Negative Religionsfreiheit

I. Problematische Rede von der "positiven" und "negativen" Religionsfreiheit

1. Die sog. negative Religionsfreiheit ist im Zusammenhang mit der bekannten Kruzifix-Entscheidung des BVerfG von 1995 auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Man versteht darunter den Aspekt der Religionsfreiheit, bestimmte r-w Überzeugungen abzulehnen. Gegner der häufig emotional herabgewürdigten Entscheidung haben argumentiert, das Gericht habe die negative Religionsfreiheit einer Minderheit gegenüber der positiven Religionsfreiheit der Mehrheit bevorzugt und zum Obergrundrecht erhoben. Das trifft das Problem aber nicht. Es geht nicht um eine spezielle Art von Grundrecht, sondern nur um einen besonderen Blickwinkel ein- und desselben Grundrechts. Die diversen Arten von Religionsfreiheit haben wie bei jedem anderen Freiheitsrecht eine positive und negative Seite, da ohne Wahlmöglichkeit keine Freiheit besteht. Der Staat hat die verschiedenen Optionen nicht zu bewerten, sondern nur darauf zu achten, dass in jedem Fall die Grundrechtsschranken eingehalten werden. Rechtlich ist es nicht etwas "Positives", einen christlichen oder muslimischen Glauben zu haben (welchen von vielen?), und etwas "Negatives", keinen solchen Glauben zu haben. Das geht den Staat nichts an (s. Neutralität; Säkularität).

2. Die Unsinnigkeit einer polarisierenden und ggf. abwertenden Unterscheidung wird deutlich, wenn man sich Folgendes klar macht: Wer eine bestimmte religiöse Überzeugung nicht teilt, wird fast immer eine andere "positive" Überzeugung haben, auch wenn er sie vielleicht nicht zum Ausdruck bringt. Wer nicht an "Gott" (ein denkbar unklarer Begriff) glaubt, ist i. d. R. Agnostiker, Pantheist oder "Atheist", sofern nicht völlig indifferent. Damit ist nicht gesagt, dass er keine konkreten weltanschaulichen Grundüberzeugungen hat. Seine ethischen Überzeugungen (etwa als säkularer Humanist bzw. Naturalist) zum sozialen Verhalten, zu Toleranz, Krieg und Frieden, Leben und Tod, Gerechtigkeit usw.) werden sogar weitgehend mit denjenigen der religiösen Mitbürger übereinstimmen.

II. Staatsgerichtetheit

Entscheidend ist, dass sich die negative Religionsfreiheit als grundrechtlicher Gesichtspunkt nur auf staatliches Verhalten bezieht. Der Staat darf außerhalb seiner eigenen Grundprinzipien grundsätzlich nicht auf die r-w Meinungsbildung Einfluss nehmen. Über die Existenz eines Verbots einseitiger ideologischer, insbesondere r-w Beeinflussung der Bürger durch den Staat sind sich Rspr. und Rechtsliteratur theoretisch weitgehend einig. Leider werden daraus bedauerlich häufig die praktischen Konsequenzen nicht gezogen, wenn sie nicht genehm sind (Beispiel: staatliches Schulkreuz). Das bedeutet nichts anderes, als dass sich der Staat selbst neutral verhalten muss. Das sollte der (richtig verstandenen) Glaubensfreiheit zugeordnet werden. Mögliche Ausnahmen vom Beeinflussungsverbot sind nicht zu erkennen.

III. Zusammenprall unterschiedlicher religiöser Rechtspositionen

Virulent wird die Rede von der negativen Religionsfreiheit, wenn der Staat in seinem Bereich gegenläufige Rechtspositionen von Bürgern ausgleichen muss. Solche Kollisionen sind nach den Grundsätzen rechtlicher Interessenabwägung möglichst schonend zu behandeln (Gewicht der jeweiligen berechtigten Interessen, geringstmöglicher Eingriff, Verhältnismäßigkeit). Mit "positiver" (guter?) und "negativer" (schlechter?) Freiheit hat das nichts zu tun. Die Rede von negativer Religionsfreiheit in Konkurrenz zu "positiver" Religionsfreiheit ist daher ohne Erklärungswert, missverständlich und überflüssig. Sie wurde häufig sachwidrig zu Gunsten einer vorausgesetzten Mehrheitsmeinung missbraucht und sollte aufgegeben werden.

IV. Missverständnisse

Besonders im Fall des Kreuzes im Klassenzimmer hat man oft von der Kollision gegenläufiger Grundrechtspositionen gesprochen. So konnte man das angebliche "Recht" der Kreuzesbefürworter (die stets ungeprüft als Mehrheit bezeichnet wurden) gegen das Recht der Minderheit der Kreuzesgegner ausspielen, die natürlich unterliegen musste. Aber niemand hat das Recht, im öffentlichen Bereich vom Staat die einseitige Anbringung gerade seines bevorzugten religiösen (oder auch nichtreligiösen) Symbols zu verlangen. Daher steht nicht Bürgergrundrecht gegen Bürgergrundrecht, sondern es stehen sich nur unterschiedliche persönliche Interessen gegenüber. Alle Betroffenen haben aber gegenüber dem Staat dasselbe Recht, dass dieser sich unparteilich (neutral) verhält. Der Staat muss sich von sich aus neutral verhalten.

>> Glaubensfreiheit; Grundrechtsschranken; Humanismus; Leitprinzipien des Grundgesetzes; Kreuz im Klassenzimmer; Neutralität; Religionsfreiheit; Säkularität; Toleranz.

Literatur:

  • Morlok, in: Dreier-GG I, 3. A. 2013 zu Art. 4 GG.
  • Renck, Ludwig: Über positive und negative Bekenntnisfreiheit, NVwZ 1994,544-547.
  • Renck, Ludwig: Positive und negative Bekenntnisfreiheit und Glaubens- oder Rechtsstaat, ZRP 1996,205 f.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)