Glaubensfreiheit

I. Begriffliche Probleme des Art. 4 I, II GG
Art. 4 GG gewährleistet in Abs. 1 „die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ als „unverletzlich“ und in Abs. 2 zudem eigens die „ungestörte Religionsausübung“. Zusammengefasst werden diese Freiheiten und zusätzlich diejenigen der r-w Gemeinschaften häufig mit dem Sammelbegriff „Religionsfreiheit“. Damit vermeidet man vordergründig ein Begriffschaos. Denn der Inhalt der einzelnen Begriffe des Art. 4 I, II GG ist weitgehend umstritten und zudem werden noch die verschiedensten Begriffskombinationen gebraucht, meist ohne Definition, und z. T. selbst in Großkommentaren zum GG. Man kann dem Text des Art. 4 GG aber direkt entnehmen, dass es um Freiheiten des Denkens, Redens und Handelns geht. Es liegt daher nahe, dass man inhaltlich entsprechend differenzieren und die Inhalte den verschiedenen GG-Begriffen zuordnen sollte. Das geschieht vielfach deswegen nicht, weil das BVerfG seit 1968[1] bis heute Art. 4 I und II zu einem einheitlichen Grundrecht zusammenfasst. Überraschenderweise wird aber allgemein die Gewissensfreiheit davon ausgenommen und als selbständiges Grundrecht behandelt, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 III GG) ohnehin. Folge sind nicht nur das begriffliche Durcheinander mit seinen Verständigungsproblemen, sondern auch Unsicherheiten bei der Begründung der Rechtmäßigkeit von Beeinträchtigungen („Eingriffen“) „des“ Grundrechts. Diese Probleme werden noch gesteigert durch den Umstand, dass die Frage der Schranken der „Religionsfreiheit“ (Grundrecht ohne – so Art. 4 I, II – oder mit Gesetzesvorbehalt gem. Art. 136 I WRV/ 140 GG) derzeit immer noch ungeklärt ist.

II. Glaubensfreiheit als Freiheit des Denkens
Diese Grundprobleme sprechen dafür, zumindest begrifflich selbst bei einheitlich verstandenem Grundrecht gem. Art. 4 I, II verschiedene Aspekte zu unterscheiden. Da nach dem Wortsinn das Bekennen einer r-w Überzeugung der Meinungsäußerung zuzuordnen ist und die freie Religionsausübung ein nach außen erkennbares Verhalten zum Gegenstand haben muss, liegt es nahe, unter Glaubensfreiheit den noch verbleibenden Aspekt des gedanklichen Überzeugungsschutzes zu verstehen, wie das Autoren zunehmend tun. Demzufolge betrifft die Glaubensfreiheit die Freiheit des Denkens in Bezug auf Religion und Weltanschauung, und zwar selbstverständlich in positiver wie negativer (abwehrender) Hinsicht. Hierzu sei aber angemerkt, dass es keine selbständige "positive Glaubensfreiheit" gibt, die einer "negativen Glaubensfreiheit" gegenübergestellt werden könnte, wie man aber häufig suggeriert. Es geht vielmehr nur um Aspekte ein- und derselben Freiheit. Es steht ggf. nicht Überzeugung gegen Nicht-Überzeugung, sondern regelmäßig (jeweils positiv) die eine Überzeugung gegen eine andere (s. Negative Religionsfreiheit; Kreuz im Klassenzimmer). Schon immer ging es im GG auch um "die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben."[2] Dabei ist "dem Staat die Einmischung in den höchstpersönlichen Bereich des Einzelnen" verboten.[3]

III. Insbesondere: Schutz vor staatlicher Einflussnahme
Glaubensfreiheit in diesem Sinn garantiert Gedankenfreiheit, nämlich die grundsätzliche Unantastbarkeit des höchstpersönlichen Innenbereichs („forum internum“), auf den die öffentliche Gewalt nicht einseitig Einfluss nehmen darf. Solche Glaubensfreiheit geht weit über das Verbot von Formen der Zwangseinwirkung wie durch Gehirnwäsche oder den Einsatz von Drogen hinaus. Es geht um den Schutz der freien Bildung, Veränderung bzw. Beibehaltung r-w innerer Vorstellungen durch ein Verbot auch nur indirekter staatlicher Einflussnahme. Das spielt beim Thema Schule und Religion eine erhebliche Rolle und führt zu wichtigen Fragestellungen wie dem Verhältnis von Staat, Erziehung und Ideologie (s. Grundgesetz, Leitprinzipien; Liberale Rechts- und Staatstheorie), dem Verhältnis von Schulaufsicht und Grundrecht und zur Bedeutung des elterlichen Rechts auf religiöse Erziehung. Das Verbot einseitiger staatlicher Einflussnahme in r-w Hinsicht als Bestandteil des Art. 4 I GG ist seit langem zumindest theoretisch weithin anerkannter Standard in Rechtsprechung und Literatur. In der praktischen Konsequenz wird das Verbot einseitiger Einflussnahme aber durchaus weitgehend und auffällig ignoriert, wenn es zu einem als unerwünscht angesehenen Ergebnis führt (Hauptbeispiel: Die Kritik am Kruzifix-Beschluss des BVerfG vom 16.5.1995).

IV. Ergänzende Spezialregelungen
Flankiert und unterstrichen wird die so verstandene Glaubensfreiheit durch verfassungsrechtliche Sonderregelungen. Nach Art. 3 III GG darf niemand "wegen...seines Glaubens, seiner religiösen...Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden". Eine solche Benachteiligung – worunter auch geringfügige Nachteile zu zählen sind – läge aber vor, würden Organe der öffentlichen Gewalt einseitig Einfluss nehmen. Nach Art. 7 II GG entscheiden die Eltern (frei) über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht, und gem. Art. 7 III 3 GG können Lehrer nicht gegen ihren Willen verpflichtet werden, einen solchen Unterricht zu erteilen. Aber auch weitere mit der Glaubensfreiheit zusammenhängende Aspekte sind ausdrücklich normiert, nämlich in Art. 136 III 1 WRV (kein Zwang zur Offenbarung religiöser Überzeugungen) und Art. 136 IV WRV (kein Zwang zur Teilnahme an kirchlichen Handlungen und religiösen Übungen sowie zur Benutzung einer religiösen Eidesform), jeweils i.V.m. Art. 140 GG. Die ebenfalls in diesen „inkorporierten“ Absätze I und II des Art. 136 WRV besagen sinngemäß, dass den Staat die individuelle Religion bzw. Weltanschauung seiner Bürger nichts angeht, was sich auch schon aus Art. 33 III GG ergibt. Eine r-w Beeinflussung ist damit unvereinbar.
 
V. Verfehlte Einwände
Früher hat man den Sinn der Glaubensfreiheit als Schutz des forum internum häufig bestritten nach dem Motto "Die Gedanken sind (ohnehin) frei"; man hielt sie für dem Recht nicht zugänglich. Das war aber noch nie richtig, auch nicht zu Zeiten, als es die modernen Möglichkeiten systematischer Beeinflussung noch nicht gab. Es fehlte wohl nur, historisch bedingt, an der erforderlichen juristischen Sensibilität. So verfügte beispielsweise König Ludwig I. von Bayern 1838, dass auch evangelische Soldaten, wenn sie zusammen mit katholischen zum katholischen Militärgottesdienst abkommandiert waren, bei der Wandlung und beim Segen sowie bei Fronleichnamsprozessionen zu knien hatten (Kniebeugungsaffäre). Trotz erheblichen Drucks nahm der König die Order erst Mitte der vierziger Jahre zurück. Bekanntlich gab es in Deutschland bis 1918 den Summepiskopat. So war der katholische bayerische König bis dahin formelles Oberhaupt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche, und bis zu diesem Zeitpunkt gab es auch die stark bekämpfte geistliche Schulaufsicht. Die weitgehende Nichtgewährung persönlicher Religionsfreiheit war aber kein bayerisches Spezifikum.

VI. Rechtsprechung als Hindernis
Noch 1963 und 1964 hielt das BVerwG den Bekenntnisschulzwang für Andersdenkende für mit dem GG vereinbar.[4] Und noch 1967, d. h. nach den bahnbrechenden Kirchensteuerentscheidungen des BVerfG von 1965 mit ihrer Betonung der Neutralitätspflicht[5], erklärte der BayVerfGH ausdrücklich, dass es aber für nichtchristliche Volksschüler keine Glaubensfreiheit gebe.[6] Im Grundsatz ist das nicht nur in Bayern noch heute so. Daher ist Glaubensfreiheit im konkreten Verständnis als Beeinflussungsfreiheit ein praktisch notwendiger Rechtsbegriff, wenn er auch leider noch nicht selbstverständlich ist.

VII. Keine Einschränkbarkeit des Beeinflussungsverbots
 „Glaubensfreiheit“ in diesem Sinn bedeutet – wie schon weithin anerkannt – ausschließlich das an die gesamte öffentliche Hand gerichtete Verbot, von Amts wegen auf die freie Bildung, Veränderung bzw. Beibehaltung r-w innerer Vorstellungen auch nur indirekt einseitig Einfluss zu nehmen. Daraus ergibt sich für die Frage der Einschränkbarkeit dieses Freiheitsrechts Folgendes: Es sind nach dieser Definition keine verfassungsrechtlich legitimen Gründe denkbar, die eine Einschränkung rechtfertigen, denn kein Bürger wird in seinem Recht beeinträchtigt. Niemand hat Anspruch auf staatliche Förderung gerade seiner religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung.[7] Der enge Zusammenhang mit dem Neutralitätsgebot ist offensichtlich. Daher stützt das BVerfG das Neutralitätsgebot hauptsächlich auf Art. 4 I GG. Eine Ausnahme vom Beeinflussungsverbot stellen lediglich die ausdrücklichen Vorschriften des GG zum Religionsunterricht und den r-w Schularten dar, die aber grundsätzlich von allen Richtungen in Anspruch genommen werden können.

Christliche Gemeinschaftsschulen; Christliche Schulpolitik; Eid; Elternrecht; Gewissensfreiheit; Grundrechtsschranken; Leitprinzipien des Grundgesetzes; Kreuz im Klassenzimmer; Liberale Rechtstheorie; Negative Religionsfreiheit; Neutralität; Erziehung; Religionsfreiheit; Religionsrecht oder Weltanschauungsrecht; Religionsunterricht; Schularten; Schulaufsicht; Schule und Religion.

Literatur:

  • BVerfGE 93, 1 = NJW 1995, 2477 (Kruzifix-Beschluss)
  • Classen, Claus Dieter: Religionsgggrecht, 3. A. 2021 (Rn. 146, 161 zur Beeinflgggussungsfreiheit).
  • Czermak, Gerhard/Hilgendorf, Eric: Religions- und Weltangggschauungsrecht, 2018, S. 65-68.
  • Morlok, Martin, in: Dreier-GG I (3. A. 2013), Komm. zu Art. 4 GG (Art. 4 I, II als Einheitsgrundrecht).
  • Muckel, Stefan, in: Friauf/Höfling, GG (Berliner Kommentar zum GG), Komm. zu Art. 4 GG, Rn 3 und 18 f.


[1] BVerfGE 24, 236 (, „Rumpelkammer“)
[2] BVerfGE 12,1/3; E 24, 236/245 und stRSpr.
[3] BVerfGE 41, 29/49 (Christl. Gemeinschaftsschule Ba-Wü; 1975).
[4] BVerwGE 17,267; E 19,252 (Bekenntnisschulzwang)
[5] insb. BVerfGE 19,206/216, Badische Kirchenbausteuer)
[6] Vgl. die gegensätzlichen Entscheidungen BayVerfGH 20,125/133 f. und 20,159/165.
[7] s. zum Ganzen BVerfGE 93, 1, Kruzifix-Beschluss.

© Gerhard Czermak / ifw (2017/2023)