Zusammenfassung des Beitrags von Lothar Jaeger: „Bemessung des Schmerzensgeldes nach Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker“

Lothar Jaeger, Vorsitzender Richter am OLG Köln a. D. und Mitautor des Standardwerkes "Schmerzensgeld", schließt mit seinem aktuellen Aufsatz (VersR 4/ 2023, 209–228) an seinen letzten – ebenfalls sehr lesenswerten – Beitrag, den wir hier zusammengefasst haben, an und zeigt Bemessungskriterien zur Höhe des Schmerzensgelds bei klerikalen Missbrauch auf. Zu Recht konstatiert er, dass hiernach das Schmerzensgeld "besonders hoch" ausfallen muss. Er unterstreicht, dass die Besonderheiten dieser Fälle darin liegen, "dass die Straftaten von Klerikern begangen wurden, die aufgrund ihrer Stellung in der Kirche und ihres Ansehens besonderes Vertrauen genossen, dem die Missbrauchsopfer nicht widerstehen konnten."

Zunächst beleuchtet Jaeger die Rechtsprechung zu Schmerzensgeldansprüchen bei Vergewaltigungsfällen und Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger, wobei offensichtlich wird, dass die im Rahmen von Adhäsions- und Zivilverfahren ausgeurteilten regelmäßig äußerst geringen Beträge bzgl. Vergewaltigungsfälle gar nicht oder nicht nachvollziehbar begründet wurden. Dem schonungslosen, aber unausweichlichen Schluss Jaegers zur diesbezüglichen Rechtsprechungspraxis ist mithin zuzustimmen: "Alle diese in Adhäsionsverfahren ergangenen Entscheidungen, die weder die maßgeblichen Kriterien für die Bemessung des Schmerzensgeldes noch vergleichbare Entscheidungen nennen, sind willkürlich und hätten in der Rechtsmittelinstanz keinen Bestand haben dürfen." Zivilrechtliche Entscheidungen, so stellt der Autor eingangs klar, gibt es nur wenige. Dasselbe erschütternde Bild, zeigt sich auch bei Fällen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen, wie Jaeger mit zahlreichen Beispielen offenlegt. Durchweg wurden nach Ansicht des Autors sowohl in Adhäsionsverfahren wie auch in Zivilverfahren unangemessen niedrige Schmerzensgeldbeträge ausgesprochen, eine Ausnahme bildet die Entscheidung des LG Wuppertal v. 5.2.2013 – 16 O 95/12.  

Erhebliche Versäumnisse sieht Jaeger aber auch bei den Opferanwälten, die "meist keine, auch keine bedingt vergleichbaren Entscheidungen" nennen und "gar nicht oder unzureichend" zum "psychischen und seelischen Schaden, zu den Dauerschäden und den zu erwartenden Spätschäden" vortragen hätten. Der Autor ist davon überzeugt, dass die Schmerzensgeldbeträge "wesentlich höher ausfallen" würden, "wenn vom Klägeranwalt eingehend dargelegt und vom Gericht geprüft würde, welche psychischen Schäden beim Opfer zurückgeblieben sind". Auch die Gerichte kritisiert er, denn die könnten unabhängig vom Vorbringen des Klägeranwalts diesbezüglich von Amtswegen entsprechende Feststellungen treffen.

Nach seiner Analyse der Rechtsprechung kommt Jaeger zu dem Schluss, dass neue Wege begangen werden müssten, denn: "Fast alle Entscheidungen sind ohne jede Begründung zur Höhe des Schmerzensgeldes ergangenen, sie sind deshalb willkürlich und als vergleichbare Entscheidungen ungeeignet."

Jaeger hält im Ergebnis fest, dass auch ein "Vielfaches der Beträge" nicht ausgereicht hätte.

Sodann bemängelt er, dass die Entwicklung der Rechtsprechung zum Schmerzensgeld beim Bundesgerichtshof stagniere, verdeutlich aber auch, dass die Bemessung des Schmerzensgelds den Instanzgerichten obliegt und "dass die Lebensbeeinträchtigungen", so der BGH, "für die Höhe des Schmerzensgeldes eine entscheidende Rolle spielen können".

Jaeger zeigt im Weiteren die betroffenen Schadenspositionen auf (Körperschaden, Gesundheitsschaden, Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung, der Menschenwürde und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts) und arbeitet diesbezüglich sodann Bemessungskriterien heraus.

Er betont, dass Gerichte Neuland der Schmerzensgeldbemessung betreten: "Es fehlt an vergleichbaren Entscheidungen, in denen berücksichtigt werden konnte, "dass Kleriker einen derartigen psychischen Druck auf die Opfer ausüben konnten, und in denen ein Täter unter Ausnutzung der religiösen Überzeugung der Opfer es erreichte, dass diese nicht die Kraft aufbringen konnten, sich dem Täter zu entziehen. Die von Missbrauchsopfern geschilderten Situationen zeigen, dass die Opfer ,gefesselt‘ durch ihre Religion, ihre religiöse Überzeugung, ihren Glauben und durch das Vertrauen und die Hochachtung gegenüber dem Missbrauchstäter keinen Widerstand leisteten und nicht die Kraft aufbringen konnten, sich dem Druck der Kleriker zu entziehen."

Deshalb verfange auch nicht die Vorgabe des BGH, wonach bei der Bemessung der Höhe des Schmerzensgelds auf vergleichbare Entscheidungen zurückzugreifen sei. Die bisherigen Entscheidungen weist Jaeger als inakzeptabel zurück und hebt exemplarisch die enorme Diskrepanz zwischen den wörtlichen Anerkennungen des Leidens der Betroffenen, etwa als "unvorstellbares Horrorszenario", und den damit nicht in Einklang zu bringenden geringen Schmerzensgeldsummen hervor. Er lässt die diesbezügliche Bewertung stillschweigend und doch lautstark im Raum stehen.

Auf knapp 10 Seiten kritisiert Jaeger mit guten Argumenten die bisherige ungenügende Rechtsprechungspraxis, legt präzise Kriterien fest und sieht insbesondere eine (gewisse) Vergleichbarkeit zu den sehr hohen Entschädigungsbeträgen, die zur Genugtuung nach Persönlichkeitsverletzungen ausgesprochen wurden.

Jaeger kommt letztlich zu dem Schluss, dass höhere sechsstellige Beträge angemessen sind und begründet das im Wesentlichen mit der Schwere der Taten, der Genugtuungsfunktion, dem Abschreckungsgedanken und den Vermögensverhältnissen der Bistümer, die im Wege des Amtshaftungsanspruchs (vgl. Gerecke/Roßmüller) für die Taten der Kleriker einstehen müssen.

Besondere Beachtung verdient der Umstand, dass Jaeger explizit auch Entscheidungen des Landgerichts Kölns angreift und die von ihnen festgesetzten Schmerzensgeldbeträge mit umfangreicher Begründung als "nicht vertretbar" bezeichnet. Das Landgericht Köln hat nämlich in Bälde über eine anhängige Klage gegen das Erzbistum Köln auf Schmerzensgeld in Höhe von 750.000 Euro zu entscheiden. Auf diesen Fall selbst – mit mehr als 300 Vergewaltigungen über mehrere Jahre – geht Jaeger ebenfalls ein und legt dar, dass lediglich die Frage offen sei, "ob der psychische Schaden ganz außergewöhnlich schwerwiegend" sei und deshalb die Zuerkennung eines Schmerzensgeldbetrags im obersten Bereich zuzuerkennen" sei.

Das Landgericht Köln wird als erste das besagte "Neuland" in der Rechtsprechung betreten und wünschenswerterweise die Gelegenheit nutzen, jahrzehntelange Versäumnisse nachzuholen und verständige Kriterien zur Bemessung von Schmerzensgeldbeträge unter Beachtung der von Jaeger aufgezeigten Aspekte zu entwickeln, um die Praxis absurd-niedrigen Schmerzensgeldes zu durchbrechen und für die Opfer klerikaler Vergewaltigungen gerechte Lösungen zu ermöglichen.