Rezension zu Michael Kühnlein (Hrsg.): Gottloser Staat? Im interdisziplinären Gespräch mit Horst Dreier

Rezension von Gerhard Czermak

Kühnlein hat einen besonders für Juristen interessanten Sammelband vorgelegt, der insgesamt eine Hommage für den Würzburger Staatsrechtler Horst Dreier darstellt. Anlass war das breit rezipierte Buch Dreiers "Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne", das 2018 erschienen ist. Es hat große Aufmerksamkeit und zu Recht viel Zuspruch gefunden.

Kühnlein hat nun den geglückten Versuch unternommen, auch viele prominente Autoren vor allem aus Jurisprudenz und Theologie zu Stellungnahmen zu veranlassen und dabei auch Dreier gebührend zu Wort kommen zu lassen. Dreier erfährt in dem Band viel Zustimmung. Aber gerade auch die seltene Kritik bietet interessante Hinweise für die Notwendigkeit, ein zutreffendes Verständnis für die Forderung nach verfassungsgemäßem Verhalten aller staatlichen Organe gegenüber religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen zu vermitteln. Fragen der Neutralitätsproblematik bilden auch in diesem Buch den Hauptschwerpunkt.

In seinen einleitenden Ausführungen betont Dreier die Erkenntnis auch des Bundesverfassungsgerichts, die Wahrung der Neutralität in Glaubens- und Weltanschauungsfragen sei eine Voraussetzung der friedlichen Koexistenz im pluralistischen Staat, und das sei heute wichtiger denn je. Wolfgang Schäuble stellt die "Gretchenfrage des 21. Jahrhunderts": "Was für eine Neutralität wollen wir für unseren Staat?" Dazu formuliert er in krassem Widerspruch zu Dreier den irritierenden Satz: "Warum sollten Bayern und Berlin nicht unterschiedliche Vorstellungen von religiös-weltanschaulicher Neutralität pflegen?" (S. 31). Der nächste und Dreier am meisten widersprechende Text ist der von Christian Hillgruber, der schon im Titel von der "begrenzten" weltanschaulich-religiösen Neutralität spricht. Der Staat dürfe durchaus die Nähe zu bestimmten Religionsgemeinschaften suchen, sie dürfe ihren Grund nur nicht in den speziellen Glaubensüberzeugungen haben (S. 47). Ein allgemeines Prinzip der Nichtidentifikation lehnt Hillgruber ab und gesteht dem Staat zu, sich sinnfälliger Symbole zu bedienen "und dabei auch religiös zu positionieren". Er könne das aber auch unterlassen. Wörtlich: "Die Religionsfreiheit verbietet dem Staat lediglich, Glaubenszwang auszuüben, d. h. das individuelle religiöse Gewissen zu vergewaltigen und selbst zu missionieren" (S. 47 f). Bei Fördermaßnahmen dürfe der Staat, entgegen Dreier, nach säkularen Nützlichkeitserwägungen und dem Maß der Verfassungskompatibilität differenzieren (49 f). Das Kreuz in der Schule sei nicht neutralitätswidrig, sondern diene der nachhaltigen Pflege seiner Verfassungsvoraussetzungen als Bestandteil staatlicher Erinnerungskultur und werde so dem Gott der Präambel des GG gerecht (52 f).

Demgegenüber preist der Aufsatz von Thomas Gutmann Dreiers Buch und stellt dessen Überzeugung heraus, das Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität sei die "Sinnmitte der rechten Verortung der Religion" im pluralistischen Staat (58). Hauptsächlich wird die Frage der neutralen Normbegründung rechts- und demokratietheoretisch untersucht (Stichworte: Kelsen, Deliberalismus), die wohl praktischer Erläuterung bedurft hätte. Ob der an Dreier adressierte leichte Vorwurf, er betone das voluntaristische Element der Demokratie zu sehr (etwa mit der Aussage, verfassungsrechtlich schulde der Gesetzgeber nichts als das Gesetz selbst), wirklich berechtigt ist, kann man bezweifeln. Besonders intensiv und kontrovers zu Dreier beschäftigt sich Ulfried Neumann mit der Frage, ob bei der Gesetzgebung Begründbarkeitsneutralität genügt oder ob Begründungsneutralität zu fordern ist. Darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden, denn Neumann sagt ausdrücklich, es gehe ihm nicht um eine verfassungsrechtliche Forderung, sondern um demokratie- und argumentationstheoretische Prämissen (84). Unter dieser Voraussetzung dürfte aber kein großer Widerspruch zu Dreier bestehen. Zwar sind Abgeordnete Inhaber eines staatlichen Amtes und als solche auch zur Neutralität verpflichtet. Aber zum einen ist deren konkreter Inhalt oft sehr umstritten und zum anderen ist die Berufung auf ein nur persönliches Gewissen ohne Rücksicht auf die amtliche Position nur unter ganz besonderen Umständen rechtlich sanktioniert und könnte auch ganz unterbleiben.1 Der Rechts- und Sozialtheoretiker Peter Koller vermisst bei Dreier eine tiefergehende sozialtheoretische Begründung des Neutralitätsgrundsatzes. Er unterstreicht die Prägung des freiheitlichen modernen Verfassungsstaats durch Rationalität. Im Rahmen der Erörterung der Umsetzung der Neutralität erörtert er lesenswert die Spannung zwischen strikter, egalitärer Neutralität und der Zulässigkeit oder ggf. Notwendigkeit einer differierenden Behandlung von religiös-weltanschaulichen Gemeinschaften (96 f.), wozu sich Dreier in seiner Gesamterwiderung klärend äußert (232 f).

Auch der von Nichtjuristen eingebrachte Teil der Publikation enthält allgemein lesenswerte Texte. Der Theologe Rochus Leonhardt befasst sich mit den Fragen des gesellschaftlichen Grundkonsenses. Erfreulich ist der Beitrag des Theologen Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter des Rats der EKD. Eingangs geht er etwas salopp mit den Themen Kreuz auf der Kuppel des Berliner Schlosses und Kreuzerlass bezüglich bayerischer Behörden um, kritisiert aber Letzteres als Verstoß gegen die deutsche Religionskultur um eines politischen Effekts willen (160). Dreiers Buch sei "hochwillkommen" (162), obwohl es eigentlich nur darlege, "was als selbstverständlich gelten sollte" (161). Kirchenvertreter und Theologen sollten für die liberale Religionsordnung des Grundgesetzes eintreten. Das Neutralitätsgebot dürfe aber nicht aus dem Staatlichen ins Gesellschaftliche hinüberschleichen durch ängstliche Verdrängung religiöser Themen (164). Claussen empfiehlt das Buch jedem Bürger. Wolfgang Thierses Position zu Dreiers Buch hingegen ist nicht recht erkennbar. Er betont, es komme wesentlich auf die Menschen an, die sich in Weltanschauungs- und Religionsfragen nicht neutral verhalten. Diese "Bürger mit ihrem Gottesglauben oder Unglauben sind es, die den Staat machen!" 156). Thierse sagt aber auch: "Der neutrale Staat darf in seiner Praxis nicht religiöse Symbole in der Öffentlichkeit schlechter stellen als nichtreligiöse. Ja, er sollte nicht einmal das Fehlen religiöser Symbole privilegieren" (156). Der Autor befürchtet "institutionelle Bilderstürmerei", scheint aber mit Neutralität im Sinn von Dreier nichts anfangen zu können. Ein ganz anderes Fass macht die – wie Thierse katholische – Dogmatikprofessorin Johanna Rahner auf, die zur staatsphilosophischen Grundsatzfrage der Legitimität staatlicher Herrschaft die vielkritisierte Rede Benedikts XVI. im deutschen Bundestag aus dem Jahr 2011 analysiert und einer vernichtenden Kritik unter Einbeziehung der geistig-theologischen Hintergründe unterzieht (167 ff). Sie konstatiert ein tiefsitzendes Problem der katholischen Kirche mit der liberalen Demokratie im pluralistischen Staat, aber eine Lösung sieht sie derzeit noch nicht. Man erkenne die Demokratie zwar pragmatisch an, sie sei aber nicht verinnerlicht. Eine Reanimierung der gescheiterten traditionellen katholischen Naturrechtslehre komme nicht in Betracht. Die Frage, ob die institutionelle Verfasstheit der Kirche zeitangemessen reformiert werden könne, beurteilt Rahner denkbar skeptisch. Die Theologie stehe vor schwierigen Fragen. Der Theologe Michael Moxter befasst sich mit dem Blumenberg-Exkurs Dreiers.

Der Herausgeber Michael Kühnlein setzt sich zustimmend mit Dreiers Buch auseinander und bezeichnet zu Recht die Frage, wie strikt die Neutralität zu begreifen sei, als entscheidend (213). In einer abschließenden Erwiderung nimmt Horst Dreier zu den Buchbeiträgen Stellung

Änderungen seiner Thesen von 2018 hält er nicht für nötig – und begründet das auch.

Es ist das beachtliche Verdienst Kühnleins, das richtungweisende Buch Dreiers erneut in die Diskussion gebracht zu haben. Sein Sammelband enthält viele interessante, aufschluss- und informationsreiche Beiträge für Juristen und Nichtjuristen. Alles in allem: Ein wirklich empfehlenswertes Buch.

Michael Kühnlein (Hrsg.): Gottloser Staat? Im interdisziplinären Gespräch mit Horst Dreier. Baden-Baden 2022, 240 S. Nomos Verlag (Texte und Kontexte der Philosophie 5) – 34.00 €.

ISBN 978 3 8487 5547 9

G. Cz., 22. 02. 2023

1 Zu diesen Fragen etwa Sachs-GG, 8. A. 2018, Rn. 52 ff. zu Art. 38 GG; M. Schmidt-Salomon, der blinde Fleck des deutschen Rechtssystems, https://weltanschauungsrecht.de/blinder-fleck-des-deutschen-rechtssystems (2018). Aber da keine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Gesetzesbegründung besteht und in weltanschaulichen Fragen Abgeordnete vielfach überfordert wären, zwischen amtlicher und rein privater Gewissensentscheidung zu unterscheiden, läuft auch eine strenge Neutralitätsauffassung praktisch darauf hinaus, dass die Vermeidung eindeutig religiöser Begründung durch die Abgeordneten zumindest ein nobile officium darstellen sollte. Bei klaren Verstößen gegen eine angenommene Neutralitätspflicht bleibt die verfassungsgerichtliche Gesetzesprüfung mit ggf. verfassungskonformer Auslegung unbenommen.