof Gebhard Fürst von der Diözese Rottenburg-Stuttgart in einem Zeitungsartikel in scharfer Form gegen die Anzeige reagiert, es gäbe keine vertuschten Fälle und "wir haben eng mit der Staatsanwaltschaft kooperiert". In demselben Zeitungsartikel belastete der Bischof sich und seine Diözese (vermutlich unbeabsichtigt) jedoch mit neuen Tatverdachtsgründen, als er sein Nicht-Handeln mit Opferschutz begründete.

"Eine ganze Reihe von Opfern, so Bischof Fürst, habe allerdings die KsM ["Kommission sexueller Missbrauch", Anm. der Verf.] gebeten, nicht die Staatsanwaltschaft einzuschalten, meist aus Angst vor Retraumatisierung."

Die Strafrechtsprofessoren schreiben in der Anzeige: "Selbstverständlich stehen den traumatisierten Opfern die Fürsorgepflichten im Verfahren zu. Bei aller Rücksichtnahme auf die Leiden der Opfer hat das Strafrecht bei Offizialdelikten neben der Ermittlung und Verurteilung eines Schuldigen die ebenso wichtige Aufgabe, im Interesse der potentiellen Opfer und der Gemeinschaft präventiv zu wirken und die Verbotsnorm in der Gesamtgesellschaft zu verdeutlichen."

Es kam hinzu, dass in der SWR-Fernsehsendung "Zur Sache Baden-Württemberg. Missbrauch in der Katholischen Kirche" vom 29. November 2018 Matthäus Karrer in seiner Funktion als Weihbischof und damit als hochrangiger Vertreter der Diözese Rottenburg-Stuttgart als Studiogast interviewt wurde. SWR-Moderator Clemens Bratzler zeigte live im Studio, dass sogar mehr als zwei Monate nach Veröffentlichung der Missbrauchsstudie und über einen Monat nach Einreichung der Strafanzeige schon allein mit den Mitteln einer journalistischen Interviewtechnik mit klaren und konkreten Nachfragen Hinweise auf neue Tatverdachtsgründe zu erlangen sind. Das ifw hat in der Strafanzeige die entsprechenden Passagen der SWR-Sendung transkribiert. Der hochrangige Kirchenfunktionär hat gesagt:

Ab Min. 10:18: "Öffentlich gemacht sind diese Fälle, die im Endeffekt bereits bei der Staatsanwaltschaft angelandet sind. Von den 72, die Sie gerade vorher beschrieben haben, sind 10 Fälle von Anfang an bei der Staatsanwaltschaft angezeigt worden … gerade heute Morgen sind weitere 22 Fälle der Lebenden – das muss man jetzt hier klar formulieren – der Staatsanwaltschaft Tübingen übergeben worden."

Ab Min. 11:58: "Also die Missbrauchsstudie hat drei große Säulen ...und diese zusammengesehen haben dann deutlich dazu geführt, dass diese 72, und in der letzten Zeit sind weitere Fälle auf den Tisch gekommen, nun aktenkundig sind."

Ab Min 15:42: "…so wurde es mir von unserem Ermittlungsrichter heute noch einmal bestätigt … wir hätten die Opfer unterstützen müssen, diesen Schritt zur Staatsanwaltschaft zu wagen … das hätte uns heute einiges erspart an Kritik. Da hat man sich dann eher schnell auch von den Opfern mit einen Weg gehen lassen, und ich möchte jetzt hier nicht auch die Opfer instrumentalisieren, dass sie in dieser Weise die Schuldigen sind. Ich glaube, hier haben wir auch nicht sofort konsequent gehandelt."

Ferner sagt Karrer, dass ihm bekannt sei, dass Täter intern versetzt (ab Min. 18:17) wurden, dass die Diözese die "Institution geschützt und die Opfer geschädigt" (ab Min. 18:42) habe und sie "systemisches Versagen" (ab Min. 18:34) festgestellt hätten.

In der Anzeige heißt es: Nach diesen klaren Aussagen und weiteren Hinweisen steht fest, dass "eine ganze Reihe" von Fällen des sexuellen Missbrauchs nach § 176 ff. StGB in der Diözese Rottenburg-Stuttgart bewusst nicht der staatlichen Strafverfolgung zugeführt worden sind. Mit dem Hinweis auf die Traumatisierung der Opfer als Grund für die Geheimhaltung besteht darüber hinaus der gesteigerte Verdacht, dass es sich um Fälle von besonderer Schwere handelt. Mit den Maßstäben eines rechtsstaatlichen Strafrechts zur Verfolgung und Verhütung gerade von Straftaten, die zu erheblichen und nicht wiedergutzumachenden (psychischen Verletzungen) führen, ist die mit dieser Argumentation zwangsläufig verknüpfte Deckung und Begünstigung schwerer Kriminalität und deren Täter nicht zu vereinbaren. Im vorliegenden Fall sind vielfältige im Ermittlungsverfahren zulässige und im Rahmen der Ermittlungspflicht gebotene (Zwangs-)Möglichkeiten vorhanden, das Geschehen aufzuklären und den noch unbekannten Tatverdächtigen festzustellen. Die dafür notwendigen Beweismittel sind aufgrund der Angaben der Leitung der Diözese offenkundig und können entsprechend beschafft werden. Die Beweismittel zur Feststellung der Straftaten aus den Jahren 2002 bis 2018 befinden sich – wenn man die Angaben der Vertreter der Diözese zugrunde legt – zumindest an drei Stellen, die in der Strafanzeige konkretisiert werden.

Das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) stellt mit Blick auf das Gesamtbild fest: So wie sich die jüngste Entwicklung in Baden-Württemberg darstellt, dürfte sich das Wort vom "systemischen Versagen" (Weihbischof im SWR) bei den Missbrauchsfällen nicht nur auf die Kirche beziehen, sondern die Justiz einschließen. Es ist überfällig, dass der Staat mit den gebotenen Mitteln der Strafverfolgung auch bei der katholischen Kirche handelt.

Hier ist die Ergänzung der Strafanzeige (Az.: 47 UJs 3454/18) abrufbar, die bei der Staatsanwaltschaft Tübingen am 5. Dezember 2018 eingereicht wurde: