Erziehungsziele

I. Grundsätzliche elterliche Aufgabe
Erziehung bedeutet Einflussnahme auf die Entwicklung des jungen Menschen als Gesamtpersönlichkeit. Sie ist grundsätzlich und in erster Linie Aufgabe der Eltern, die den Gesamtplan der Erziehung und somit die E. bestimmen, sich dabei aber auch der Hilfe von Institutionen, Religionsgemeinschaften und anderen Vereinigungen bedienen können. Unter den Bedingungen einer hochdifferenzierten pluralistischen Gesellschaft mit wachsender Individualisierung sind viele Eltern nicht mehr willens oder in der Lage, die notwendige familiäre Erziehungsarbeit zu leisten. Soweit sie das aber tun, müssen die öffentlichen Bildungseinrichtungen sie berücksichtigen. Diffizile Konflikte sind dabei unvermeidlich. Somit stellt sich die Frage nach dem zulässigen Inhalt staatlicher Erziehungsziele in Deutschland.

II. Staatlicher Erziehungsauftrag
Art. 7 I GG spricht nur von „Aufsicht des Staates“ über das gesamte Schulwesen und Art. 7 IV von „Lehrzielen“. Dass der Staat aber auch einen eigenständigen schulischen Erziehungsauftrag hat, ist so gut wie unbestritten. Hauptauftrag der Schule ist es sicher, die grundlegenden Kulturtechniken und Wissen zu vermitteln. Erzieherische Einflussnahme erfolgt aber zwangsläufig schon durch die Auswahl, aber auch durch die Darbietung des Lehrstoffs durch Lehrer mit unterschiedlichem persönlichem Hintergrund. Die Art und Zulässigkeit solcher Einflussnahme darf und muss der Staat steuern. Das geschieht durch die Formulierung spezifischer schulischer Erziehungsziele in Landesverfassungen, Gesetzen und Lehrplänen. Selbstverständlich ist es auch Aufgabe der Schule, die vorrangigen Grundprinzipien des GG und die in ihm verankerten Ziele der Rechtsordnung zu vermitteln (s. Grundgesetz, Leitprinzipien).

III. Landesrecht
Zahlreiche schulische Erziehungs- und Bildungsziele sind in den 16 Landesverfassungen, jeweils unterschiedlich, festgelegt. So werden als Erziehungsziele genannt: Brüderlichkeit aller Menschen, Friedensliebe, Heimatliebe, freiheitlich-demokratische Gesinnung, Entwicklung zur freien Persönlichkeit, Sachlichkeit und Duldsamkeit gegenüber den Meinungen anderer, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl, Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe, Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt; Erziehung zur Achtung vor der Wahrheit, zum Mut, sie zu bekennen und das als richtig und notwendig Erkannte zu tun; Erziehung zur Teilnahme am kulturellen Leben, Rücksichtnahme auf religiöse und weltanschauliche Empfindungen, Bildung zur sittlichen Persönlichkeit, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit, unverfälschte Darstellung der Vergangenheit, Verantwortung für die Gemeinschaft und für künftige Generationen, Ehrfurcht vor allem Lebendigen, Wille zu sozialer Gerechtigkeit. Besonders gelungen erscheint Art. 28 der Verfassung von Brandenburg: „Erziehung und Bildung haben die Aufgabe, die Entwicklung der Persönlichkeit, selbständiges Denken und Handeln, Achtung vor der Würde, dem Glauben und den Überzeugungen anderer, Anerkennung der Demokratie und Freiheit, den Willen zu sozialer Gerechtigkeit, die Friedfertigkeit und Solidarität im Zusammenleben der Kulturen und Völker und die Verantwortung für Natur und Umwelt zu fördern.“

IV. Verbotene Staatsideologie und Erziehung zu einem „guten Leben“
Die genannten Erziehungsziele, aber auch etwa die Erziehung zu Fairness und Solidarität mit Schwächeren erfahren wohl allgemeine Zustimmung. Dabei propagieren sie z. T. weit hinaus über die tragenden Verfassungsgrundsätze Vorstellungen über ein gutes Leben. Unzulässige Staatsideologie ist darin aber nicht zu sehen, da die Vermittlung dieser allgemeinen Grundhaltungen grundsätzlich wohl von Jedermann, unabhängig von seiner r-w Einstellung, innerhalb der Kultur des GG als gerecht anerkannt werden kann. Selbst wenn religiöse Engstirnigkeit Probleme mit der Erziehung zur freien Persönlichkeit hat oder Andersdenkende generell nicht als brüderlich empfunden werden, kann die freiheitliche Erziehung aus dem GG gerechtfertigt werden. Dieses nimmt im Übrigen derart abweichende Haltungen als grundsätzlich individuell zulässig hin. Damit wird der Forderung der Liberalen Rechts- und Staatstheorie (s. dort) entsprochen. Insgesamt bedarf Erziehung durch staatliche Instanzen der Rechtfertigung gegenüber den Rechten der Schüler und Eltern. Die Entwicklung von Kritik-, Konflikt- und Kompromissfähigkeit ist sicher eine im pluralistischen Staat zulässige Erziehungsaufgabe. Die Einübung des Dialogs erfordert aber Lehrer, die persönlich im Rahmen der pluralistischen Meinungsbildung zwar Position beziehen, ihre Auffassung aber erkennbar nicht kraft Amtes propagieren dürfen.

V. Religiöse und andere problematische Erziehungsziele
Religiös gefärbte Erziehungsziele der älteren Landesverfassungen wie Ehrfurcht vor Gott und die spezifisch christliche Nächstenliebe oder gar das christliche Sittengesetz (s. näher Landesrecht) sind nicht nur "nicht völlig problemfrei", wie Bothe formuliert, sondern schlicht grundgesetzwidrig. Der r-w neutrale Staat hat keinen religiösen Erziehungsauftrag. Unzulässig ist überhaupt jede Erziehung, die einer spezifischen Ideologie dient. Das bedeutet etwa, dass Erziehung zu homosexuellem Verhalten nicht zulässig ist, aber auch keine Diskriminierung desselben. In seiner bekannten Sexualkunde-Entscheidung hat das BVerfG 1977 erklärt: „Die Sexualerziehung in der Schule muss für die verschiedenen Wertvorstellungen auf diesem Gebiet offen sein und allgemein Rücksicht nehmen auf das natürliche Erziehungsrecht der Eltern und auf deren religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen...“ (Leitsatz 2). Die Grundprinzipien des GG sind auch dabei aber stets vorrangig. Verallgemeinernd hat das BVerwG 1988 entschieden, Schulbücher könnten zwar nicht tendenzfrei sein, dürften aber nicht "in den Dienst bestimmter weltanschaulicher, ideologischer oder politischer Richtungen" treten. Gerade in der neueren Rechtsprechung der höchsten Gerichte wird die ideologische Neutralität häufig (wenn auch nicht immer widerspruchsfrei) betont. In bioethischen Fragen wird regelmäßig nur eine vorsichtige Darstellung der unterschiedlichen Positionen korrekt sein (siehe Bioethik mit weiteren Verweisungen).
 
VI. Sonderproblematik Schwangerschaftsabbruch
Das BVerfG und (ihm notgedrungen folgend) der Bundesgesetzgeber hat entgegen dem Willen der schon damals großen Mehrheit der Bevölkerung und der ursprünglichen Mehrheit der MdB eine restriktive Position vertreten (Unzulässigkeit der Fristenlösung). Dabei ist diese als Verfassungsgebot kaum zu begründen (s. näher unter Schwangerschaftsabbruch) und in den Konsequenzen widersprüchlich und unehrlich (s. auch Strafrecht und Religion). Ethische Erziehung in der Schule darf daher auch hier nicht einseitig eine spezifische rigide Einstellung propagieren, sondern muss vielmehr die menschliche, soziale, psychologische und medizinische Problematik ggf. kontrovers thematisieren. Leben einschließlich des embryonalen Lebens um jeden Preis ist kein zulässiges allgemeines schulisches Erziehungsziel, da dies ideologisch sehr einseitig wäre.

>> Bioethik; Elternrecht; Leitprinzipien des Grundgesetzes; Landesrecht; Liberale Rechtstheorie; Pluralismus; Erziehung; Schulbücher; Schwangerschaftsabbruch; Sexualerziehung; Strafrecht.

Literatur:

  • BVerfGE 47, 46 = NJW 1978, 807 (Sexualkunde); BVerwGE 79, 298 = NVwZ 1988, 928 (Schulbuchzulassung; bestätigt durch das BVerfG).
  • Bothe, Michael: Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, VVDStRL 54 (1995), 7-46.
  • Heimann, Hans Markus: Ethikuntgggerricht im religiös und weltanschaulich neutralen Staat, ZevKR 2003, 17-37.
  • Huster, Stefan: Staatliche Neutrgggalität und schulische Erzigggehung. Einige Anmerkungen aus verfassungsrechtlicher und sozialphilosophischer Sicht. In: Neue Sammlung (Vierteljahres-Zeitschrift für Ergggziehung und Gesellschaft) 41 (2001), 399-424 (besonders lesenswert).
  • Kuhn-Zuber, Gabriele: Die Werteerziehung in der öffentlichen Schule. Religions- und Ethikuntergggricht im säkularen Staat. Hamburg 2006.
  • Loschelder, Wolfgang: Grenzen staatlicher Wertevermittlung in der Schule, in: Dem Staate, was des Staates - der Kirche was der Kirche ist. Festschrift für Joseph Listl zum 70 Geb. Berlin 1999, 349-366 (besonders lesenswert).
  • Pawlowski, Hans-Martin: Ehrfurcht vor Ggggott als schulisches Bildungsziel in Bayern, NJW 1989, 2240-2242 (zu BayVerfGH NJW 1988,3141: aus christl. Sicht kritisch.
  • Pieroth, Bodo: Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, DVBl 1994, 949-961 (950-955 zur Schulhoheit und den staatlichen Erziehungszielen, 955-957 zum elterlichen Erziehungsrecht).
  • Renck, Ludwig: Religionsfgggreiheit und das Bildungsziel der Ehrfurcht vor Gogggtt, NJW 1989, 2442-2445, (krit. zu BayVerfGH NJW 1988,3141, vgl. auch oben Pawlowski).
  • Richter, Ingo: Verfassungsfragen einer Werteerziehung. Die doppelte Ohnmacht. In: Religion, Ethik, Schule. Bildungspolitische Perspektiven in der pluralen Gesellschaft. Münster u.a. 1998, 39-58.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)