Religionsunterricht
I. Erosion des staatlichen Religi
onsunterrichtsIm Westen Deutschlands leidet der Religionsunt[1]. Wie erbittert die großen Kirchen als Hauptnutzer der Institution des staatlichen RU um diesen kämpfen, zeigten die oft regelrecht feindseligen Auseinandersetzungen in den neuen Bundesländern um neue staatliche Schulfächer (Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde in Brandenburg; Ethikunterricht in Berlin), die als illegitime Konkurrenz zu den Kirchen empfunden werden. Dabei ist der staatliche RU weder international noch verfassungsrechtlich selbstverständlich. In Deutschland wird er vom Staat und auf seine Kosten veranstaltet, aber er muss in inhaltlicher Übereinstimmung mit den Grundsätzen der jeweiligen Religionsgemeinschaft (Konfession) stehen: eine Art Kirche im Staat.
erricht (RU) seit Jahrzehnten unter Erosion. Die regelmäßig kirchengeneigten Schulverwaltungen konnten diese Erosion trotz faktischen Schulzwangs nicht zum Stillstand bringen. Nach einer repräsentativen Befragung des Zentrums für empirisch-pädagogische Forschung (zepf) der Universität Koblenz-Landau von 2005 würden 48% der Befragten auf das Schulfach Religion verzichten, um Deutsch und Mathematik aufzuwerten. Nur je 15% waren es bei Kunst und Philosophie.II. Europäisches Ausland
Ein kirchlich bestimmter Unterricht wie in Deutschland ist in Europa die Ausnahme. Fast nur Frankreich kennt überhaupt keinen staatlichen RU. Ansonsten hat sich europaweit der RU mehr und mehr zu einem Religionskundeunterricht entwickelt und von der Theologie als Bezugsfach gelöst, so in Dänemark, Großbritannien, den Niederlanden, Norwegen, Schweden und einigen Schweizer Kantonen. Bezugswissenschaften sind in diesen Ländern die Religionswissenschaft oder verwandte Ansätze. Die kirchliche Verantwortung für den RU wird dabei abgelehnt. In Italien kann man sich vom RU ohne Zwangsalternative abmelden. In Spanien ist RU seit 2005 Alternativunterricht, aber neuerdings wieder streng kirchlich. In Portugal ist staatlicher RU unzulässig, die Kirchen dürfen jedoch RU in den Schulen in eigener Regie anbieten. Griechenland hat 2008 den staatlichen Pflicht-RU zum Freiwilligkeitsfach ohne Alternativfach umgewandelt. In Irland ist der staatliche RU stark unter Druck geraten. Seit 2013 gibt es dort an Pflichtschulen sogar atheistischen Weltanschauungsunterricht. Allerdings sind 90% der Grundschulen katholisch.
III. Religionsun
terricht und GrundgesetzStaatlicher RU ist in Deutschland nach dem GG entgegen der landläufigen Meinung keineswegs selbstverständlich. Denn er bedeutet eine teilweise Identifikation des ansonsten "religiös blinden" Staats mit einer religiösen Konfession, d. h. eine organisatorische und teilweise inhaltliche Verquickung, die das Gebot der institutionellen Trennung von Staat und Religion (Art. 137 I WRV) grundsätzlich untersagt. Staatlicher RU ist nur möglich, weil und soweit Art. 7 GG das ausdrücklich und – trotz aller Religionsfreundlichkeit des GG – systemwidrig so regelt. Das war eine entscheidende Voraussetzung des Verfassungskompromisses von 1949. Art. 7 III GG macht den staatlichen Religions
unterricht, abgesehen von den Bekenntnisfreien Schulen (s. dort) zum schulischen Pflichtprogramm.Die Streitfrage, ob in den neuen Bundesländern Art. 141 GG auch außerhalb Berlins anwendbar, Art. 7 III GG daher zumindest nicht verpflichtend ist, ist nach wie vor ungeklärt. Der jedenfalls in allen westlichen Bundesländern mit Ausnahme Bremens geltende Art. 7 III GG lautet: "1 Der Religion
sunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. 2 Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Relig ionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. 3 Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunt erricht zu erteilen." Die Eltern haben nach Art 7 II GG "das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsu nterricht zu bestimmen."Die weitere Klausel betreffend die (bisher begrifflich unklaren) bekenntnisfreien (weltlichen) Schulen ist zumindest praktisch ohne Bedeutung, da es solche Schulen bisher nicht gibt. Insbesondere der Wortlaut des Art. 7 III 1 GG spricht aber dafür, dass selbst innerhalb des Art. 7 GG – entgegen der h. M. – der RU rechtssystematisch nicht der verfassungsrechtliche Normalfall, sondern lediglich eine von zwei Optionen ist (s. hierzu den Artikel Bekenntnisfreie Schulen). Diese neue Sichtweise hat zwar derzeit rein theoretische Bedeutung, reduziert aber das verfassungsrechtlich-religionspolitische Gewicht des RU erheblich.
Besondere und bisher ungelöste Probleme wirft der seit etwa 2010 forcierte islamische RU im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit dem GG auf. Diskutiert werden meist formalrechtliche Fragen, weil der Islam mit seinen zahllosen und sich häufig bekämpfenden Richtungen große Probleme hat, dem Staat einen verbindlichen Partner zu präsentieren. Gern verdrängt wird, dass die Fragen der inhaltlichen Vereinbarkeit des islamischen RU ebenfalls gravierend sind. Das wird unter einem eigenen Stichwort näher erläutert.
Eine Besonderheit ist der seit langem in Hamburg bestehende "Religion[2] Die katholische Kirche verzichtet in Hamburg wegen ihres starken Privatschulwesens auf staatlichen RU.
sunterricht für alle in evangelischer Verantwortung", eine dialogische Variante im Rahmen des Art. 7 III GG (Hamburger Modell), in die angesichts der religionssoziologischen Situation in Hamburg nichtchristliche Religionen stärker einbezogen werden.IV. Einzelheiten
Der Staat garantiert, bei entsprechender Mitwirkung der Religionsgemeinschaften, institutionell das Pflichtangebot von RU ("ordentliches Lehrfach"). Er kann organisatorische Mindestanforderungen stellen. Veranstalter des RU ist der öffentliche Schulträger, der auch alle Kosten trägt, im Schuljahr 2008/2009 im Bundesgebiet ca. 1,5 Mrd. €[3]. Die inhaltliche Ausgestaltung ist nach der Übereinstimmungsklausel des Art. 7 III 2 GG im Wesentlichen Sache der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Daher können die staatlichen Lehrpläne nicht ohne Zustimmung der jeweiligen Religionsgemeinschaft festgelegt werden. Alle Religionslehrer bedürfen einer von der Religionsgemeinschaft zu erteilenden Lehrbefugnis. Inhaltlich geht es um eine Glaubensunterweisung, aber auch um sonstige Wissensvermittlung ("Unterricht"), etwa Religionskunde, allerdings (anders als in einem korrekt "neutral" erteilten Ethikunterricht) auf der Basis der jeweiligen Glaubensrichtung. Insbesondere für den islamischen RU ist die inhaltliche Einschränkung der Verfassungskonformität von Bedeutung. Da der RU seine Funktion in einem liberal-pluralistischen Rechtsstaat zu erfüllen hat, darf er nicht zentralen Verfassungsprinzipien widersprechen, etwa die Tötung Glaubensabtrünniger propagieren. Andererseits gehört eine weit verstandene Religionsfreiheit selbst zu den zentralen Verfassungsprinzipien, so dass sich im Einzelnen schwierige Abgrenzungsfragen ergeben können.
V. Insbesondere: Erfordernisse der Religionsfreiheit
Kein Lehrer muss RU erteilen, auch wenn er der betreffenden Konfession angehört (Art. 7 III 3 GG), und ihm dürfen aus seiner Entscheidung keine Nachteile entstehen (Art. 33 III GG). Nach Art. 7 II GG entscheiden die Erziehungsberechtigten über die Teilnahme. Daraus haben die Bundesländer durch Gesetz in Ignorierung des GG eine Teilnahmepflicht für die jeweiligen Religionszugehörigen mit Abmeldeberechtigung gemacht. Die Abmeldung wurde je nach Landesgesetz sogar formalen Erschwerungen wie Fristen unterworfen bis hin zur Pflicht, wegen des Zwangs zur Teilnahme am EU eine Prüfung über den bis dahin erteilten EU abzulegen. Oft wird eine religiöse Begründung der Abmeldung (wichtiger Grund) während des Jahres gefordert, was sicher GG-widrig ist. In der Praxis lassen sich diese Bestimmungen wohl nicht leicht durchsetzen. Schüler sind mit 14 Jahren religionsmündig und können sich daher auch ohne Erziehungsberechtigte abmelden bzw. gegenüber dem Staat den "Kirchenaustritt" erklären. Sehr fragwürdig sind Sonderregelungen über die schulische Religionsmündigkeit in Bayern und dem Saarland (18 Jahre). Näheres unter religiöse Kindererziehung.
Nach allem ist der Religionsunte
rricht gemäß GG kein Pflichtfach, wie regelmäßig behauptet wird, sondern ein Wahlfach, das freilich zum schulischen Pflichtangebot gehört.VI. Alternativen zum Religio
nsunterricht1. Humanistische Lebenskunde
Art. 7 II, III GG regelt ausdrücklich nur den "Religions
unterricht". Dennoch ist sich die Rechtsliteratur heute weitgehend darin einig, dass Weltanschauungsgemeinschaften wegen Art. 4 I GG und Art. 137 VII WRV/140 GG genauso zu behandeln sind wie Religionsgemeinschaften. Praktisch geworden ist ein Weltanschauungsunterricht bisher aber nicht im Rahmen des Art. 7 III GG, sondern in Berlin, wo ebenfalls die "Bremer Klausel" (Art. 141 GG) gilt. Dort bietet der Humanistische Verband Deutschlands seit der Wiedervereinigung als Pendant zum traditionell freiwilligen nichtstaatlichen RU einen (nach Berliner Verfassung) nichtstaatlichen, freiwilligen Unterricht in Humanistischer Lebenskunde an. Er ist ein humanistischer Weltanschauungsunterricht, der mittlerweile (2016) von über 50.000 Schülern besucht und seit 2007/08 auch in Brandenburg angeboten wird. Grundlagen des Lebenskundeunterrichts sind Erkenntnisse über die Natur und die Gesellschaft sowie Lebensregeln, die auf weltlich-humanistischen Traditionen beruhen. Die Schüler werden ermuntert, über sich selbst und die Welt nachzudenken und Standpunkte aus nichtreligiöser, humanistischer Sicht zu entwickeln. Dabei lernen sie auch Gedanken anderer Religionen und Weltanschauungen kennen.2. Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER)
Im Gegensatz zum Berliner nichtstaatlichen Lebenskundeunterricht ist das so umkämpfte staatliche Brandenburger Fach religiös-weltanschaulich neutral. Die Kirchen haben sich aber das Recht ertrotzt, in den Schulen einen nichtstaatlichen RU durchzuführen, der dazu berechtigt, dass sich RU-Teilnehmer vom staatlichen LER abmelden. Damit wurde die ursprüngliche Intention eines integrierenden LER-Unterrichts für alle Schüler zunichte gemacht. Als Gegenstück zum RU hat der Humanistische Verband Berlin-Brandenburg in den Grundschulen im Schuljahr 2007/08 einen freiwilligen Weltanschauungsunterricht nach Art des Berliner Lebenskundeunterrichts eingeführt. Dies wurde aber politisch bekämpft, so dass die Beseitigung der Diskriminierung durch eine Entscheidung des Landesverfassungsgerichts vom 15.12.2005 erzwungen werden musste. In allen anderen Bundesländern besteht kein Weltanschauungsunterricht
VII. Rechtspolitische Widersprüche
Die kirchlich-theologische und religionspädagogische Literatur zum christlichen RU ist unüberschaubar. Seit Jahrzehnten spricht man von einer Krise des RU, der aber als wertevermittelnde Institution für staatspolitisch unverzichtbar erklärt wird. Wertevermittlung durch andere Fächer (Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde, Ethik, Werte und Normen, Praktische Philosophie) wird aber bekämpft, sofern dadurch der RU ein zusätzlicher wäre. Dabei ist RU von Haus aus stets ein Zusatzfach, da es nur als freiwilliges überhaupt zulässig ist. Nach seiner ursprünglichen Intention bedeutet RU in erster Linie die Vermittlung von Glaubenslehren (so das BVerfG), während diese beim RU der großen Kirchen seit Jahrzehnten zugunsten ethischer, lebensweltlicher und religionskundlicher Fragen immer mehr zurücktreten.
>> Bekenntnisfreie Schulen; Bremer Klausel; Ethikunterricht; Leitprinzipien des Grundgesetzes; Islamischer Religionsunterricht; Erziehung; Trennungsgebot.
Literatur:
- BVerfGE 74,244 = NJW 1987,1873 (25.2.1987. allg. Grundsatzentsch. zum RU).
- BVerwGE 89,368 = NVwZ 1992,1192 (Begriff der Weltanschauungsschule: nichtreligiös-weltanschauliche Prägung).
- BVerwGE 110,326 = NVwZ 2000,922 (Is lam. RU in Berlin. Bestätigend zu OVG Berlin NVwZ 1999,786: weniger strenge Anforderungen an Begriff der RG in Berlin als nach Art. 7 III GG).
- VerfG Brandenburg, 15.12.2005 - VfGBbg 287/03 = NVwZ 2006, 1052 (Recht auf Weltanschauungsunterricht)
- Frerk, Carsten: Violettbuch Kirchenfinanzen, Aschaffenburg 2010.
- Heimann, H. M.: Materielle Anforderungen an Religionsgemeinschaften für die Erteilung schulischen Religio nsunterrichts, in: Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, Hrsg. A. Jaratsch/ N. Janz u.a., Stuttgart 2001, 81-100.
- Jeand’Heur, B./Korioth, S.: Grundzüge des Staatskirchenrechts, Stuttgart u.a. 2000, S. 210 ff..
- Link, C.: Reli gionsunterricht, Handbuch des Staatskirchenrechts II (1995), 439-509.
- Oebbecke, J.: Reichweite und Voraussetzungen der grundgesetzlichen Garantie des Religio nsunterrichts, DVBl 1996,336-344.
- Renck, L.: Rechtsfragen des Religions unterrichts im bekenntnisneutralen Staat, DÖV 1994,27-32.
© Gerhard Czermak/ ifw (2017)
- [1] DIE ZEIT, 24.2.2005.
- [2] Hierzu das Rechtsgutachten von C. Link, 2001 = https://www.pti.nordkirche.de/.../Link-Gutachten.pdf
- [3] C. Frerk, Violettbuch Kirchenfinanzen, 2010, S. 258.
© Gerhard Czermak / ifw (2017)