Rezension zu Norbert Groeben: Sterbenswille / Verteidigung des rationalen Suizids und Sterbebeistands
>> Ein wichtiger Beitrag zur aktuellen Suizidhilfe-Diskussion – leider mit grosser Lücke<<
Am 21. April 2021 fand im Deutschen Bundestag während mehr zwei Stunden eine Aussprache zum Thema Suizidhilfe statt. Darin glänzten 38 Rednerinnen und Redner aus allen Fraktionen vor allem durch Unkenntnis der Materie bezüglich der nationalen wie internationalen Praxis der Suizidhilfe sowie auch der Rechtslage. Stattdessen legten einige Glaubensbekenntnisse ab. Andere liessen unverhohlen ihre Ablehnung des Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020, welches den § 217 des Strafgesetzbuches vom 10. Dezember 2015 für nichtig erklärt hat, durchblicken. Dabei zeigten die meisten, dass sie dieses wegweisende Urteil entweder gar nicht gelesen oder aber nicht verstanden haben. Es waren Kurzreferate mit persönlicher Wertung; doch eine «Orientierungsdebatte», wie sie dies nannten, fand nicht statt. Insgesamt kann daraus vor allem auf fehlende Orientiertheit des Parlaments geschlossen werden, hätte doch diskutiert werden sollen, ob und welche Konsequenzen das Parlament aus dem Urteil ziehen darf, und welche es ziehen soll.
Damit steht das hier vorzustellende Werk in erheblichem Gegensatz. Dessen Autor, der 1944 in Ratibor, Schlesien, geborene Norbert Groeben, Psychologe und Literaturwissenschaftler, der von 1994 bis 2007 an der Universität Köln Allgemeine Psychologie und Kulturpsychologie lehrte, zeigt in einem ersten Teil seines Buches die Argumente auf, die zur Rechtfertigung rationaler Suizide entscheidend sind. Nach einer Auseinandersetzung mit dem zu verpönenden Begriff «Selbstmord» wendet er sich dem Recht auf Selbstbestimmung im Sterben zu, diskutiert die Frage des freien Willens und stellt «Sterbehilfe» als ärztlich-assistierten Suizid vor. In einem zweiten Teil bespricht er die Vielfalt rationaler Suizide, von denen er deren vier unterschiedliche nennt und sie mit acht konkreten Fälle von Personen, die ihr Leben selbst beendet haben, eindrücklich illustriert. Im dritten Abschnitt des Buches setzt er sich dezidiert mit den von Gegnern der Selbstbestimmung bezüglich des eigenen Lebensendes stets pauschal geltend gemachten angeblichen «Gefahren» auseinander, die der assistierte Suizid angeblich schaffe, nicht nur ohne dafür Beweise zu liefern, sondern entgegen der Regeln von den Befürwortern Gegenbeweise zu heischen. Dazu verwendet er empirisches Material vor allem aus dem US-amerikanischen Gliedstaat Oregon und den Niederlanden. Dabei kommt er zum Schluss, dass für alle diese Befürchtungen nicht nur Beweise fehlen, sondern dass sogar das Gegenteil – also positive Wirkungen – festzustellen sind, wenn ein Staat seinen Bewohnern bei der rationalen Beendigung ihres Lebens nicht im Wege steht. Er entkräftet damit sowohl die Behauptung, die Ermöglichung eines assistierten Suizids öffne die «Büchse der Pandora» – wie dies in der Bundestagsdebatte und an anderen Stellen mehrmals behauptet worden ist –, indem die Gesellschaft auf eine «schiefe Ebene gerate» –, als auch die Befürchtung, es könnten Alte und Schwache von ihrem Umfeld zu einem «sozial erwünschten Frühableben» gedrängt werden. Die wissenschaftlich erhobenen Daten in Oregon als auch in den Niederlanden widerlegen diese Behauptungen; dabei lässt sich nachweisen, dass die Möglichkeit, selbst über sein eigenes Lebensende entscheiden und dazu Hilfe erhalten zu können, in vielen Fällen dazu beiträgt, dass Menschen sogarerheblich länger leben.
Von besonderem Interesse sind in diesem Werk die Schilderungen der verschiedenen Arten von rationalen Suiziden im zweiten Teil. Bei Hannelore Kohl und Herbert Fux handelte es sich um Leidens-Suizide; George Eastman wird als Beispiel für einen Bilanz-Suizid dargestellt, was auch für Mellie Beese zutrifft; für den Präventiv-Suizid steht das Lebensende von Gunter Sachs wie auch jenes der Schweizer Frauenrechtlerin Iris von Roten; und bei Dora Carrington sowie Charles Boyer spricht der Autor von einem Symbiose-Suizid. Die jeweils ausführlichen Berichte über diese Vorgänge machen es möglich, sich gut in die jeweilige Situation einfühlen und diese nachvollziehen zu können.
Zwei Aspekte jedoch wollen dem Rezensenten nicht gefallen: Da ist einerseits der vom Autor für eine Entscheidung aus freiem Willen verwendete Begriff «willensfrei», der eigentlich ausdrückt, es geschehe etwas ohne Willen, und der somit das Gegenteil dessen bedeutet, was er meint; demzufolge ist das Wort zumindest gewöhnungsbedürftig. Zum zweiten fehlt in dem Buch eine ausführliche Darstellung der Situation in der Schweiz, in welcher viel länger als in den Niederlanden oder in Oregon, nämlich etwa seit 1985, eine legale Praxis der Suizidhilfe besteht, ohne dass dafür jemals ein Sondergesetz notwendig geworden wäre. Dies hätte der Lage und den gesetzgeberischen Absichten in Deutschland gegenübergestellt werden können. Ein solcher Vergleich wäre vor allem deshalb viel näher als jener mit den Niederlanden gelegen, weil in der Schweiz noch immer, im Unterschied zu den Niederlanden, wie in Deutschland nur Hilfe zum Suizid, nicht aber ärztliche «Tötung auf Verlangen», gesetzlich zulässig ist.
Dem entsprechend zieht der Autor bei seinen abschliessenden Bemerkungen in Bezug auf eine künftige Regelung in Deutschland von vornherein die Möglichkeit, ähnlich wie in der Schweiz auf eine gesetzliche Regelung zu verzichten, weil die allgemeinen Gesetze und Gerichtsentscheide bereits einen ausreichenden Rahmen setzen, um Missbräuche zu verhindern, gar nicht in Betracht.
Trotz dieser empfindlichen Lücke trägt das Werk substanziell zur notwendigen Diskussion der Suizidhilfe in der breiten Gesellschaft viel Wertvolles bei, und es ihm ist vor allem auch bei Entscheidungsträgern eine grosse Verbreitung zu wünschen.
Norbert Groeben, Sterbenswille / Verteidigung des rationalen Suizids und Sterbebeistands / Leidens-, Präventiv-, Bilanz-, Symbiose-Suizid; wbg Academic, Darmstadt 2021, 211 S., gebunden, ISBN: 978-3-534-40513-8, € 24.–.